Text von Gastautor Simon Jud
Mein Zuhause wird zur Bastion gegen die anstehende Eiszeit. Betrübt blicke ich aus dem kleinen Fenster auf den Fluss. Im Winter soll er schneller fliessen, wurde mir einmal gesagt. Asynchron zu meinem Puls, denke ich. Dieser verlangsamt sich, während ich hier im Warmen sitze. Und so komme ich zu meinem eigentlichen Thema.
Geschwindigkeit herrscht um uns herum, aber auch in uns. Nicht nur auf der Ebene des Einzelnen. Ganze Gesellschaften be- und entschleunigen und sogar die Erdkugel dreht nicht immer gleich schnell. Geschwindigkeit als Konzept durchdringt Individualebenen, gesellschaftliche Ebenen und gar kosmische sowie Metaebenen. Sie beeinflusst Subjektives sowie Objektives, dient uns als abstraktes Konzept, messbare Grösse oder inneres Gefühl.
Ein Silberfischchen wagt einen Sprint über die kühlen Steinplatten meines Studios. Mein Herz schlägt etwas schneller, dann beruhigt es sich wieder. Draussen hupt es. Die Autos stehen in einer Staukolonne, während daneben die Maas mit sanfter Wucht vor sich hintreibt.
Geschwindigkeit als messbare Grösse, das ist Geschwindigkeit in ihrer objektiven Form. Diese Dinge sind so, wie sie sind, zumindest innerhalb unseres geteilten Erkenntnisrahmens. In der Physik bedeutet Geschwindigkeit Distanz durch Zeit, messbar zum Beispiel in Kilometern pro Stunde oder Metern pro Sekunde. Im übertragenen Sinn können aber auch Bücher pro Tag, Downloads pro Sekunde oder Herzschläge pro Minute Geschwindigkeiten ausdrücken.
Ein weiteres Silberfischchen huscht an mir vorbei, schneller als das vorige. Vielleicht dreissig Zentimeter pro Sekunde. Durch die dünnen Pappwände meines Studios höre ich die Nachbarin TikToks schauen. Zehn-Sekunden-Videos, sechs Videos pro Minute. Sie ist schon eine Weile damit beschäftigt. Der Stau draussen hat sich mittlerweile aufgelöst.
Die Geschwindigkeit als Gefühl, das ist eine andere Geschichte. Jenseits der Physik und des objektiven Erkenntnisrahmens. Wir sprechen davon, dass die Zeit schneller und langsamer vergeht. Doch ist die Zeit objektiv keine Geschwindigkeit. Was sich be- oder entschleunigen kann, ist die Rate an Dingen, die wir pro Zeitabschnitt erleben, die Rate des Erlebens. Sie beeinflusst, wie sich die Zeit für uns anfühlt. Deshalb ist meditierte Zeit die langsamste Zeit, die man erleben kann. In einer Minute ist die Zahl der Dinge, die man dabei erlebt, abzüglich ein paar flackernder Gedanken, praktisch null.
Wer klagt, die Zeit renne ihm oder ihr davon, wäre gut beraten, weniger zu multitasken. Denn dies erhöht die Rate des Erlebens. Ein Abendessen lässt sich ohne Netflix geniessen, eine Zugfahrt auch. Der warme Duschstrahl im Nacken – wie angenehm, ohne kreisende Gedanken an den Folgetag. Zuerst würde ich den Kaffee trinken und erst dann WhatsApp öffnen. Es sind doppelte Gewinne. Die an sich geniessbaren Aktivitäten werden intensiver. Und die Zeit vergeht «langsamer», weil sich die Rate des Erlebens entschleunigt.
Der iPhone-Alarm klingelt. Mein Puls schnellt wieder in die Höhe. 1600 Umdrehungen sind vollendet, die Wäsche ist fertig. Ich blicke auf und vor mir an der Wand erstarrt ein Silberfischchen, winzig im Anblick. Es bewegt sich nicht. Draussen hupt ein Auto energisch, vom Stau ist nichts mehr zu sehen. Sich aufregen, das erhöht auch die Rate des Erlebens, denke ich. Der Puls steigt, Kortisol wird ausgeschüttet und die Gedanken beschleunigen sich. Der arme Kerl, immerhin wird alles schnell vorbei sein für ihn.
Fast reflexartig greife ich zu den Stricknadeln. Während das Silberfischchen vor mir weitermeditiert, gewinne ich mit jeder Masche Zeit.
26. September 2025