Der Mann mit der turbulenten Vergangenheit macht mit seiner Musik seit jeher genau das, was in der Essenz des Zitats von Cesar A. Cruz liegt: Er ermutigt die Verstörten und verstört die Bequemen. (Original: «Art should comfort the disturbed and disturb the comfortable»). Die Kritiken, die sich momentan nur darüber auslassen, wie sehr sich Eminem (bürg. Marshall Bruce Mathers III) mit der woken Welt anlegt, scheinen zu übersehen, dass es bei jeglicher Kunst keine wirklichen Grenzen gibt: Der erfolgreichste Rapper aller Zeiten bringt mit dem aktuellen Album sein Alter Ego Slim Shady ein letztes Mal zurück – dieses Mal in ein bewussteres Heute. Dabei weiss der Provokateur ganz genau, wie derb er damit aneckt und legt es vielleicht sogar darauf an. Doch sind wir nicht an einem Punkt, wo alle Emotionen ihre Daseinsberechtigung haben? In seinen komplexen Texten reflektiert Eminem seine dunkelsten Seiten, die inneren Konflikte zwischen seinen Persönlichkeitsanteilen, lässt Wut und Aggression zu und gesteht sich Fehler über die Auswirkungen seiner seit 16 Jahren überwundenen Sucht ein. Er thematisiert auch moderne Probleme, legt Sehnsüchte frei, setzt sich mit seinem Selbstwertgefühl auseinander und lässt sich über die unüberlegte Natur der öffentlichen Meinung aus. Sein schwarzer Humor und die Spiegelung der anstössigen Doppelmoral Amerikas sind dabei schon comedyreif. Technisch und lyrisch sind seine Skills wohl nicht zu übertreffen.
In seinem bewegenden Song «Temporary» feat. Skylar Grey wendet sich der dreifache Vater an seine leibliche Tochter Hailie Jade (28). Mit echter Verletzlichkeit, endloser Liebe und offengelegten Ängsten darüber, sie irgendwann nach seinem Tod zurücklassen zu müssen, setzt sich Eminem mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinander. Auch diese Gefühle aus seinem weitreichenden Spektrum sind für Fans bekanntes Terrain, denn der Mann mit der harten Schale hat definitiv ein riesengrosses Herz. Im Intro gibt er zu, dass er beim Gedanken an seinen eigenen Tod am schlimmsten findet, seiner Tochter Hailie nicht mehr all die Dinge sagen zu können, die er gerne sagen würde, wenn er nicht mehr da ist.
«A lot of people ask me: Am I afraid of death?
The truth is, I think what scares me the most is not being able to say all the things
I wanna say to you when I’m no longer here
So this song is for Hailie, for when that day comes»
Die emotionale Tiefe dieses musikalischen Vermächtnisses wird immer wieder durch alte Tonaufnahmen aus Kindertagen von Hailie und ihrem Vater unterlegt. Schon beim Zuhören schmelzt einem das Herz; die Tränen fliessen ganz automatisch. All die Worte, die Eminem seiner Tochter für den Umgang mit seinem irgendwann mal eintreffenden Tod mitgibt, zielen genau ins Schwarze – und sicher jede:r von uns kann dabei mitfühlen. Ein bisschen überfordert damit, wo die Raplegende beginnen soll, sagt er Hailie zunächst, dass sie gut auf Alaina und Stevie (seine beiden adoptierten Kinder) sowie ihren Onkel (Em’s Halbbruder Nathan) aufpassen soll. Er erinnert sie daran, auch dann noch der Fels in ihrer Brandung zu sein, sie als Guardian Angel zu beschützen und erkennt an, dass Abschiede nie einfach sind, jedoch sind sie auch nichts für immer.
«Jade, it’ll be okay, baby, I’m here, hey, I’m watching you right now, baby girl,
I vow I will protect you, your guardian angel; as hard as this may feel, us parting is painful
And, darling, the rain will, drive you insane, still; you will remain strong, Hailie, just hang on
It won’t be too long, I need you to move on, and remember, it will get better
‚Cause time heals and when a…»
«When a heart breaks, it ain’t broken forever
The pieces will grow back together, and in time, I’ll be fine, the tears are temporary
The bad days will start to get better, then we’ll be laughin‘ together
And tonight, when I cry, the tears are temporary»
Der im Gedächtnis bleibende Chorus ist wie ein Mantra, an das sich Hailie in den Momenten der Trauer erinnern kann. Wenn sie ihn vermisst, kann sie seinen knapp fünfminütigen Track in Endlosschleife hören, bis ihre Tränen vorübergehen und der Schmerz weniger schmerzhaft wird. Es braucht einfach Zeit; und die Teile eines gebrochenen Herzens wachsen wieder zusammen. Eminem sagt ihr weiterhin, dass er weiss, wie sehr es ihr wehtut und es Tage geben wird, wo sie sich im Zimmer einschliessen und nur weinen will – doch auch die wird sie überstehen. In solchen Momenten soll sie sich an die guten alten Zeiten erinnern und daran, dass es okay ist, ihn gehen zu lassen. Es ist schliesslich nicht für immer.
«Yeah, and if there’s days where you wanna just lock yourself in your room and cry
Just think about how when you were little, how you and I back and forth to the studio, we used to drive
You strapped in the backseat ‚cause you were my little sidekick, yeah
Sweetie, I know this hurts, bean, I’m wishing your pain away
Remember this, Hailie Jade, there’s gonna be rainy days
I promise you’ll get through ‚em and make it regardless
Fuck it, Jade, I’ll be honest, I knew that you was gonna take this the hardest
Sweetie, get up, I know that this is breaking your heart
It’s the hardest thing I’ve ever wrote, Hailie, sweetheart, it’s okay for you to let me go»
Dass diese herzergreifenden Zeilen die schwierigsten und herausforderndsten waren, die Eminem je geschrieben hat, ist leicht nachvollziehbar. Dennoch schafft er es mit dem Outro, dass dieser Track seiner Tochter sowie allen anderen Zuhörer:innen nach dem Zulassen der traurigen Emotionen ein Lächeln ins Gesicht zaubert: Er endet nämlich mit einer Tonaufnahme von der damals kleinen Hailie Jade, die in sehr jungen Jahren in Interaktion mit ihrem damals ebenfalls sehr jungen Vater das Schimpfwort «bitch» benutzt und er ihr beibringt, sie solle nicht fluchen.
Auch wenn man es höchstwahrscheinlich nie schafft, Familie, Freunden, Partner:in und anderen Herzensmenschen all das zu sagen, was man gern sagen möchte, so bringt «Temporary» das Wichtigste mit sehr viel Gefühl rüber. Und, obwohl das wahrscheinlich nicht Eminems Intention war, ist der für Hailie bestimmte Song am Ende nicht nur eine Hilfestellung für Hailie im Umgang mit dem Tod ihres Vaters – sondern für alle, die um einen geliebten Menschen trauern und sich nach genau solchen Worten sehnen.
Vielleicht ist es sogar noch viel mehr als das: Ein Aufruf, uns alle endlich die eigene unausweichliche Sterblichkeit bewusst zu machen und uns dieser Angst zu stellen. Wir wissen natürlich nicht, wie unsere Liebsten mit unserem Tod umgehen würden und wollen uns diese Szenarien auch gar nicht vorstellen und trotzdem können wir ziemlich sicher behaupten, dass hinterlassene, letzte Worte von der verstorbenen Person den Trauernden wohl am allermeisten helfen. Denn genau danach sehnt man sich.
Aber sind wir so mutig wie Eminem? Wenn ich es wäre, dann würde ich mich nach diesem Artikel an das Schreiben solcher Zeilen machen und wüsste ebenfalls erstmal nicht, wo ich beginnen sollte. Aber wie gesagt: würde. Ich verschiebe es vorerst lieber noch auf irgendwann und hoffe, dass es dann nicht zu spät ist. Und wenn doch, dann gibt es zumindest diesen Song.
23. Juli 2024