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Sexarbeiterin, selbstbestimmt.

Natalie Kaiser* ist 54 Jahre alt und arbeitet nach gescheiterten Ehen und verschiedenen Jobs im Anstellungsverhältnis seit knapp zwei Jahren** als Escort. Warum ihr Beruf sie mehr erfüllt als jeder andere.

Von Natacha Rothenbühler

*Name von der Redaktion geändert

** Diese Reportage wurde im Dezember 2023 geschrieben. Die Porträtierte ist mittlerweile nicht mehr als Sexarbeiterin tätig.

Am Morgen vor dem ersten Interview mit Natalie Kaiser klingelt das Telefon. «Hallo?», raunt eine tiefe, volle Stimme. Ob wir das Treffen vorverlegen könnten. Sie habe für heute Abend spontan eine Buchung erhalten und müsse dafür weit reisen. Wenig später wartet Natalie Kaiser in einem ruhigen Wohnquartier einer Berner Kleinstadt vor dem Hauseingang. Ein kräftiger und bestimmter Händedruck, dann geht sie mit federndem Gang die Treppe hoch. Sie trägt eine bequeme graue Hose und ein weisses Longsleeve, das ihre athletische Figur betont. Den hinteren Teil ihrer Converse hat sie lässig heruntergetreten. Auf der anderen Seite der Wohnungstür eröffnet sich eine schlicht eingerichtete Dachwohnung. Alles ist in Weiss und Beige gehalten, an der Wand hängt Kunst aus geflochtenem Korb, neben dem Esstisch stehen ein paar Familienfotos und weisse Orchideen.

«Ich habe uns Tee gemacht. Das ist das Einzige, was man an so einem kalten Tag tun kann.» Vorsichtig giesst sie zwei Tassen Tee aus der japanischen Gusseisenkanne ein. Sie sitzt aufrecht auf einem Küchenhocker und strahlt eine ruhige Präsenz aus. Die blauen Augen blitzen. «So, wollen wir gleich?»

Natalie erzählt, dass sie mit 54 Jahren zum Beruf gekommen sei. Nachdem sie ein paar Ehen in den Sand gesetzt hatte und nicht mehr länger in einem Angestelltenverhältnis arbeiten wollte, war es für sie naheliegend, sich als Escort selbständig zu machen. 

Um diesen vermeintlichen Sprung zu erklären, holt sie aus und erzählt, dass sie sich als junge Frau lange nicht entscheiden konnte, welchen Beruf sie wählen sollte. Alles schien interessant, ihre Neugierde war schon damals ausgeprägt. Dann wurde sie mit 19 Jahren schwanger, entschied sich für das Kind und für ihren damaligen Partner. Etwas später folgte das zweite Kind – für eine Lehre oder einen höheren Schulabschluss blieb keine Zeit. Bereut hat sie das nie: «Alle meine Lebensstationen machen mich zu dem, was ich bin.» Als die Kinder klein waren, absolvierte sie eine Ausbildung zur Aerobicinstruktorin. Die Arbeit war praktisch, weil sie die Kinder ins Studio mitnehmen konnte. Über die nächsten 20 Jahre behielt sie die Aerobicstunden bei. Parallel dazu lösten sich verschiedene Jobs in der Hotellerie und in der Modebranche ab. Aber in der Modewelt fühlte sie sich immer eingeschränkter. Das Konkurrenzdenken unter den Mitarbeitenden und die Fremdbestimmung durch den Arbeitgeber machten ihr zu schaffen. Die Stimme, die ihr sagte: «Natalie, mach dein eigenes Ding», wurde unüberhörbar.

Also setzte sie sich mit 54 Jahren – vor eineinhalb Jahren – erstmals mit der Idee der Sexarbeit auseinander. Sie war zu dem Zeitpunkt in keiner Beziehung, hatte schon immer ein ausgeprägtes Sexualleben geführt und mit ihrem letzten Ex-Partner inspirierende Erfahrungen in Erotik-Clubs gesammelt. Sich und anderen Gutes zu tun, sieht sie als etwas Schönes, absolut Natürliches an. «Und offenbar funktioniert es, Sex gegen Geld anzubieten.» Sie lächelt schelmisch und streicht sich eine weiss melierte Haarsträhne aus dem Gesicht. «Endlich hatte ich etwas gefunden, das mich reizt.» 

Doch der Berufswechsel brachte auch Herausforderungen mit sich. Natalie lacht auf: «Wie erzählst du deinem Umfeld, dass du Sexarbeiterin bist?» Schritt für Schritt hat sie sich im vergangenen Jahr ihrem Umfeld anvertraut. Es war ihr wichtig, mit jeder Person einzeln ein Gespräch zu führen, emotionale Reaktionen des Gegenübers anzunehmen.

Inzwischen unterhält sie sich mit ihrem Vater regelmässig darüber, wie das Geschäft läuft. Auch von Freund:innen und sogar von ihrer Mutter hat sie grosse Unterstützung erfahren – und das, obwohl die Ehe ihrer Eltern genau aus dem Grund in die Brüche ging: Ihr Vater hatte ihre Mutter mit Sexarbeiterinnen betrogen.

Auch mit ihren erwachsenen Kindern möchte sie im Dialog bleiben. Doch das Verhältnis zu ihrer Tochter ist schwierig, vor fünf Jahren ist der Kontakt abgebrochen. Ihr jetzt, aus dem Nichts von ihrer Arbeit zu erzählen, ist keine Option. Ihren Sohn hingegen weihte sie vor Kurzem ein. Für die Offenbarung wollte sie den richtigen Zeitpunkt abwarten, denn seine Meinung ist ihr wichtig. Im letzten Jahr hatte er beruflich viel zu tun und wechselte die Firma. In dieser Zeit hörte Natalie vor allem zu, über sich und ihren Berufswechsel redete sie nicht. Vor drei Wochen fand sie einen passenden Moment am Telefon. 

In das Gespräch stieg sie so ein: «Hör zu, bist du mit mir einverstanden, dass das Leben ein Geschenk ist, aber wir selbst für unser Glück verantwortlich sind?». «Klar, Mum. Du hast mich ja so erzogen», erwiderte ihr Sohn.

Natalie fuhr fort: «Okay, das ist eine gute Basis. Also, es ist so: Ich arbeite seit anderthalb Jahren als Escort und ich bin absolut happy damit.»

Als die Wahrheit raus war, hielt der Sohn einen Moment inne und sagte dann: «Wow, krass! Also, ich finde das grandios und kann mir vorstellen, dass du für die Menschen, denen du begegnest, eine grosse Bereicherung bist.»

Eine Reaktion, die Natalie positiv überraschte. Sie hebt die Schultern, holt tief Luft und sucht nach den richtigen Worten: «Ich kann das gar nicht beschreiben, es war ein so tiefgreifendes Annehmen von mir als Mensch.» Sie macht mit den Händen eine Geste, wie wenn eine Blume aufgeht.

Einen grossen Rückhalt findet sie auch in sich selbst. Achtsamkeit und Selbstfürsorge stehen an erster Stelle. Sie ist und war schon immer ein körperlicher Mensch, geht morgens um 6:30 im Wald joggen. Zum Abschalten fährt sie Harley. Und seit sie als Escort arbeitet, hat sie mehr Tageslicht gesehen als in den letzten 15 Jahren. 

Diese Freizeit kann sie sich leisten, weil sie ihren Lebensstandard bereits erreicht hat, wenn sie pro Monat vier oder fünf «längere Geschichten macht». Heisst: Vier- bis fünfmal pro Monat für 2-3 Stunden arbeiten = 4500-5000 Franken Nettoverdienst. Manchmal sind es auch 10’000 pro Monat. Für diesen Lohn hat sie viel mehr Freiraum als Menschen mit vergleichbarem Einkommen, «einfach mehr Lebensqualität».

Dass längst nicht alle Sexarbeiter:innen so gute Arbeitsbedingungen geniessen wie sie, ist ihr bewusst. Dass Menschen inner- und ausserhalb der Community sie aber an die Spitze einer sozialen Hierarchie unter Sexarbeiter:innen stellen, geht ihr zuwider: «Das Konzept der Whorearchy lehne ich ab.» Dieser zusammengesetzte Begriff aus Whore (dt. «Schlampe») und Hierarchy (dt. «Hierarchie»), auf Deutsch auch als Hurenhierarchie bekannt, wurde erstmals im 19. Jahrhundert verwendet. Laut der Definition sind ganz unten die Beschäftigten auf dem Strassenstrich, ganz oben Escorts wie Natalie.

Aber damit ist sie nicht einverstanden: «Ich sehe mich nicht oben und andere unten. Wir stehen alle in einer Reihe mit unseren eigenen Backgrounds und Gründen, warum wir den Beruf ausüben. Und es wäre viel schöner, wenn wir diese Reihe zwischendurch zu einem Kreis schliessen könnten, wo wir einander zuhören und herausfinden, was unsere Probleme sind – egal, wer wie viel verdient. Am Schluss müssen wir alle unsere Rechnungen zahlen und uns sicher fühlen können.» Dabei stellt sie klar, dass sie ausschliesslich von den Sexarbeiter:innen spricht, die diese Arbeit freiwillig ausüben. Menschenhandel müsse man separat bekämpfen und klar von der selbstbestimmten Sexarbeit abgrenzen.

Die anderen Sexarbeiter:innen, die in ihrer Nische tätig sind, sieht sie nicht als Konkurrenz. Sie unterbricht für einmal den Blickkontakt und hört kurz in sich hinein. Dann fährt sie fort: «Wahrscheinlich, weil ich mich stark mit mir selbst beschäftige. Man wählt mich, weil man mich will. Und man wählt einen anderen Menschen, weil er oder sie etwas anderes hat. Das Feld ist genügend gross, es liegt an mir, etwas daraus zu machen.» Wie viele Menschen nebst Natalie in der Schweiz als Sexarbeiter:innen tätig sind, ist schwierig zu bestimmen – einerseits, weil viele der Beschäftigten nicht permanent in der Schweiz wohnen, andererseits, weil es in den meisten Kantonen keine Meldepflicht für Sexarbeiter:innen gibt. Laut den neuesten Schätzungen einer Studie des Bundesamtes für Polizei fedpol von 2015 gibt es in der Branche zwischen 4000 und 8000 Arbeitsplätze, die sich ca. 16’000 Personen teilen. Davon sind 250 Menschen als Escort tätig.

Als bisexuelle Frau bietet Natalie ihren Escortservice nicht nur für Männer an. Die Nachfrage von Frauen sei allerdings dürftig, sie hatte noch nie eine Kundin. «Wahrscheinlich wegen gesellschaftlicher Stigmata. Und so wie ich es wahrnehme, brauchen Frauen viel mehr Sicherheit auf der emotionalen Ebene», überlegt sie laut. Ab und zu erhält sie Anfragen von Paaren, die eine dritte oder vierte Person suchen. Dafür arbeitet sie, wenn gewünscht, mit einem Callboy zusammen.

In den allermeisten Fällen sind es aber Männer, die sich bei ihr melden und eine Eins-zu-eins-Begleitung buchen möchten. 

Natalie arbeitet hauptsächlich im Outcall-Modell. Sie empfängt also keine Dates bei sich zuhause, ihre Privatwohnung ist ihr Heiligtum. Stattdessen macht sie Hausbesuche bei Kunden oder trifft sich mit ihnen in Hotels. Auf ihrer Webseite steht: «Ich darf Dich bitten, die Reservation in Hotels mit ausnahmslos fünf und mehr Sternen zu übernehmen.» Die Dates dauern mindestens zwei Stunden oder länger – bis hin zu «Overnight» (also mit Übernachtung), Wochenend- oder Ferienbegleitung. In der Regel organisiert und bezahlt der Kunde alles: Reise, Hotel, Verpflegung. Die Details der Leistung werden vorab vereinbart, sodass beim Treffen keine Diskussionen entstehen. Unmissverständlich ist der Webseite zu entnehmen: «Ein Nein ist ein Nein und wird mit Respekt angenommen.»

Bis jetzt hatte sie Glück – «Houz alänge!» – und es waren alle Gentlemen, die ihr Nein akzeptierten. Trotzdem hat sie bei längeren Treffen ein Back-up – eine Person, die weiss, wo sie ist, und die sich einschalten würde, wenn Natalie das vereinbarte Signal nicht schickt.

Ein einziges Mal musste sie ein Date in den ersten 15 Minuten abbrechen: Der Mann begegnete ihr respektlos. «Selbst wenn der Service im Voraus bezahlt wird, heisst das nicht automatisch, dass man alles mit mir machen kann.» 

Die Gründe, weshalb sich Kunden bei ihr melden, sind sehr verschieden. Natalie erzählt, dass unsichere Männer ihre Erfahrung schätzen, sich gerne leiten lassen und in einem sicheren Rahmen ausprobieren können, selbst die Führung zu übernehmen. «Oder vielleicht sucht er etwas, was er in seiner Partnerschaft nicht findet. Ein Besuch bei einer Prostituierten kann da manchmal das Sprungbrett für eine Verbesserung sein. Oder er ist schon lange allein und möchte ein paar schöne Stunden verbringen.»

Etwa zwei bis drei Stunden vor einem Date legt sich in Natalies Körper ein Schalter um. Ein Gefühl der Erregtheit durchflutet sie, sie bewegt sich mit Bedacht. Ihr Äusseres, wie auch ihr Inneres, pflegt sie sorgfältig: Meditation und Maniküre sind fester Bestandteil ihres Alltags. Wenn spontane Buchungen eintreffen, muss sie parat sein. Aus ihrer Garderobe, «klassisch und sec», wählt sie dann ausgehend vom ersten Eindruck des Kunden einen Hosenanzug oder ein Kleid, stilvolle Unterwäsche und hohe Schuhe. Manchmal erreichen sie konkrete Wünsche, zum Beispiel, ob sie ein Kleid und darunter nichts anziehen könne. Sie lacht: «Das mache ich gerne – wenn das Wetter passt.» Während sie sich vorbereitet, malt sie sich in Gedanken den Moment des ersten Blicks, des ersten Zusammentreffens aus. «Das ist etwas ganz Spezielles! Dieses Knistern… Das kennen ja alle, die ein gutes Date haben.» 

Nach der Begrüssung – das kann an einem öffentlichen Ort, in einer Hotellobby oder schon direkt vor der Zimmertür sein – wird das Couvert mit der Bezahlung in bar überreicht. Danach spricht man in der Regel nicht mehr darüber – ausser in seltenen Fällen, wenn es während einer Begegnung so gut «gyget», dass sich die Dauer verlängert. 

Die Dates sind für Natalie immer eine Kombination aus Gesprächen und Intimität. Wenn ein Mann im Vorgespräch erzählt, was ihn interessiert, liest sie sich gerne in das Thema ein und schätzt eine angeregte Konversation. Unter ihren Kunden sind vor allem Geschäftsmänner, Banker und Ärzte, «Männer, die ganz sicher nicht am Hungertuch nagen». Besonders toll findet sie es, wenn sie jemand zu einem Konzert oder einer Tagung einlädt. Aber klar: Ein Happy End, also ein Orgasmus, sei eigentlich bei jeder Begegnung dabei – egal, ob der Kunde knapp 20 oder über 90 Jahre alt ist.

Gerade letzte Woche besuchte sie einen 86-jährigen Herrn. Die Zugreise – sie ist immer mit ÖV unterwegs – führte Natalie in ein abgelegenes Dorf im Kanton Bern und dort in eine Alterswohnung, angegliedert an das Alterszentrum nebenan.

Im langen, figurbetonten Kleid in Schwarz schritt sie den Gang runter. Der Herr im Jogginganzug stand mit seinem Rollator schon in der Türe und strahlte sie an. Sie erzählt, dass er für sein Alter im Kopf noch sehr fit war, aber nicht mehr dieselbe körperliche Agilität wie in jungen Jahren besass. Aus Respekt zog Natalie ihre Schuhe aus. Dann lachten sie sich an und gaben sich einen Kuss. Sie setzten sich hin, «beschnupperten» einander, tauschten erste Berührungen aus. Nach einer kurzen Besprechung über den Ablauf der nächsten Stunde begannen sie, sich gegenseitig auszuziehen.

«Das passierte von meiner Seite her alles mit sehr viel Umsicht und Respekt. In dem Fall hatte das eine unglaubliche Natürlichkeit. Und wenn man nackt nebeneinander liegt und sich zärtlich berührt, spielt es überhaupt keine Rolle, wer wie alt ist. In diesem Körper, dessen Haut in Falten liegt, steckt eine Seele mit jungen Anteilen, die erleben will, sich gut fühlen will.»

Nachdrücklich plädiert Natalie dafür, zu erkennen, dass Vitalität einzig davon abhängt, wie sich jemand fühlt – nicht vom Alter. «Der Deckel ist erst zu, wenn er zu ist», wirft sie trocken hin. Solche Begegnungen seien wunderbar. Noch nie habe sie eine so grosse Sinnhaftigkeit in ihrer Arbeit verspürt. Ihre Stimme zittert. Sie muss sich kurz fassen. «Wir kümmern uns um Seelenanteile, um ein Miteinander in einer Form, die absolut nichts Verwerfliches hat. Ich hatte in diesem Moment nur Freude an dem, was ich jemandem schenken kann.» 

Mit ausladenden Gesten erzählt sie über ihr Interesse für die ganze Community und die Teilnahme an der letztjährigen Tagung des Deutschen Berufsverbands für Erotische und Sexuelle Dienstleistungen (BESD) in Thüringen. Aus allen «bunten Ecken» seien dort Anbieter:innen zusammengekommen, um aktuelle Anliegen innerhalb der Community zu diskutieren. Die positiven Erlebnisse regten Natalie dazu an, sich zu vernetzen und öffentlich zu engagieren. Es sei wichtig, dass unabhängige Fachstellen genügend finanzielle Mittel hätten, damit Sexarbeiter:innen die benötigte Unterstützung erhielten, sagt Natalie. Und dass die Gesellschaft anfange, die Menschen hinter der Sexarbeit zu sehen. So ist sie auf die Fachstelle Sexarbeit des Kantons Bern (XENIA) gestossen, die sie in Zukunft in der Öffentlichkeitsarbeit unterstützen will. 

Christa Ammann, Geschäftsleiterin von XENIA und Grossrätin, arbeitet nun seit zehn Jahren in der Fachstelle. In dieser Zeit hat die ausgebildete Heilpädagogin und Sozialarbeiterin unzählige Stunden mit Sexarbeiter:innen, Salonbetreiber:innen und Behörden verbracht und kennt das Berner Sexgewerbe bestens. Sie engagiert sich, genau wie Natalie, für einen normalen Umgang mit Sexarbeit. Ihre tragende Stimme füllt den Konferenzsaal des Büros aus. Gesellschaftlich brauche es eine Enttabuisierung rund um die Themen Sexualität und Geld, erklärt sie. Dafür müsse Sexarbeit rechtlich über das allgemeine Gewerbegesetz geregelt werden, nicht länger übers Strafgesetz oder in Sondergewerbegesetzen. Schliesslich sei das Sexgewerbe mit einem jährlichen Umsatz von knapp eine Milliarde Franken durchaus relevant für die Schweizer Wirtschaft. Der Beruf müsse endlich als Beruf angesehen werden und die Berufstätigen und die Freier:innen als Menschen, nicht als Kriminelle oder «Grüsle». Eine Kriminalisierung, wie sie unter anderem in Schweden durchgesetzt wurde, sei der Worst Case. Natalie pflichtet bei: «Alles, was verboten wird, bietet Fläche für noch mehr Verheimlichung und Dunkelziffern, noch mehr Grausamkeit und Leiden.» 

Dieses als Schwedisches oder Nordisches Modell bekannte Gesetzespaket basiert auf drei Grundpfeilern: Erstens herrscht ein Sexkaufverbot, zweitens sollen die Ausstiegsmöglichkeiten aus der Sexarbeit gefördert werden, drittens wird die Bevölkerung sensibilisiert und aufgeklärt. Es zielt längerfristig darauf ab, dass die Prostitution abgeschafft wird. Das Modell ist nicht nur in Schweden, sondern auch in Norwegen, Island, Kanada, Nordirland, Frankreich, Island und Israel aktiv. Befürworter:innen wollen mit dem Verbot den Menschenhandel eindämmen und der Bevölkerung vermitteln, dass Frauen und ihre Körper nicht käuflich sind. Doch diese Ansichten sind umstritten. Gegner:innen wie Natalie Kaiser und Christa Ammann argumentieren, dass Sexarbeiter:innen so entrechtet würden und sich noch weniger gegen Missbrauch schützen könnten. Der Menschenhandel betreffe ausserdem nicht nur das Sexgewerbe und müsse mit anderen Mitteln bekämpft werden.

Obwohl der Nationalrat 2022 eine entsprechende Motion der EVP zur Sexarbeit in der Schweiz ablehnte, ist die Diskussion über die Einführung eines Sexkaufverbots nicht endgültig vom Tisch. Das EU-Parlament hat im September 2023 eine Empfehlung angenommen, die die Einführung des Modells in allen EU-Staaten fordert. Würden diese folgen, geriete auch die Schweiz unter Druck, erklärt Christa Ammann.

Seit ihrer Teilnahme an der BESD-Tagung hat sich Natalie in den Sozialen Medien gegen das Verbot ausgesprochen – es bedroht schliesslich auch ihre Existenzgrundlage. Christa Ammann bedauert, dass der Diskurs sehr heftig geführt wird. «Natalie und anderen Escorts wird abgesprochen, dass sie über Sexarbeit sprechen dürfen, weil sie eine privilegierte Stellung haben.» Aber Natalie sei auch eine Realität. Vielleicht die Ausnahme, aber die Leute wüssten nicht, dass Zwangsprostituierte ebenso die Ausnahme seien.

Die Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration FIZ konnte 2022 73 Personen identifizieren, die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution wurden. Die Dunkelziffer wird allerdings um einiges höher geschätzt. Das dürfe man keineswegs vergessen oder kleinreden, sagt Christa Ammann. Dennoch seien Sexarbeit und Menschenhandel zwei verschiedene Paar Schuhe. Es sei ungemein wichtig, dass alle Beteiligten zu Wort kämen und ihre Bedürfnisse ernstgenommen würden.

Und Natalies Bedürfnis ist es, dass die Gesellschaft ihren Beruf anerkennt, wie jeden andere auch. «Wir sind Menschen. Mit einem Job. Einem unendlich wertvollen Job.»

Aufgrund dieser Überzeugung hat sie sich vor einem Jahr entschieden, nur noch ein Handy zu nutzen.

Dieses Handy bleibt während des gesamten Gesprächs griffbereit, der Computer unten am Tisch aufgeklappt. Wie alle Selbständigerwerbenden macht Natalie vom Marketing über die Kommunikation bis zur Buchhaltung alles selbst. Das fordert sie auf eine gute Art. Und wie jedes andere Unternehmen muss sie mit wirtschaftlichen Schwankungen umgehen, sich positionieren und Kundenkontakt pflegen. 

Der Job ist nicht nur organisatorisch und körperlich fordernd, sondern auch emotional. Viele Kunden sprechen mit ihr über ihr Privatleben, über ihre Beziehungen und allfällige Probleme. Sie wird um Rat gefragt und muss spontan auf Unsicherheiten, Traurigkeit, Verzweiflung, Scham oder Erektionsstörungen reagieren. 

Natalie betont, dass sie das gerne tut, wie viel Freude sie im zwischenmenschlichen Geben und Nehmen findet, gerade auch auf der emotionalen Ebene. 

Nichtsdestotrotz pflegt sie verschiedene Rituale, wenn sie von einem Date nachhause kommt. Es geht um Reinigung auf allen Ebenen. Als Erstes wirft sie ihre Kleider in die Wäsche. Dann duscht sie ausgiebig, damit sie ihren eigenen Geruch zurückerhält. Anschliessend isst sie etwas Gutes und zieht sich in die Natur zurück, um zur Ruhe zu finden. Nach besonders emotionalen Begegnungen geht sie barfuss auf eine Wiese oder in den Wald, um sich zu erden und ihre Energie zu sich zurückzuholen. Das ist wichtig, weil sie als Sexarbeiterin viel Zeit allein verbringt. 

Es ist ein Balanceakt, bei den Dates alles zu geben und gleichzeitig bei sich zu bleiben. Das Thema Abgrenzung kommt immer wieder auf. Und ausgerechnet in diesem Spannungsfeld hat sie ihren aktuellen Partner kennengelernt – als Kunden. Die Chemie stimmte, doch weil der Mann verheiratet war, kam eine Beziehung für sie nicht in Frage. «Das wäre nicht fair gewesen, in keiner Hinsicht.»

Aber der Mann liess nicht locker und verlangte schliesslich die Scheidung von seiner Ex-Frau. Seit August ist Natalie nun mit ihm zusammen. Er hat sie seiner Familie und seinen Bekannten vorgestellt – aber dabei «ein anderes Päckli serviert»; Natalie sei als Coach und in der Kommunikation tätig, gab er vor. Sie hätten sich beim Töff-Fahren kennengelernt. 

Für ihn war es eine clevere Lösung. Sie machte das Spiel mit. 

Aber seit es ihr Sohn weiss, kann sie das nicht mehr. Also konfrontierte sie den Freund: «Mich gibt es entweder ganz oder gar nicht.» Halbwahrheiten und Lügen haben für sie in der Familie und in Freundschaften keinen Platz. Sie verschränkt ihre Arme vor der Brust und atmet dann tief ein. «Es ist jetzt an ihm, herauszufinden, wie er dazu steht. Dass das zwischen uns nicht weiter gedeihen könnte, ist natürlich unglaublich traurig. Aber wenn wir das jetzt nicht klären, wie soll es dann weitergehen?»

Wie lange sie den Job machen wird, weiss sie nicht. Die Nachfrage wird sinken, wenn ihre Energie nachlässt, da ist sie sich sicher. «Ich glaube, dass auch ich mich ständig verändere und irgendwann der Zeitpunkt kommen wird, an dem ich sage: So, jetzt ist es gut.» Dann will sie entweder in der Community bleiben und Sexarbeiter:innen beratend zur Seite stehen oder eine andere Form der Körperarbeit anbieten, beispielsweise medizinische Massage.

Im Moment zelebriert sie ihre Weiblichkeit und Sexualität, spielt und verführt damit. Das hat sie über die Jahre gelernt. «Die weibliche Lust ist durch all die gesellschaftlichen Einstellungen und Überzeugungen so schambehaftet. Sich zu erlauben, Sex auch wirklich zu geniessen, den Mund aufzumachen und zu sagen: Mir gefällt das, ich habe Lust auf jenes, das ist wichtig.» Ihre Hoffnung ist, dass alle Menschen, insbesondere Frauen, ihre Blockaden überwinden und ihre Bedürfnisse ausleben können. Erneut breitet sich ein verschmitztes Grinsen auf ihrem glatten Gesicht aus: «Wenn alle Frauen ihre innere kleine Hure entdecken, ist das sicher lebenswert.»

Zwei Tage nach dem Gespräch trifft eine Nachricht von Natalie ein:

«Mein Freund hat mich gestern seiner Familie und seinen Freunden als die vorgestellt, die ich bin. Die Resonanz war nur herzlich. Wenn wir den unbequemen Weg gehen, verändern wir die Welt zum Positiven. Ich bin tief berührt und freue mich auf Gespräche, Offenheit und Ehrlichkeit von allen, mich eingeschlossen. Sodass ein jeder und jede wachsen kann. Geniess deinen Tag, Natalie.» 

18. November 2024

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