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Soul of a Beast PT. I

Diesen Frühling verbrachte ich einige Zeit in Rio de Janeiro und hab mir Gedanken zu mir, meiner Umwelt und Film gemacht. Abschweifen bei Dschungelhitze. Sinnieren über Materialität.

Von Lino Kalt

Ich sitze am Schreibtisch. Ein Standventilator bläst mir die Dschungelhitze aus dem Gesicht. Ich rauche, versuche zu schreiben. Mit der rechten Hand drücke ich mir das eisgekühlte Glas Chivas Regal an die Schläfe, in der Hoffnung, die Kerntemperatur meines kochenden Gehirnes zu senken. Ich bin in Brasilien.

Genauer: In Rio de Janeiro. In einer kleinen Terrassenwohnung mit Wellblechdach, Wassertank und illegalem Strombezug am obersten Rande der winzigen Favela «Chácara do Céu», weit oberhalb Leblon und direkt nördlich des grossen Favela-Bruders Vidigal.

Um mich herum kreischen die Äffchen und die Grillen geben auch bei Tageslicht keine Ruhe.

Die Luft ist heiss und feucht. Der Sonnenaufgang hat mich auf der Terrasse in meiner Hängematte schon um 04:30 geweckt. Selbst wenn mich der Sonnenaufgang schlafen gelassen hätte, so wäre ich doch kurze Zeit darauf von den Dengevirus verbreitenden Tigermücken, die sich in der Morgendämmerung bei Tau Klima am wohlsten fühlen, aus meinen Träumen gerissen worden. Die Natur offenbart sich mir hier in ihrer pursten, rohsten Form. Das Material und die Substanz der Natur machen sich in jedem vorbeiwehenden Monsterablatt bemerkbar. Simpel.

Zeitgleich, wenige hundert Meter weg von meinem kleinen Garten Eden, beginnt eine Millionenstadt ihre Alltagsroutine.

Hunderttausende Autos brettern durch die Strassen der Zona Sul in Richtung Centro und umgekehrt. Zwischen ihnen; hupende Motorräder. Es riecht nach Abgasen und Klärwasser. Nach Essensabfällen und Hundescheisse, die von der Sonne regelrecht gekocht werden. Man hört Rufe, Schreie. Man kann der Freude, der Trauer, der Empörung und dem Erstaunen nachlauschen.

Die einen gehen zur Arbeit, die anderen lassen es sich an einem der weissen Sandstrände bei Caipirinha und Beachballspielen gut gehen. Dann wird gebräunt und getratscht. Man tauscht Blicke, lässt sie an den muskulösen Körpern entlang schweifen und erhofft sich, von Zeit zu Zeit vielleicht selbst zum Blickobjekt zu werden. Boa Vida. Die Verkäufer:innen am Strand bewerben mit lauten Rufen ihre Ware: «Milho! Milho» für frisch gedämpfte Süssmeiskolben. «Empanadas Argentinas!» «Açai, Açai.» Die Stimmen überschlagen sich. Eisgekühlte Biere, Lokal und Import, spazieren vorbei. «Brahma, Brahma!» Cervejas geladas! «Heineken, Corona, Stella!» Auch Klänge verschiedener Lieder aus portabeln Musikboxen, die an den Sonnenschirmen befestigt werden, vermischen sich. Eine Symphonie aus Chico Buarques soften Sambamelodien und wilden elektronischen Funkbaselines mit verschnellerten Sprechgesängen entsteht.

Ich erhebe mich vom Schreibtisch, laufe in die Küche und öffne den Kühlschrank, um mir die Auswahl an Früchten anzusehen, die gleich den Weg in den Mixer finden werden. Soll den Kater kontern. Ich denke zurück an gestern Nacht. Den Ausflug in die Favela «Rocinha». Die scheppernden Lautsprecher auf der «Funk» (Baile Party). An die halsbrecherische Fahrt auf dem Rücksitz eines Moto-Taxis vom Eingang der Favela unter dem Spinnenetz von starkstrombeladenen Kupferkabeln durch das Gassenlabyrinth hindurch bis zum Veranstaltungsort. An das Äffchen in Windel, das auf der Schulter eines schwerbewaffneten Jugendlichen herumturnt. An die vielen Gewehre und Pistolen, die aussahen, als ob sie direkt aus dem Afgahnistankrieg nach Rio verschifft worden waren. An das Knirschen und Chrosen der Funkgeräte an den Hüften der Gangmitglieder. An den Geruch von Pisse, Limettenschnitzen und warmem Marihuana-Rauch an den Häuserecken. An die tanzenden, schwitzenden Körper jeden Alters. An die abgehackten Mikrofoneinsätze des DJs. An die feuchte Luft, die jeden Schritt zu einem Anstrengenden machte. An meinen Jetlag, der auf die Dauer der Nacht nicht besser wurde und womöglich bis jetzt anhält.

Rio ist brutal schön. Roh.

Heute möchte ich über Filme nachdenken und über Filme schreiben. Soviel habe ich mir vorgenommen, bevor ich mich wieder an den Strand lege.

Der Gedanke an den Film «Cidade de Deus» von 2002 ist nach solchen Erlebnissen naheliegend. Ich mag den Film sehr. Und doch empfinde ich seine Geschichte und sein moralischer Subtext in diesem Moment als zu dramatisch und überholt.

Denn auch Rio hat sich verändert. Nicht zum Besseren. Nicht zum Schlechteren. Neue Geschichten wurden geschrieben. Die Kriminalität politisch und gesellschaftlich neu verhandelt. Die Gewalt verlagert sich. Neue Korruption regelt und definiert altbekannte Konflikte neu. Der Kreislauf endet nicht einfach so. Und wer bin ich schon, dass es mir zustehen würde, nach einigen Tagen in Rio Stellung zu einer möglichen Lebensrealität zu beziehen? Mit einem westlichen Blick auf die Dinge. Und dann noch in Zusammenhang eines Filmtipps. Anhand eines narrativen Spielfilms.

Rio zeigt mir eine mögliche Form des Seins in diesem Universum. Tausende mögliche Lebensrealitäten auf grossflächigem Raum. Leben und Raum voller greifbaren Materialien. Neuer, mir nicht bekannter Materialität. Und diese Rohbausteine des Lebens, die ich hier beobachten darf, sind es auch, die mir einen Film, den ich vor nicht allzu langer Zeit im Kino gesehen habe, in Erinnerung rufen.

Heute möchte ich lieber über die Hervorhebung der Materialität und die «Sinnesaktivierung» am Schweizer Filmbeispiel «Soul of a Beast» von Lorenz März aus dem Jahr 2020 sprechen. Dieser ist seit einigen Monaten auch auf Netflix und Play Suisse streambar. Im Schauspiel kehren Ella Rumpf, Pablo Caprez, Luna Wedler und Tonatiuh Radzi zu ihren Instinkten zurück und werden dabei von Fabian Kimotos Kameraführung feinfühlig, direkt und fast schon auf animalische Art und Weise festgehalten. In einem Gespräch teile ich meine Beobachtungen mit Hauptdarsteller Pablo Caprez und bekomme im Gegenzug dazu seine Anekdoten zu Schauspiel und persönlichen Herausforderungen.

Die Film-Gedanken gibt es morgen im Rahmen eines «Zweiteilers» – dann müsst ihr heute nicht ins Unendliche Scrollen. Bis dann.

02. August 2024

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