Jullien versteht die Schweiz nicht nur als perfekten Standort der von ihr kuratierten Ausstellung, sondern auch als eine weltweit einzigartige Klangkulisse. Als charakteristisch für den Austausch mit der urbanen Landschaft sieht sie besonders die Spuren von menschlichen Konstruktionen in der Natur, wie auch die Präsenz der Natur in den Städten selbst. Kein Widerspruch, sondern symbiotische Wechselwirkung. «Talk with urban landscape» koppelt gekonnt die Auseinandersetzungen von diversen Künstler:innen, die den Lebensraum Schweiz für ihre eigenen interdisziplinären Zwecke nutzen. Mit dabei sind: Merlin Züllig, Martina Lussi, Magda Drozd, Nadine Schütz, Mélia Roger und Andri Schatz.
Was die Erfahrbarkeit von Klang als künstlerisches Medium definitiv prägt ist die Tatsache, dass sie – im Gegensatz zur grossen Mehrheit von künstlerischen Ausdrucksweisen – ein Anfang und ein Ende hat. Alles, was dazwischen geschieht steht in klarer Relation zueinander, und gewinnt erst durch eine gewisse Zeitlichkeit an eindringlicher Bedeutung. Auch wenn hier der Faktor Zeit eine wichtige Rolle einnimmt, so erhofft sich Jullien trotzdem eine Loslösung von genau dieser: «Wir laden Hörer:innen dazu ein, sich von der Vorstellung der Zeit zu lösen, so wie wenn man beim Betrachten einer Landschaft von der klanglichen Umgebung eingelullt wird, die Zeit vergisst und Zugang und die Möglichkeit hat, in einen meditativen Zustand zu gelangen.», meint die Organisatorin.
Bereits Wim Wenders schrieb in seinem Buch «La Vérité des images» eine Anekdote über den Weg zu Dreharbeiten. Er erzählt, dass er eine Woche lang jeden Morgen, wenn er sein Hotel verliess, an einem Pfahl vorbeikam und diesem Pfahl «Guten Morgen» wünschte. Diese Projektion des Lebens auf materielle Dinge beschäftigte als wichtige Referenz auch Jullien ungemein und sie entschied sich gemeinsam mit einer harmonischen Auswahl an verschiedenen Positionen für eine Auseinandersetzung mit Klang als Medium. Was passiert, wenn wir Objekte und deren Klang beseelen? Wie ist die Stadtlandschaft in uns verwurzelt? Und mit welchen Mitteln wird sie verkörpert? Um zu erfahren, was die Kuratorin der Ausstellung sonst noch beschäftigte, haben wir uns mit ihr unterhalten.
«Talk with urban landscape» (TWUL) deutet auf ein Gespräch mit unserer urbanen Umgebung hin. Wie können wir uns diese Interaktion auf akustischer Ebene vorstellen, und wie kommt sie zustande?
Durch Zuhören, Erforschen. Durch TWUL besteht der Wunsch, unsere Umwelt zu erforschen, und durch eine Vielzahl an Augen von Künstler:innen zu schauen, basierend auf ihren Leben und Erfahrungen; sich ein gemeinsames Gebiet vorzustellen.
Als ich einen Vorgeschmack auf das Ensemble bekam, ging es ganz klar darum, in eine Umgebung einzutauchen und über einen künstlerischen Prozess in einen Dialog zu treten. In diesem Fall geht es um eine Klangkreation in Verbindung mit einem Aspekt des städtischen Raums. Es gibt Ähnlichkeiten zwischen den Werken: Obwohl sie Rohmaterialien erforschen, spielen sie mit Schichten und Texturen, Tönen und nutzen Technologien, um sie zu verstärken und ein Werk zu komponieren. «Talk with urban landscape» will die Aufmerksamkeit auf den urbanen Raum lenken, ihn beobachten und ihm zuhören, wie er unser tägliches Leben durchdringt, ohne ihn unbedingt zu verstehen.
In diesem Projekt geht es darum, sensiblere Verbindungen mit der Infrastruktur zu entwickeln. Eine stärkere Verbindung zu dem, was uns umgibt, ist ein Weg, um weniger abhängig, kreativer und intuitiver in unseren Wahrnehmungsweisen und unserem Lebensstil zu sein. TWUL macht uns eher zu «Bewohnten» als zu Bewohner:innen. Die Ausstellung schlägt eine Kartographie unserer Arbeiten vor, die eine Zone des Dialogs zwischen diesen erforschten Territorien aufzeigt.
Wie formt Klang unsere Raumwahrnehmung?
Der Klang formt unsere Raumwahrnehmung durch sensorische Phänomene. Er hat die Fähigkeit, Formen hervorzuheben, sie als Komponenten zu vereinen, die Materie und unsere Sinne zu offenbaren. Unsere Raumwahrnehmung durch Klang basiert also auf dem Sinnlichen, auf dem, was wir in uns spüren. Ob störend oder fesselnd, in beiden Fällen kann von Neutralität keine Rede sein, der Klang ist dazu da, uns an das zu erinnern, was uns umgibt, er belebt die Landschaft.
In unserer Wahrnehmung des Raums zeichnet der Klang eine ungreifbare Landschaft. Da ein Klang mit Sicherheit reproduzierbar ist, ist er im gegenwärtigen Moment einzigartig. Er stellt Gemeinsamkeiten mit unserer Erinnerung her und erlaubt uns, das Wahrgenommene entsprechend unserer Erfahrung zu interpretieren.
Der Klang bietet sich uns als eine Kraft, als ein Phänomen an. Wir können unsere Augen schliessen, nicht aber unsere Ohren völlig verschliessen. Der Klang ist das Mittel, um die Landschaft zu verstärken, um Details erscheinen zu lassen, er formt und verzerrt die Realität. Ein Phänomen, das uns Emotionen spüren lässt, unerklärliche Dinge, wenn wir uns hinauswagen, es belebt, was wir sehen, es orchestriert und rhythmisiert Zeit und Raum. Sie schafft eine Raum-Zeit.
Sie hat die Fähigkeit, ein und denselben Ort mehrfach zu lesen und zu interpretieren. Ich finde das magisch. Sie ist dazu da, uns abzulenken, in unser Fleisch einzudringen, unseren Gedanken einen Rhythmus zu geben, die Grenzen des Gattungswesens zu durchbrechen, wie organische Materie.
Die Konzentration auf den Akt des Zuhörens steht im Mittelpunkt der von Ihnen kuratierten Ausstellung. In Ihrer persönlichen künstlerischen Praxis arbeiten Sie auch schon seit längerem mit Klang – wie sind Sie dazu gekommen, Klang als Ausdrucksmittel zu verwenden?
Da ich an der Hochschule für Bildende Künste in Valence, Frankreich viel mit Video gearbeitet habe, war der Ton für mich ein Konstruktionswerkzeug für den Schnitt. Ich betrachte ihn nicht als Medium, weil ich Angst vor seinem Mangel an Körperlichkeit habe. Aber ich würde sagen, dass sich alles während eines Workshops mit Winter Family änderte, bei dem wir uns mit dem Medium Ton beschäftigen mussten. Es stellte sich heraus, dass mir diese fabelhafte Erfahrung seinen Wert und seine plastischen Qualitäten ausserhalb eines festlichen oder Freizeitkontextes bewusst machte. Es entstanden abstraktere Räume, die ich versuchte, mit meiner Kamera einzufangen. An diesem Punkt wurde mir klar, dass der Ton an sich ausreicht, er ist die genaueste Art, den urbanen Raum zu beschreiben und zu interpretieren.
Klang ist kinematografisch, und ich habe beschlossen, dieses Medium im Master of Visual Art an der ECAL in Lausanne weiter zu erforschen. Ich habe darin eine sensiblere, genauere und persönlichere Art gefunden, urbane Gebiete neu zu interpretieren und zu zeichnen.
Dadurch, dass ich lernte, sie anders zu betrachten als mein eigenes Hobby, konnte ich meine Art des Zuhörens weiterentwickeln. Ich begann, mich für verschiedene Musikrichtungen zu interessieren: Geräusche, Klassik, konkrete und experimentelle Musik. Ich erkannte, dass der Klang eine autonome Sprache von großer Kraft ist.
Die teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler arbeiten unabhängig voneinander, aber ihre Stücke integrieren sich und scheinen ein grosses Ganzes zu bilden. Was ist ihre gemeinsame Basis und wie würden Sie das kohärente und kollektive Narrativ beschreiben?
Erkundung. Durch die direkte Erfahrung und Interaktion mit der Stadt erforscht jeder einen Teil unserer Landschaft. Die Erfahrung der Untersuchung und Erkundung verbindet die Werke in dieser Ausstellung. Jeder Künstler und jede Künstlerin hat sich auf den Weg gemacht, um einen Teil unserer Umwelt, ein Territorium, kennenzulernen, um diesen Moment zu erleben. Jedes Werk evoziert den Dialog zwischen sich selbst und dem Raum, den sie untersucht haben. In dieser Phase des kreativen Prozesses gibt es eine bereits gelebte Gegenwart und eine projizierte Zukunft für die Schaffung eines Klangstücks. Die Erkundung mittels File-Recording, dieser Audio-Aufnahmetechnik, ermöglicht es, in einen Ort einzutauchen und dessen Klang zu extrahieren. Ich denke, dies ist einer der gemeinsamen Nenner der Ausstellung; sie alle haben mit diesem Verfahren experimentiert und gearbeitet.
Und wie steht es um den ungreifbaren Körper der einzelnen Stücke?
Er ist ein gemeinsamer Nenner, ihre Körper als Werkzeuge zum Einfangen. Er projiziert eine andere Form der Realität. Von der Extraktion bis zur Komposition lädt jedes Stück den Zuhörer ein, in einen meditativen und immersiven Zustand einzutauchen und über eine Art des Zuhörens nachzudenken. Was diese Stücke schliesslich eint, ist der städtische Raum, dieser kollektive Raum, der für uns alle unseren Lebensraum darstellt. Dabei kommt immer die Frage nach dem Platz des Körpers ins Spiel. Und das ist es, was diese Ausstellung so besonders macht. Es ist die gelebte Erfahrung, die der Hörer nicht kennt, und die Art und Weise, wie er danach mit dem extrahierten Material in Dialog tritt, indem er eine eigene Klangsprache schafft.
Warum war es für Sie wichtig, nur mit lokalen Künstler:innen zu arbeiten?
Während dieser Ausstellung lernte ich Modulaw kennen und er schlug mir vor, mit Pierre Lumineau Kontakt aufzunehmen. Er ist der Marketingleiter von En Soie und Manager des Rindermarkt 23. Daraufhin begann ein Gespräch, das zum Beginn unserer Zusammenarbeit führte. Pierre gab mir die Möglichkeit, mich auszudrücken und mein Projekt über diesen Ort zu entwickeln.
Die Auseinandersetzung mit der Stadtlandschaft ist Teil der Schweizer Kunstszene. Der Rindermarkt 23 wird von dem Familienunternehmen EnSoie getragen und verwaltet. Es ist ein Ort mit einer besonderen Atmosphäre, und ich wollte, dass lokale Künstler:innen von dieser Situation profitieren.
Der Rindermarkt 23 wendet sich ja auch nicht nur gegen den klassischen White-Cube, sondern hat auch die Qualität von einem intimen Ort der Begegnung. Wie wichtig war Ihnen dieser familiäre Faktor für das Erleben der Klanglandschaften?
Obwohl das Projekt in einem kurzen Zeitraum initiiert wurde, erfordert es tatsächlich eine gewisse Nähe, Begegnungen, Gespräche, um den Diskurs der einzelnen Künstler:innen, ihre Arbeit und ihren Prozess zu verstehen. Wie die Erkundung eines Ortes webt auch diese Ausstellung eine soziale Verbindung durch ein Werk. In Bezug auf die allgemeine Reflexion der Ausstellung, die «Integration» in den Raum, bezieht dies auch andere mit ein. Der Rindermarkt ist ein Ort, der für Begegnungen und künftige Zusammenarbeit sehr gut geeignet ist. Dieses Projekt ist aus Begegnungen entstanden.
Und wie steht es um die essenzielle Komponente von Verbindung, respektive dem Schaffen eines nachhaltigen Netzwerks?
Es war sehr interessant, Künstler:innen, die sich nahe stehen, miteinander zu verbinden, um ein nachhaltiges Netzwerk für künftige Kooperationen zu schaffen! Es zeigt, dass es einen multidisziplinären Ansatz in der Musik gibt, in einem begrenzten geografischen Gebiet, auf schweizerischen Ebene. Mit Ausnahme von Nadine, einer gebürtigen Zürcherin, die jetzt in Paris lebt, aber immer noch eine starke Verbindung zu ihrem Land hat. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse!
Für mich war die Unterscheidung zwischen Klang, Musik und Lärm immer eine Frage des Kontextes. Wo liegt für Sie der Unterschied?
Es ist auch eine Frage des Kontextes, denn wir leben mit Lärm und konsumieren Musik in unserer Freizeit. Aber wie sieht es mit der Wahrnehmung von Lärm als Klang aus? Lärm ist Klang und Musik. Ich denke, dass ich in meiner künstlerischen Praxis mit diesen Geräuschen arbeite und sie bereits als musikalisch wahrnehme. Das eröffnet vielfältige Felder des Hörens und der Wahrnehmung. Ich schaue mir gerne einen Ort an und projiziere eine «musikalische» Komposition, das ist die Hälfte der kompositorischen Arbeit, denn ich projiziere genau in den Raum, in dem ich diese Geräusche einfange, die ich aus der Umgebung extrahiere, so rein und roh wie möglich, um sie zu sublimieren.
Es geht darum Lärm und Klang so wenig wie möglich voneinander zu unterscheiden, sondern zu versuchen, sie als ein Ganzes zu betrachten, als eins zu verstehen. Lärm erzeugt Klang und Klang ist musikalisch. Für mich besteht der Zweck der Klangkunst und der Arbeit mit der klanglichen Umgebung darin, zu lernen, die Geräusche und Klänge um uns herum zu hören und zu akzeptieren. Ich denke, dass die Praxis der Feldaufnahmen meine Wahrnehmung beeinflusst, weil ich mit dem Rohmaterial arbeite, das uns umgibt; so betrachte ich diese Geräusche zwangsläufig anders, sie sind es, die mich für zukünftige Musik inspirieren. Mir gefällt die Idee, aus melodischen Klängen mehr geräuschhafte Stücke zu produzieren.
Die musikalischen Qualitäten eines Geräuschs, eines Klangs zu extrahieren, bedeutet, ihn musikalisch zu projizieren. Die Grenzen sind fliessend, es kommt auf den Kontext an, aber auch auf den Wert, den wir dem Geräusch geben.
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«Talk with urban landscape» ist eine Klangausstellung, die im Kulturraum Rindermarkt 23 vom 22. Dezember 2021 bis zum 12. Januar 2022 stattfindet. Jeweils von 16 Uhr bis 21 Uhr.
Die Eröffnung findet mit einer Performance von Andri Schatz am 22. Dezember um 18 Uhr statt. Während der Laufzeit der Ausstellung wird am 4. Januar 2022 ab 17:30 Uhr ebenfalls ein Soundwalk von Mélia Roger organisiert. Treffpunkt ist auch hier, der Rindermarkt 23 im Niederdorf, Zürich.