«Die Fakten preis zu geben, heisst die Freiheit preis zu geben.
Nach der Wahrheit ist vor dem Faschismus»
Der spanische Philosoph George Santayana hat gesagt: «Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen.» Das passt zum Buchdeckel von «Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand». Dort heisst es: «Wir sind nicht klüger als die Menschen, die erlebt haben, wie überall in Europa die Demokratie unterging und Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus kamen. Aber einen Vorteil haben wir. Wir können aus ihren Erfahrungen lernen.»
Der Mann, der es geschrieben hat, hat sich intensiv damit beschäftigt: Timothy Snyder. Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Yale und Faschismusforscher.
Nachdem am 6. Januar 2021 von Donald Trump aufgestachelte Schläger, darunter Polizisten ausser Dienst und ehemalige Soldaten, das US-Kapitol stürmten, um die formelle Bestätigung von Joe Biden als Präsident der Vereinigten Staaten zu verhindern und damit wortwörtlich versuchten, die Demokratie in den USA zu beenden, gab Timothy Snyder auf «Democracy Now!» ein Interview.
«Wissen Sie, das sind die Dinge die passieren, wenn ein charismatischer Anführer mit einem grossen Megaphone, mit grosser Reichweite, etwas ständig wiederholt, das nicht stimmt», sagte der Faschismusforscher. «Eine Lüge, die aber extrem relevant ist, zum Beispiel, dass ich eine Wahl verloren habe. Das führt zu Gewalt.»
«Trump sagt, bereits als er 2016 gewonnen habe, habe es Betrug gegeben», sagte Snyder. «Und was er damit meinte war, dass Afroamerikaner wählen dürfen. Wenn er in Milwaukee oder Atlanta oder Detroit spricht, und er behauptet, dass er gewonnen hat, dann meint er damit: Ich habe gewonnen, wenn man nur die Stimmen der echten Amerikaner berücksichtigt.»
Ein vom Rassismus zerfressenes und geprägtes Land, das von seiner Geschichte heimgesucht wird: Das Buch von Timothy Snyder ist kein Wälzer. Hundert Seiten. Man liest es in einem Abend.
Und es ist womöglich eine gute Zeit – nun ja, wann nicht in den letzten Jahren? – um dieses Buch zu lesen. Es scheint, als könnten wir sie gut gebrauchen, die «Zwanzig Lektionen für den Widerstand» in Zeiten, die sich anfühlen, als stünden wir an einem Kipppunkt.
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«Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam», schreibt Snyder als allererstes, Punkt eins von zwanzig, denn wenn Bürgerinnen und Bürger im Voraus darüber nachdenken, was eine repressive Regierung womöglich von ihnen will, «dann lehrt die Macht, wie weit sie gehen kann».
Wir sollen Institutionen verteidigen, rät uns der Historiker dann: Wir sollen Partei ergreifen, einer Gewerkschaft beitreten, oder Journalistin beziehungsweise Journalist werden, denn Revolutionäre im Dienste des Faschismus, hätten das Ziel, schreibt der Historiker, die Institutionen zu zerschlagen beziehungsweise sie ihrer Vitalität und Funktion zu berauben, sodass sie zum Scheinbild dessen werden, was sie einst waren, «sodass sie die neue Ordnung schützen statt sich ihr zu widersetzen.»
«Die Nazis», schreibt Snyder, «nannten das Gleichschaltung»: Eine komplette Vereinnahmung aller politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte in den Dienst des Nationalsozialismus.
Punkt 3: «Hüte dich vor dem Einparteienstaat.» Wir sollen uns beteiligen: Kommunal, national. Uns einmischen, engagieren, bei Wahlen selbst kandidieren. Zeichen setzen, hinsehen, aufstehen.
Wenn du ein Hakenkreuz siehst, streich es durch, schreibt der Historiker: «Schau nicht weg und gewöhne dich nicht daran.» Die Symbole von heute würden die Realität von morgen ermöglichen.
«Nimm dich in Acht vor Paramilitärs», schreibt Snyder. Das Buch, zur Erinnerung, erschien kurz nach der Wahl von Donald Trump, also bevor bewaffnete Paramilitärs planten, die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, zu entführen. Bevor Trump die Neonazi-Gruppe «Proud Boys» in einer TV-Debatte mit Joe Biden dazu aufrief, sie sollten sich bereit halten. Bevor bewaffnete Männer vor dem Kapitol aufliefen…
Wenn Paramilitärs sich gegen das System stellten und sich plötzlich mit Polizei oder Militär vermischten, dann sei das Ende nah, so Snyder.
Je mehr über die Vorgänge am 6. Januar bekannt werde, twitterte Snyder in den Tagen danach, desto deutlicher werde, dass es eigentlich reines Glück gewesen sei, dass an jenem Tag nicht reihenweise Politikerinnen und Politiker ermordet worden seien.
Das Ende der Demokratie in den USA. In einem grossen Beitrag für die «New York Times» mit dem Titel «Amerikanischer Abgrund», warnte er am Tag nach der Gewalterruption: «Amerika wird die grosse Lüge nicht einfach überleben, nur weil der Lügner von der Macht getrennt ist. Post-Wahrheit ist Prä-Faschismus. Und Trump war unser Post-Wahrheit-Präsident. Wenn wir die Wahrheit aufgeben, dann übergeben wir die Macht an jene mit Reichtum und Charisma, die dann Spektakel an die Stelle der Wahrheit setzen.»
Im Buch schreibt Synder: «Nach der Wahrheit ist vor dem Faschismus.»
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Im Zeitalter, wo nichts mehr wahr und deshalb alles möglich ist: Wir sollen freundlich zu unserer Sprache sein, schreibt Snyder: «Vermeide die Phrasen und Schlagworte, die jeder andere verwendet. Erfinde deine eigene Sprechweise, selbst wenn du nur das vermitteln willst, was in deinen Augen jeder sagt.»
Wir sollten versuchen, uns vom Internet fernzuhalten und Bücher zu lesen: Ein Verweis auf «1984» von George Orwell. Ein Buch, das viel zitiert wird, in allen möglichen Kreisen, wenn es darum geht, vor Totalitarismus zu warnen. Ein Buch aber, dass es sich tatsächlich zu lesen lohnt, um zu erfahren, was Orwell eigentlich genau beschrieben hat.
Orwell, auf den Snyder ebenfalls verweist, beschreibt in «1984» eine Gesellschaft, in der eigenständiges Denken ein Verbrechen geworden ist, eine Gesellschaft, in der die Sprache komplett ausgedünnt ist, reduziert auf Phrasen, Schlagwörter, sodass wir uns nicht mehr erinnern können und nicht mehr in der Lage sind, über die Gegenwart nachzudenken, wo Denken und Verbrechen zu einem Wort verwoben worden sind: «Verbrechdenk».
«Die Fakten preiszugeben», schreibt Snyder, «heisst die Freiheit preiszugeben». Wenn nichts mehr wahr sei, dann könne auch niemand mehr die Macht kritisieren, weil man die Kritik nicht mehr begründen könne. Und das ist vielleicht der Kern des Buches, die ganze Auseinandersetzung mit dem Post-Faktischen: «Glaube an die Wahrheit» (Punkt 10).
Wer den Unterschied leugne zwischen dem, was man hören wolle und dem, was tatsächlich der Fall sei, der unterwerfe sich der Tyrannei.
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Wir sollen den investigativen Journalismus unterstützen und nicht jeden Scheiss glauben, den wir im Internet sehen. Wir sollen Blickkontakt aufnehmen und uns mit anderen unterhalten. Wir sollen wissen, in welcher Gesellschaft wir leben. Wir sollen es uns nicht in einem Sessel bequem machen, denn das sei genau das, was die Macht wolle. Wir sollen in Bewegung bleiben. Hin zu Orten und mit Menschen, die uns nicht vertraut seien. Neue Freundinnen und Freunde gewinnen. Nicht vereinzeln.
Wir sollen mit unseren Daten vorsichtig sein, mit unseren Mails, «denn Tyrannen suchen nach dem Haken, an dem sie dich aufhängen können». Wir sollen uns für einen guten Zweck engagieren. Uns mit Gleichgesinnten in anderen Ländern austauschen. Wir sollen achtsam im Umgang mit Wörtern sein. Wir sollen Wörter wie Extremismus oder Terrorismus nur mit grosser Vorsicht verwenden.
«Sei dir bewusst, welch fatale Bedeutung Begriffe wie Notstand oder Ausnahmezustand haben», schreibt der Yale-Professor. Der Staatsrechtler Carl Schmitt, ein Wegbereiter des Nationalsozialismus, habe den Wesenskern des Faschismus wie folgt umschlossen: Die Ausnahme müsse zur Regel werden, um alle Regeln zu zerstören.
«Wenn Politiker heute den Terrorismus beschwören, sprechen sie selbstverständlich von einer ganz realen Gefahr. Wenn sie uns aber beibringen wollen, im Namen der Sicherheit auf Freiheit zu verzichten, sollten wir auf der Hut sein.» Wir sollen über diese Begriffe nachdenken, «denn wenn Tyrannen von Extremisten sprechen, meinen sie einfach nur Menschen, die nicht mit dem Strom schwimmen.» Begriffe würden schnell zu Instrumenten der Unterdrückung.
Wenn alle uns wahnsinnig machen mit einem drohenden Terroranschlag und der dann auch kommt, dann sollen wir ruhig bleiben, schreibt Snyder. Das habe die Geschichte gelehrt.
Was meint er damit?
Die plötzliche Katastrophe, in dem Freiheit kippe, «ist der älteste Trick im Lehrbuch Hitlers», schreibt er. Und erklärt: Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag in Berlin, der Sitz des deutschen Parlaments. Bis heute wisse man nicht, wer das Feuer damals in Berlin gelegt habe, das sei auch gar nicht wichtig. Entscheidend sei, so Snyder, «dass dieser spektakuläre Terrorakt den Anstoss zur Notstandspolitik der Nationalsozialisten gab». Ein Augenblick des Schocks, habe die Unterwerfung eines Landes ermöglicht. Unsere natürliche Trauer dürfe nicht zur Zerstörung unserer Institutionen führen, schreibt Snyder. Mut bedeute nicht, keine Angst zu haben oder nicht zu trauern. Es bedeute, Terrormanagement zu erkennen und ihm zu widerstehen.
Er schreibt, man solle patriotisch sein. Den künftigen Generationen vorleben, was das eigene Land bedeute. Und beendet das Buch, hundert beeindruckende und inspirierende Seiten, mit Punkt 20. Kurz und knapp. Und hart. Kein Spass. Nirgendwo. «Sei so mutig wie möglich», schreibt Snyder. «Wenn niemand von uns bereit ist, für die Freiheit zu sterben, dann werden wir alle unter der Tyrannei umkommen.»
Timothy Snyder. Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand. Erschienen 2017. C.H. Beck.
20. Januar 2021