Bräuche dienen der Identitätsstiftung einer Gemeinschaft oder einem Land. Sie widerspiegeln die Gesellschaft und deren Werte. Während einige Bräuche und Traditionen an einen unterhaltsamen und schönen Hintergedanken gehängt sind, könnten andere doch wieder einmal überdenkt werden.
Bräuche und Traditionen vereinen die Menschen und zeitgleich trennen sie sie. Über Traditionen zu diskutieren oder sie gar in Frage zu stellen, stösst vielerorts auf Unverständnis. Ist es die Angst des Machtverlusts oder einfach die Naivität, die sich gegen die Infragestellung gewisser Traditionen und Bräuche sträubt?
Dass wir nur anhand der Vergangenheit eine passende Zukunft formen können, ist klar. Traditionen und Bräuche sind alles in allem etwas Schönes, denn sie ehren Mensch, Gemeinschaft und Geschichte. Sie sind eine Flucht aus dem Alltag in eine andere Zeit, in ein anderes Leben oder einfach eine unterhaltsame Abwechslung.
Das Bedürfnis, so sehr an vergangenen Ritualen festzuhalten, wenn sich unsere Vorstellungen, Normen und Werte doch stets fortbewegen, finde ich faszinierend und zum Teil auch ein wenig befremdlich. Wie können wir uns als fortschrittlich bezeichnen, wenn uns die Vergangenheit noch in diesem Ausmass prägt? Wir nehmen einige der Schweizer Bräuche genauer unter die Lupe.
Alpaufzug und Alpabzug
Der Alpaufzug sowie der Alpabzug ist vielerorts einfach ein halbjährlicher Teil des normalen Arbeitsablaufs, während er in anderen Schweizer Gebieten richtig zelebriert wird. Im Sommer strömen die Älpler:innen und ihre Kühe die Alpen hinauf, wo sie die warme Jahreszeit über bleiben. Meistens geschieht dies in den frühen Morgenstunden. Wer dabei sein will, muss also früh aus den Federn. Im Spätsommer kehren sie dann alle wieder ins Tal zurück, was mit Sang und Klang geschieht. Das Vieh, mit schellenden Glocken um den Hals, die durchs Tal hallen, und die Älpler:innen in farbenfrohen Trachten, werden von einer freudigen Zuschauermenge begleitet. Die Kühe sind mit bunten Blumen und Bändern geschmückt, und der Alpabzug wird mit festlichem Essen und Trinken abgerundet.
Geschichte:
Die jahrhundertealte Tradition des Alpabzuges feiert die erfolgreiche Saison auf den Alpen, die idealerweise ohne Unfall und Verlust zutage ging. Das Vieh wird über den Sommer hoch hinauf getrieben, um dort von den grünen saftigen Wiesen Gebrauch zu machen. Ist die Saison zu Ende, pilgern die Tiere und Älpler:innen wieder das Tal hinunter.
Knabenschiessen
Am zweiten Wochenende im September findet in Zürich das Knabenschiessen statt. Wie der Name schon erraten lässt, handelt es sich dabei um jugendliche Jungs, die um den Titel des Schützenkönigs konkurrieren. Seit knapp 30 Jahren dürfen aber offiziell auch Mädchen am Wettbewerb teilnehmen und ihr Können als potentielle Schützenkönigin unter Beweis stellen. Die Teilnehmer:innen messen sich in einem Schiessturnier. Die Besten kommen in die nächste Runde, wo sie dann um den Titel kämpfen. Teilnehmen können alle in der Stadt Zürich wohnhaften Personen zwischen 13 und 17 Jahren.
Geschichte:
Früher hat das Knabenschiessen als militärische Waffenübung für Jungs gedient. Es wurde jeweils im September als Examen abgehalten. Als kleiner Ansporn wurde damals jährlich ein neuer Schützenkönig gekürt, was die Motivation aller erhöhen sollte. Das Knabenschiessen wird bis ins 17. Jahrhundert zurückgeführt. Seit 1899 wird das Knabenschiessen auf dem damals neu erbauten Schiessplatz Albisgüetli durchgeführt. Heute wird das Knabenschiessen von einer «Chilbi» begleitet.
Basler Fasnacht
Wenn in Basel die Flöten ertönen und die Menschen in ihren Gewändern durch die Strassen taumeln, ist es wieder Zeit für die Basler Fasnacht. Die Fasnacht beginnt am Montag nach dem Aschermittwoch mit dem Morgenstreich um 4 Uhr in der Früh. Von da an herrschen 3 Tage Ausnahmezustand. Guggenmusiker:innen ziehen durch die Strassen, verkleidete Menschen füllen die Stadt und überall gibt es etwas zu tun, zu sehen oder zu hören. Die Basler Fasnacht zählt sogar zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe.
Geschichte:
Die Fasnacht hat ihren Ursprung in der Fastenzeit vor Ostern. Der Brauch führt bis ins Mittelalter zurück, als Menschen während der Fastenzeit nur eine geringe Menge an Brot und Wasser oder Bier zu sich nehmen durften. Um davor nochmal so richtig auf den Deckel zu hauen, haben sich viele die Fasnacht zum letzten Abend vor der Fastenzeit gemacht, in der getrunken, gegessen und getanzt werden durfte, so viel das Herz begehrte. Auch diente die Fasnacht und die laute Musik der Austreibung des Winters. Die Fasnacht musste sich durch mehrere Verbote kämpfen, doch schaffte sie es irgendwie immer wieder zurück auf die Basler Strassen.
Sechseläuten
Sechseläuten ganz einfach erklärt: Am 3. Montag im April ziehen Zürcher Zünfte in ihren historischen Kostümen durch die Stadt. Abends wird dann auf dem Sechseläutenplatz der sogenannte «Böögg» im Kreise Schaulustiger verbrannt – die Gestalt eines Schneemanns aus Stroh und Holz. Je schneller er den Kopf verliert, desto besser wird das Wetter des darauffolgenden Sommers. Wieso das für manche absurd klingen mag verstehe ich – bei mir ist das nicht anders. Doch die Zuschauer freuen sich darüber und warten gespannt darauf, den Kopf des Schneemanns explodieren zu sehen.
Darüber, dass die Präsenz von Frauen und deren Aufgaben an dieser Tradition mehr als zu wünschen übrig lässt, müssen wir – hoffe ich – nicht diskutieren.
Geschichte:
Der «Böögg» und dessen Verbrennung haben den Ursprung im damaligen Zürcher Kratzquartier, dem Gebiet zwischen dem Fraumünster und dem Bürkliplatz. Damals hat jeweils das Sechseläuten der Zünfte sowie die Verbrennung des «Bööggs» durch die Quartier-Jungs am Tag der Tagundnachtgleiche zeitgleich, aber nicht miteinander, stattgefunden. Ende des 19. Jahrhunderts wurden dann die zwei Bräuche zu einem vereint. Jedes Jahr wurde der «Böögg» in einer anderen Gestalt auf dem Scheiterhaufen verbrannt, mal um den Winter zu vertreiben, mal um die Pest auszurotten. Seit knapp 30 Jahren hat er nun die Gestalt des Schneemanns.
Samichlaus und Schmutzli
Jede:r kennt das heiss umstrittene Duo vom Samichlaus und dem Schmutzli. Es ist der Inbegriff von Gut und Böse, der unsere Kindheit prägte – zumindest jeweils einen Monat im Jahr davon. Der Samichlaus bringt einem Geschenke und liebe Worte, während er den Kindern erzählt, was sie dieses Jahr besonders super gemacht haben. Der Schmutzli fokussiert sich da eher auf die negativen Ereignisse und Verhaltensweisen der Kinder. Dass er böse und gemein zu den Kindern ist, wird aber schon lange nicht mehr geduldet. Viel mehr soll er als Mahnfigur dienen und Pendant zum guten Samichlaus sein. Die Meinungen über die Gestalt des Schmutzlis spalten sich. Wo es mancherorts keinen Schmutzli mehr in Form von schwarzem Gewand und schwarz angemaltem Gesicht gibt, besteht andernorts immer noch grosses Bedürfnis danach.
Geschichte:
Der Samichlaus ist bis in die ersten Jahrhunderte des Christentums zurückzuführen. Damals war der Heilige Nikolaus von Myra ein sehr beliebter Bischof, der sich für die Benachteiligten einsetzte. Er soll damals Kindern und benachteiligten Familien Geschenke vor die Tür und Fenster gelegt haben. Daraus entstand dann auch der heutige Brauch des Samichlaus.
Oft wird bei uns in der Schweiz erzählt, dass der Samichlaus mit seinen Geschenken auf dem Weg durch den Wald auf den Schmutzli getroffen ist und sie seither gemeinsam Sache machen. Wo der Schmutzli früher noch der Inbegriff des Bösen war, ist er heute einfach der etwas genervte und mürrische Gehilfe vom Samichlaus.
L’Escalade Genf
An der jährlichen Escalade de Genève, vom 11. auf den 12. Dezember, wird die erfolgreiche Verteidigung von Genf gegen die Savoyarden im Jahr 1602 gefeiert. Mit einem Nachtumzug durch die Stadt und vielen historischen Programmpunkten fühlt man sich schnell ins 17. Jahrhundert zurückversetzt. Die ganze Stadt wird zum mittelalterlichen Schauplatz, wo sich zum Schluss alle Zuschauer:innen und Teilnehmer:innen vor dem grossen Freudenfeuer treffen, um den Sieg von damals zu feiern.
Geschichte:
In den frühen Morgenstunden am 12. Dezember 1602 griffen die Savoyarden die Stadt Genf an. Mit Leitern erklommen sie die Stadtmauern Genfs – daher auch der Name des Festes. Der Herzog von Savoyen wollte so die Herrschaft der Stadt erlangen und sie unter die französische Herrschaft bringen. Doch die Bewohner von Genf verteidigten ihre Stadt mit Bravour. Einer Legende zufolge soll eine Frau namens Madame Royaume einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung geleistet haben. Sie soll einen gusseisernen Topf samt Suppe über die Mauer geworfen haben, um die Angreifer davon abzuhalten, über die Stadtmauern zu klettern. Noch heute ist der Kochtopf ein grosses Symbol für den Sieg und die willensstarken Bürger:innen von damals. An diesem geschichtsträchtigen Tag werden Töpfe aus Schokolade zuhause unter Familien und Freunden zerschlagen, aus dem dann kleines Marzipangemüse fällt.
Schwingen / Schwingfest
Der Schweizer Nationalsport Schwingen ist eine Form des Zweikampfs, indem das Gegenüber mit Schwüngen fair zu Boden gebracht werden muss. Die daraus resultierenden Schwingfeste haben sich über die Jahre zu populären Grossanlässen entwickelt, die sich an einem grossen gesellschaftlichen und traditionellen Interesse erfreuen dürfen. Auch Frauen praktizieren heute die Sportart, was nicht immer so war.
Im Leitbild des Eidgenössischen Schwingerverbands heisst es:
«Das Schwingen ist geprägt von gegenseitigem Respekt und Achtung. Dabei bildet die Kameradschaft einen unabdingbaren Grundstein und wird dementsprechend gepflegt…Wir sind politisch und konfessionell neutral und stehen für alle Schwingbegeisterten offen.» «Auch wenn in der Schwingkultur die Tradition einen hohen Stellenwert hat, wollen wir offen sein für Neues und fördern somit einen zeitgemässen Schwingsport.»
Geschichte:
Wie lange das Schwingen in der Schweiz als Sportart praktiziert wird, kann nicht nachgewiesen werden, es wird aber vermutet, dass der Sport bis ins 10. Jahrhundert zurückzuführen ist. Was früher eher ein Kräftemessen ohne jegliche Regeln war, hat sich inzwischen zu einer beliebten Sportart entwickelt. Im Jahre 1895 fand dann das erste Eidgenössische Schwing- und Älplerfest in Biel statt. Seither ist uns die Tradition erhalten geblieben und erfreut immer mehr Menschen.
Es ist schön, Dinge aus der Vergangenheit zu ehren und auch dankbar sein zu dürfen, dass wir uns entwickelt haben. Doch ebenfalls ist es schön, neue Traditionen willkommen zu heissen und ein, zwei alte vielleicht mal etwas zu überdenken.
08. August 2022