Ich gehe im Zickzack runter, so habe ich es gelernt, als ich klein war, wenn’s steil ist. Immer im Zickzack. Tackatacka höre ich die Stimme meines Vaters, der das Tempo vorgibt, während ich runterlaufe. Früher waren wir oft wandern, er und meine Mutter vorneweg und ich. In der Schweiz, in Österreich, in Deutschland. Während andere Urlaub am Meer machten, wanderten wir über Berge, Wiesen, Täler, Schluchten. Wir wanderten und ich versank in meinen Gedanken in Welten voller Feen, Schlösser und Drachen. Tackatacka, mein Papa vor mir, das Geräusch im Ohr, während ich tagträumte, tackatacka, um mir vorzuzeigen, wie man am besten in die Knie geht, die Knie benutzt, locker bleibt in der Hüfte, im Slalom vor mir, den steilen Waldpfad entlang. Tackatacka hallt es in meinem Kopf nach, vermischt sich mit meinen Fantasien, während mein Vater nur so den Kopf frei bekommt – nur er, der Wald, die Berge, ein kleines Kind im Schlepptau, das sich gut mit sich selbst beschäftigen kann und in seine Fussstapfen tritt, sie nicht ausfüllen kann, mit seinen kleinen Füssen.

Tackatacka hallt es auch Jahre später den weissen Steinwänden der Dolomiten entlang. Meine Füsse sind mittlerweile gross, zu gross, die Zehen docken an der Schuhspitze an, tack, litzt es mir den Nagel nach hinten, tack, gehe ich bald auf den Stockzähnen.
Dabei erinnere ich mich an unsere erste gemeinsame Tour: Vrin, Greina-Ebene, Terrihütte, Motterasciohütte, Bovarinahütte, Dötrahütte – irgendwann sehe ich vor lauter SAC-Hütten die Berge nicht mehr. Wir steigen damals also in Vrin aus dem gelben Postauto. Die Wanderung vor einer Woche steckt mir noch in den Knochen und Fersen, das Ergebnis. Mit mulmigem Gefühl blicke ich auf die steinige Wand vor mir: 1200 Höhenmeter am ersten Tag und in den ersten Metern davon verstärkt sich der Verdacht, dass sie mir vielleicht doch zu klein sind.
Im Hinterkopf hallt die Stimme meines Vaters, seine Worte, wenn ich nicht mehr konnte: «Komm, schneller, wie eine Gämse erklimmst du den Berg, du Gipfelstürmerin, Bergbezwingerin.» Ich weiss nicht wieso, aber beim Wandern bekomme ich manchmal so ein Gefühl in der Brust, dass sie mir fast zerspringen will, und gleichzeitig zieht sie sich ruckartig zusammen. Ist das bereits ein Vertigo-Effekt, der mir in der Brust sitzt? Die ganze Weite, wo ich nicht weiss, wohin damit: das Blau, das Grün. Irgendwie schön und doch schmerzhaft, meine Brust, es zieht wie an einem kleinen Faden, die Murmeln aus Zweifel, aus Nervosität und aus Drang, sich zu beweisen, schön säuberlich aufgefädelt. Es zieht mich hoch, «immer de Nase na». Die Murmeln klackern, tackatacka, aneinander, meine Beine bewegen sich über den Kies, tackatacka, und wollen schneller werden, wollen springen, galoppieren (was machen Gämsen nochmals?), schnell wie der Wind, flink, grazil wie eine Gämse, die ich eben eigentlich gar nicht bin.
Kurzum, ich will imponieren und dass nun auch dir, nun in Vrin, die Blasenpflaster schon vollgesogen, überzeugen, dass ich eben voll gut bin im Wandern und so. Die Wanderlust pumpt mir das Blut durch den Körper und wird vor den Augen der Klippen und Felsen, der Riesen unserer Welt, noch wallender. Dieser Drang, sich zu beweisen, wird in ihrem Schatten stärker. So stapfe auch ich nun diese 1200 Meter in die Höhe, immer weiter, während meine Füsse schmerzen, die Schuhe sich jetzt tatsächlich als zu klein entpuppen, du irgendwann meinen Rucksack nehmen musst, was mich natürlich kränkt, und mein linker Hüftbeuger irgendwann nicht mehr zu existieren scheint. Ich hebe und senke das Bein, verlagere aufgrund meiner Fersen mein Gewicht falsch, zu sehr auf das rechte Bein, weshalb die Hüfte und der Beuger darin leiden müssen und sich irgendwann wie eine kaputte Sprungfeder auch nicht mehr beugen lassen.
Die Stimmung ist auf halber Strecke nach oben liegen geblieben, zwischen Edelweiss und Kuhscheisse. Nur die Greina-Ebene flacht meinen Frust etwas ab, die wilde Landschaft um mich herum versöhnt meinen gekränkten Stolz etwas, die Pfiffe der Murmeltiere durchschneiden ihn und die Steinböcke auf dem Geröll mustern mich mit schräggelegtem Kopf, während ich hinkend an ihnen vorbeigehe. Die Abendsonne taucht die groben Ziegel der Terrihütte in goldenes Licht und die Gesichter auf der Terrasse sehen mir mitleidig entgegen. «Ui, das xeht aber nöd so guet us.» Ich nicke angestrengt.
In SAC-Hütten isst man normalerweise mit den anderen zu Abend und so sitzen wir inmitten einer Truppe, die ganz nett ist, ähnlich wie Jahre später im Südtirol, mit Regina und Heinz, die wir ins Herz schliessen und sie uns. Anders als in der Greina-Ebene gönnen wir uns mal was und landen in einer Yuppie-Unterkunft, irgendwo im Nirgendwo, mit dem Auto fast nicht zu erreichen. Yuppie, das meint zumindest die Google-Maps-Review, die ich später durchlese, und die wohl auch ein wenig Recht hat, denn ausser Eva und Heinz besteht das Klientel hier aus einer Mischung von Geisteswissenschaftler*innen, Startup-Menschen aus der Tech-Branche, Architekt*innen und einer Handvoll Werbefilmproduzent*innen. Besonders eine Grossfamilie sticht ins Auge – oder durch ihre lauten Gespräche eher ins Ohr. Der eine Sohn erzählt mir irgendetwas von einem Startup in Brooklyn, das mit Algen experimentiere. «Ähnlich wie Erdöl», meint er, und ich nicke, ohne zu wissen, was er meint, während der Partner der Tochter genervt meint, dass er Anxiety bekomme, wenn er nicht bald an seiner Musik arbeiten könne, ein kleiner Hund zwischen seinen Beinen, der aussieht wie einer dieser teuren Steiff-Teddy-Bären. Eigentlich sind im Hotel keine Hunde erlaubt, aber was soll’s, sind halt treue Kund*innen, da duzt man sich und strahlt, und als ich der Gastgeberin von diesem einen Fenster in unserem Zimmer erzähle, in dem eine Scheibe fehlt, weshalb es in der Nacht ganz schön zieht, wird das Strahlen irgendwie ein wenig kühl.
Beim Abstieg denke ich darüber nach, wieso wir uns alle nach Einfachheit in den Bergen sehnen, nach Abgeschiedenheit, aber schon geschmackvoll bitte, schon so ein wenig exklusiv. Damals in den SAC-Hütten gab es keine Exklusivität und die einzigen Yuppies waren wohl wir.
Es bleibt bei der Terrihütte und der Motterasciohütte. Ich muss Niederlage bekennen, die weisse Fahne hissen. Der Hüftbeuger wird auch am zweiten Tag nicht besser, weshalb ich zum Frühstück irgendetwas vom Hüttenwart bekomme, ich weiss nicht genau was. Ich tippe aber auf ein Muskelrelaxans, das nicht nur meinen Hüftbeuger entspannt, sondern so ziemlich alles, was es zu entspannen gibt, was mit einer Tasse Kaffee keine gute Kombination ergibt. Das und die besetzten WCs lassen mich im Nachgang meine Hose im Spülbecken auswaschen, aber es gibt eben auf den Hütten im Sommer fast kein Wasser mehr. Klimawärmung gibt’s ja doch auch in den Schweizer Bergen, man glaubt’s fast nicht, obwohl man immer wieder vom Gletscherschwund liest und trotzdem die naive Überzeugung besitzt, ja, bei uns im transalpinen Raum, ja, für uns geht es sich schon aus (so würden es die Österreicher*innen zumindest bezeichnen und mir fällt kein Äquivalent im Schweizerdeutschen ein). Also für mich ist es diesen Morgen so ganz und gar nicht ausgegangen. Die Hose, im Brunnen ausgewaschen, hängt jetzt schlapp an meinem grünen Rucksack, mit dem wir bereits früher immer wandern waren, nur war er früher auf den Rücken meines Vaters geschnallt und jetzt hängt da ein nasses Etwas, ausgewrungene Überreste meiner Würde, und der Versuch, dich mit meinen Wanderskills zu beeindrucken, ist buchstäblich in die Hose gegangen.

Heute im Südtirol in den Fanes-Alpen ripschen meine Blasen immer noch, denn wie es scheint, habe ich nichts aus der Vergangenheit gelernt, immer noch keine eigenen Wanderschuhe gekauft und mich wieder in die Wanderschuhe meiner Mutter gezwängt. Ich gehe im Zickzack, tackatacka, immer bedacht darauf, dass der Aufprall sich nicht ganz so sehr auf meine Zehen konzentriert. Ich stütze mich an deiner Schulter ab und auch heute haben wir fast 1000 Höhenmeter zurückgelegt und auch heute habe ich, ohne mit der Wimper zu zucken, gesagt: «Ja, das geht locker, ich bin doch eine Gämse, über Stock und Stein», wie damals mit meinen Eltern, als wir immer in die Berge fuhren und da sechs Stunden wanderten, manchmal acht, bis mir meine Beine beim Heruntergehen fast wegknickten und die Knie meiner Mutter wegen ihrer kaputten Kreuzbänder zu schmerzen anfingen. Auch heute habe ich nichts gelernt, und die kindliche Vorstellung, dass ich immer ein Wanderprofi sein werde, egal wie lange ich es nicht mehr gemacht habe, hält an und alles ist vergessen, sobald man einkehrt, die Schnürsenkel gelockert werden, der Kaiserschmarren bestellt ist und man die blauen Flecken auf den Zehennägeln erst am nächsten Tag in Augenschein nehmen kann und sich dann verspricht: «Nächstes Mal kaufe ich mir grössere Wanderschuhe, vielleicht sehe ich es dann ein, dass ich doch eine 43 brauche.»
19. September 2025