Der Film «Soul of a Beast» ist seit einigen Monaten auf Netflix und Play Suisse streambar. Im Schauspiel kehren Ella Rumpf, Pablo Caprez, Luna Wedler und Tonatiuh Radzi zu ihren Instinkten zurück und werden dabei von Fabian Kimotos Kameraführung feinfühlig, direkt und fast schon auf animalische Art und Weise festgehalten. Ich möchte die Handlung des Filmes nicht abschliessend zusammenfassen, diese gilt es selbst zu entdecken. Der Film behandelt die Liebe, erzählt von grosser Verantwortung in jungem Alter und greift eine allgemeine Sehnsucht nach der grossen Freiheit des Lebens auf. Lorenz Merz lässt autobiografische Einflüsse zu, und schafft ein spektakuläres Seh-Erlebnis, bei welchem sich viele unterschiedliche Schicksale damit identifizieren können.
In einem Gespräch teile ich meine Beobachtungen mit Hauptdarsteller Pablo Caprez und bekomme im Gegenzug dazu seine Anekdoten zu Schauspiel und persönlichen Herausforderungen.
Um meiner Faszination des Filmes gerecht zu werden, muss ich ein wenig ausholen. Wenn man Kino mit Sinneswahrnehmung in Verbindung bringen will, denkt man in erster Linie an das Sehen. Viele frühe filmtheoretische Ansätze haben ihre Theorien um das Sehen und das Sinnesorgan des Auges herum entwickelt (Arnheim, Bazin u. v. m.). Auch die modernen Theorien der 60er bis 80er Jahre privilegierten das Sehen als dominante Sinneswahrnehmung beim Schauen von Filmen. Von Baudrys Apparatustheorie über feministische Ansätze des «male gaze» und Voyeurismus bis hin zu neoformalistischen narrativen Theorien, findet sich das Auge im Mittelpunkt der Ansätze wieder. Daraus entwickelte sich ein bis heute dominantes okularzentrisches Paradigma. Ohne das Sehen funktionieren die medienspezifischen technischen Parameter des Filmes auch gar nicht. Licht einzufangen, zu speichern und wiederzugeben, wäre sinnlos, wenn wir dieses Licht nicht optisch wahrnehmen können. Das Sehen und das Auge als menschliches Sinn- und Aufnahmeorgan sind unabdingbar für die gesamte Rezeption des filmischen Mediums. Auch hängen Handlung und Persönlichkeit des Gezeigten im Kino unbestritten mit Blickstrukturen und Blickregimen zusammen. Die Zuschauerschaft blickt. Die Figuren der Diegese blicken sich gegenseitig, aber auch die Zuschauerschaft an. Die Zentralität des Augensinns in der Film- und Kinotheorie ist also auch zu einem gewissen Grad gerechtfertigt. Dennoch ist die Wahrnehmung von Film und Kino weitaus diverser und komplexer gestaltet, als dass man das «Filmesehen» nur mit dem «Schauen» auflösen könnte. Andere Wahrnehmungsformen werden seit jüngerer Zeit durch diverse theoretische Ansätze in den Fokus gerückt. Unter diesen Ansätzen finden sich Namen wie Vivian Sobchack, Hamid Nafici u. a.
Und so habe ich den Film in Erinnerung. So lebendig, so nah, spür- und greifbar wie Rio de Janeiro gerade ist. Mit all seinen Gerüchen und Geräuschen. Seinen Oberflächen und deren Beschaffenheit. Nur dass ich mich im Gegensatz dazu nicht im filmischen Geschehen befand.
Hier sind es nicht nur die visuell abgebildeten Schicksalsschläge (Handlung, Narration) und emotionalen Herausforderungen (Entscheidung, Psychoanalyse), welche die Protagonist:innen erfahren, die Mitgefühl und Verständnis der Zuschauerschaf hervorrufen. Es ist die Inklusion unserer Körper in diese Handlungen mithilfe gezielter Stilelemente, die nicht nur unsere visuelle Sinneswahrnehmung herausfordern.
Eines dieser subjektivierenden ästhetischen Stilmittel in einigen Sequenzen ist Kimotos inkludierende Handkamera, welche uns als stille Zuschauerschaft das Gefühl vermittelt, am Geschehen selbst teilhaben zu können.
Wir blicken nicht von aussen auf die Szene, wie bei gänzlich stabilisierten Kamerafahrten auf Schienen, sondern lassen unseren Blick, begleitet durch rhythmische Bewegungen, in das Geschehen eintauchen. Dabei legt die Kamera insbesondere auch Wert auf Nahaufnahmen von Körperteilen und Umwelt. Die Nähe ermöglicht uns, Beschaffenheiten wahrzunehmen und uns anhand dieser eine räumliche Vorstellung der gezeigten Situation zu machen.
Emotionen werden bei Lorenz Merz‘ Regiestil oft auch primitiv dargestellt. Primitiv im Sinne eines urmenschlichen, fast schon tierischen Ausdrucks. Unsicherheit, Vertrauen, Freude und Angst werden nicht mithilfe sichtbarer profilmischen Referenzen oder einem unbedingten Dialog verstärkt, sondern finden sich vermehrt allein im ausdruckstarken Schauspiel. Einige Sequenzen lassen sich wie ein Ausdruckstanz erleben. Denn einige sind dialogarm. Kontextinfos gibt es keine. Sie beruhen auf einer Kodierung, die nach Bela Balazs (einem weiteren frühen Filmtheoretiker) als Gebärdensprache universell aufgeschlüsselt werden kann.
Die Kommunikation unter den Protagonist:innen definiert sich in «Soul of a Beast» eben auch stark durch die Mimik, die körperliche Gebärde, Laute, Blicke und Berührung. Das Umfeld, die Natur, fungiert dabei, wie das Papier in einem Roman als Ausdrucksfläche. Die Natur wird in den schauspielerischen Ausdruck miteinbezogen.
Pablo Caprez erzählt:
«Anfangs meiner Schauspielkarriere freute ich mich auf textlose Tage. Mittlerweilen ist das Gegenteil der Fall. Etwas zu sagen und es zu meinen ist einfacher als einfach zu schauen und es zu meinen. Genau, das war schwierig. Ein Gefühl hat man nicht nur im Blick. Ein Gefühl geht durch den ganzen Körper. Es geht darum, sich 100 % auf die Situation einlassen zu können. Dann muss man zu ‚Fühlen‘ beginnen.»
Einerseits lesen wir in den Nah- und Grossaufnahmen tatsächlich Emotionen ab. Wir konzentrieren uns solidarisch mit den Protagonist:innen auf die Geräusche und Töne, die Materialität der Umwelt und Verhaltensmuster.
Andererseits belustigt uns in Grossaufnahmen der tierähnliche Charakter der Protagonist:innen. Wir nehmen eine gewisse Distanz zum Handlungsraum ein und entfernen uns dadurch von der subjektiven Identifikation. Der gezielte Einsatz von formal-ästhetischen Stilmitteln lässt uns an dieser animalischen Welt teilhaben, dennoch behalten wir durch die dargestellte Entfremdung im animalischen Spielcharakter den Blick aus der Aussenperspektive.
Wenn mit dieser Zwiespältigkeit bewusst umgegangen wird, kann Platz für Reflexion geschaffen werden. Wir werden uns des Status des betrachtenden Zuschauers bewusst, sehnen uns aber nach der Inklusion, die uns portionenweise offeriert wird. Und die dann auch viel besser schmeckt.
Hamid Nafici begreift die Materialität im Film als taktile Optik. In seinen Untersuchungen zum diasporischen postmodernen Kino steht die Aktivierung von sinnlicher Erinnerung in Form von körpernahen Wahrnehmungen wie Berührung, Struktur, Geschmack oder Geruch im Mittelpunkt.
Besonders in einer prägenden Sequenz manifestiert sich die Materialität in der natürlichen Beschaffenheit der Natur, den Textilstrukturen der Kleidung in der Grossaufnahme, den gross gezeigten körperlichen Sekreten und Ausdünstungen, den wilden Haargeflächten und der gezeigten Konfrontation von natürlichen Elementen mit der Haut.
Corey und Gabriel geniessen zum ersten Mal Ruhe zu zweit. Sie sind allein im Wald und kommen sich näher. Um ihre jeweiligen Lebenssituationen nicht ausdiskutieren, und um ihrer gegenseitigen Anziehung keine Wortlabels aufzwingen zu müssen, entscheiden sie sich für eine instinktivere eigene Entfaltung der zweisamen Auszeit. Die beiden beginnen ein tierisches «Katz und Maus»-Spiel. Sie nähern sich einander an. Zuerst erscheint das Verhältnis ungewiss und vorsichtig distanziert, dann wird es immer vertrauter.
Pablo Caprez lacht: «Vor allem bei dieser Tierszene, die ist so abstrakt, dass man sich fragen könnte, was für ein Blödsinn wir da gerade machen. Was willst du damit dem sagen? In dieser Szene finden beide die Seelenverwandtschaft. Es ist vielmehr ein… Ich muss mich halt in diesem Moment wie ein Tier fühlen und wie eines bewegen. Ich kenne das selbst auch von meinen Hauskatzen. Ich habe mich auch vor dem Spiel mit Löwenvideos vorbereitet. Meine Faszination für Ella als Person neben der Kamera und Corey als Figur machte das Ganze viel einfacher. »
Wir alle sind vertraut mit der Berührung von Moos und Wasser. Wir spüren bei konzentriertem Zusehen durch die geschickte Inszenierung das kühle Nass oder das glitschig weiche Moos selbst auf unseren Handflächen. Wir spüren die kühle Brise, die unserer Haut beim Prozess des Ausziehens der Kleider im Lauf begegnet. Wir spüren analog zu den Protagonisten das Gras unter den Fusssohlen, nachdem diese vom Schuhwerk befreit wurden. Auch mit dem Geruch von frischem Schweiss sind wir vertraut. Und so aktiviert die inszenierte und dialoglose Sequenz unser Geruchsinn. Wir riechen Corey und Gabriel förmlich.
Ich glaube, das ist es, was Lorenz Merz‘ Coming of Age Epos so attraktiv macht. Das Intuitiv Spürbare. Somit beende ich meine heutigen Filmgedanken.
Auf bald.
02. August 2024