Dass Viviana eine Ausbildung zur Profitänzerin absolviert hat, kann sie nur schlecht verstecken. Heute ist Sie als Yogalehrerin sowie als Kreativdirektorin für verschiedene Unternehmen tätig. Viviana bewegt sich bedacht – sie kennt ihren Körper. Elegant macht sie es sich auf dem breiten Stuhl für unser Gespräch gemütlich.
Wir kennen uns aus der Gegenwart. Du bist ein sehr achtsamer Mensch – scheinst dich viel mit deinem Wesen befasst zu haben. Kannst du mir ein wenig über deinen Weg bis dahin erzählen?
Viviana: Gerne! Ich bin in einer kleinen Stadt in der Nähe von Mailand aufgewachsen. Meine Mutter war Balletttänzerin und hatte eine Ballettschule. Als Kind war ich nicht sehr sozial und am liebsten alleine. Daher verbrachte ich schon früh viel Zeit bei meiner Mutter im Tanzstudio und begann selbst mit dem Tanzen. Später absolvierte ich dann eine Profiausbildung.
Irgendwann merkte ich, dass Bewegung in Verbindung mit strengen Regeln extrem zerstörerisch sein kann. Ich wollte nicht mehr jeden Tag über Kalorien und Kompositionen nachdenken, also entschied ich von einem Tag auf den anderen, mit dem Tanzen aufzuhören, um dann zu merken, dass ich keine Ahnung hatte, wer ich überhaupt bin.
Wie ging’s dann weiter?
Ich fragte mich, wer ich sein möchte. Ich probierte verschiedene Dinge aus und besuchte eines Tages eine Yogaklasse. Die Bewegung, ohne dabei beobachtet oder bewertet zu werden, fühlte sich so gut an, dass ich danach wusste: Ich möchte Yogalehrerin werden. Nach meinem Studium der Internationalen Beziehungen ging ich nach Indien, um eine Yogaausbildung zu machen. Als Covid kam, musste ich zurückkehren und begann, meine Praxis auf Social Media zu teilen. Zuerst nur mit Freund*innen, doch schnell entwickelte sich daraus eine Plattform. Ich unterrichtete online und später auch in Summercamps. Doch irgendwann realisierte ich wieder: Ich bewege mich für die anderen, nicht für mich selbst.
Heute bist du als Kreativdirektorin und nach wie vor als Yogalehrerin tätig. Wo stehst du mittlerweile in Bezug auf die bereits angesprochenen Schwierigkeiten?
In den letzten Jahren habe ich mich selbst neu entdeckt. Ich befinde mich momentan in der bisher glücklichsten Periode meines Lebens. Ich kann in meiner Tätigkeit als Kreativdirektorin verschiedene Seiten von mir zeigen und einbringen. Ich kann sehr viel selektiver sein und mich immer wieder fragen: Was tut mir gut und was nicht? Dasselbe gilt für meine Tätigkeit als Yogalehrerin. Ich habe gelernt, dass es in dieser Welt wichtig ist, Menschen zum Fühlen zu bringen. Mit meiner eigenen Methode versuche ich genau das – Bewegung ist persönlich. Es ist deine Bewegung. Jemand kann dich leiten, aber die Bewegung gehört dir.

Dem scheinen sich viele Menschen nicht bewusst zu sein – was im Bezug auf Sport verhängnisvoll sein kann. Man trainiert oft aus einer äusseren Motivation und nicht, um sich zu spüren.
Absolut! Es herrscht so viel Druck. Man eifert einem Ziel in Form eines Körperideals nach, ohne dem Prozess bis dahin Achtung zu schenken. Es geht nicht mehr wirklich darum, sich zu spüren, zu spüren, welche Form von Bewegung einem gut tut. Viel mehr geht es einfach darum, eine «Sporty-Person» zu sein.
Wie würdest du die Beziehung zu deinem Körper beschreiben?
Nach zahlreichen Jahren, in denen ich unter anderem mit Anorexie und OCDs zu kämpfen hatte, konnte ich vor circa drei Jahren einen Schalter kippen – in Bezug auf meinen Körper, aber damit einhergehend auch in Bezug auf Essen. Loszulassen von all diesen Regeln und Einschränkungen in meinem Kopf gab mir so viel Freiheit und Frieden. Heute fühle ich mich wohl in meinem Körper. An manchen Tagen mehr, an anderen weniger.
Ich kann sehr gut nachvollziehen, wovon du sprichst. Auch ich hatte jahrelang eine starke Anorexie und OCDs.
Viele, die nie dadurch mussten, haben Schwierigkeiten, zu verstehen, was diese Krankheit tatsächlich bedeutet. Die Mindgames, die die Anorexie mit dir spielt, sind nur schwer greifbar für Aussenstehende. Aber viele Frauen struggeln mit ihrem Körper, wenn auch nicht so tief. Für uns Frauen ist es so hart, in unsere Körper hinein zu hören. Es braucht Ruhe und Zeit, bis man wirklich zu seinem Innersten vordringen kann.
Die man sich nehmen muss! Was bedeutet Gesundheit für dich?
Für mich persönlich: Balance. Ich bin eine sehr extreme Person. Entweder gehe ich all in oder all out. Ich lernte aber in den letzten Jahren: Something is better than nothing. Ich kann am Morgen meditieren und am Abend clubben gehen – das wäre vor einigen Jahren nicht möglich gewesen für mich. So gelange ich jeden Tag ein bisschen näher an die Version von mir, die ich gerne sein möchte.
Worüber ich oft nachdenke, ist die Frage: Can one be fully healed? Ich habe das Gefühl, Heilung ist ein stetiger Prozess, auch wenn einem auf Social Media etwas anderes vorgegaukelt wird.
Das denke ich auch. Höhen und Tiefen sind normal. Man kann versuchen, sein Leben mit Dingen zu füllen, die einem guttun, muss die Zufriedenheit aber schlussendlich in sich selbst finden und darf sie nicht von äusseren Umständen abhängig machen. Wenn man dies tut, wird man immer wieder zurückgeworfen. Wenn man sein Wohlbefinden von Routinen abhängig macht, selbst wenn diese gesund sind, steckt man sich selbst wieder in einen Käfig. Das heisst, man muss immer wieder ein Check-in mit sich selbst machen, sich von unnötigem Ballast befreien und fühlen.
Danke für deine Ehrlichkeit, Viviana. Das war ein wirklich schönes Gespräch. Möchtest du noch etwas loswerden?
Ich wünschte mir, dass all das, über das wir gesprochen haben, auch Menschen ausserhalb unserer Bubble erreicht. Es gibt so viele Menschen, die kein holistisches Verständnis für sich selbst haben.
Und: Eine der wichtigsten Fragen, die sich alle stellen sollten, wäre: Why do I wake up in the morning? Wenn jeder Mensch den Tag mit etwas mehr Bewusstsein starten würde, würde unsere Welt sehr viel anders aussehen.

10. Februar 2025