Bräuche und Traditionen dienen der Identitätsstiftung einer Gemeinschaft oder eines Landes; sie sollen dessen Werte widerspiegeln. Doch sie vereinen die Menschen und trennen sie gleichzeitig.
Einerseits sind sie etwas Schönes, denn sie ehren Mensch, Gemeinschaft und Geschichte. Sie sind eine Flucht aus dem Alltag in eine andere Zeit, in ein anderes Leben oder einfach eine unterhaltsame Abwechslung. Andererseits stösst das Infragestellen der Daseinsberechtigung mancher Traditionen vielerorts auf Unverständnis. Wie können wir uns als fortschrittlich bezeichnen, wenn uns die Vergangenheit noch in diesem Ausmass prägt? Das Bedürfnis, so sehr an vergangenen Ritualen festzuhalten, wenn sich unsere Vorstellungen, Normen und Werte doch stets fortbewegen, ist faszinierend und zum Teil auch ein wenig befremdlich.
Während einige Traditionen mit einem unterhaltsamen oder schönen Hintergedanken verknüpft sind, könnten andere durchaus einmal überdacht werden. Wir nehmen einige der Schweizer Bräuche genauer unter die Lupe.
Alpaufzug und Alpabzug
Der Alpaufzug sowie der -abzug ist vielerorts einfach ein Teil des normalen Arbeitsalltags, während er in anderen Schweizer Gebieten richtig zelebriert wird. Im Sommer strömen die Älpler:innen mit ihren Kühen die Alpen hinauf, wo sie die warme Jahreszeit über bleiben. Meistens geschieht dies in den frühen Morgenstunden. Wer dabei sein will, muss also früh aus den Federn. Im Spätsommer kehren sie dann alle mit Sang und Klang wieder ins Tal zurück. Das Vieh, mit schellenden Glocken um den Hals, deren Klingeln durchs Tal hallt, und die Älpler:innen in farbenfrohen Trachten werden von freudigen Zuschauer:innen begleitet. Die Kühe sind mit bunten Blumen und Bändern geschmückt, und der Alpabzug wird mit festlichem Essen und Trinken abgerundet.
Geschichte:
Die jahrhundertealte Tradition des Alpabzuges feiert den erfolgreichen Saisonabschluss auf den Alpen, die idealerweise ohne Unfall und Verlust verlief.
Knabenschiessen
Am zweiten Wochenende im September findet in Zürich das Knabenschiessen statt. Wie der Name schon erahnen lässt, handelt es sich dabei um jugendliche Jungs, die um den Titel des Schützenkönigs konkurrieren. Seit knapp 30 Jahren dürfen aber offiziell auch Mädchen am Wettbewerb teilnehmen und ihr Können als potentielle Schützenkönigin unter Beweis stellen. Die Teilnehmer:innen messen sich in einem Schiessturnier. Die Besten kommen in die nächste Runde. Teilnehmen können alle in der Stadt Zürich wohnhaften Personen zwischen 13 und 17 Jahren.
Geschichte:
Früher hat das Knabenschiessen als militärische Waffenübung für Jungs gedient. Es wurde jeweils im September als Examen abgehalten. Um die Motivation zu erhöhen, wurde jährlich ein neuer Schützenkönig gekürt. Der Ursprung des Knabenschiessens liegt im 17. Jahrhundert; seit 1899 wird das Event auf dem damals neu erbauten Schiessplatz Albisgüetli durchgeführt. Heute wird das Knabenschiessen von einer «Chilbi» begleitet.
Basler Fasnacht
Wenn in Basel die Flöten ertönen und die Menschen in ihren Gewändern durch die Strassen taumeln, ist es wieder Zeit für die Basler Fasnacht. Die Fasnacht beginnt am Montag nach dem Aschermittwoch mit dem Morgenstreich um 4 Uhr in der Früh. Von da an herrschen 3 Tage Ausnahmezustand. Guggenmusiker:innen ziehen durch die Strassen, verkleidete Menschen füllen die Stadt und überall gibt es etwas zu tun, zu sehen oder zu hören. Die Basler Fasnacht zählt sogar zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe.
Geschichte:
Die Fasnacht hat ihren Ursprung in der Fastenzeit vor Ostern. Der Brauch führt bis ins Mittelalter zurück, als Menschen während der Fastenzeit nur eine geringe Menge an Brot und Wasser oder Bier zu sich nehmen durften. Um davor nochmal so richtig auf den Putz zu hauen, wurde in der Fasnacht, der letzten Nacht vor der Fastenzeit, getrunken, gegessen und getanzt, so viel das Herz begehrte. Auch dienten die Fasnacht und die laute Musik der Austreibung des Winters. Die Fasnacht musste sich durch mehrere Verbote kämpfen, doch schaffte sie es irgendwie immer wieder zurück auf die Basler Strassen.
Sechseläuten
Sechseläuten ganz einfach erklärt: Am 3. Montag im April ziehen die Zürcher Zünfte in ihren historischen Kostümen durch die Stadt. Abends wird dann auf dem Sechseläutenplatz der sogenannte «Böögg» – ein Schneemann aus Stroh und Holz – im Kreise Schaulustiger verbrannt. Je schneller er den Kopf verliert, desto besser wird das Wetter im darauffolgenden Sommer. Für manch eine:n mag das absurd klingen, doch die Zuschauer:innen freuen sich und warten gespannt darauf, den Kopf des Schneemanns explodieren zu sehen.
Darüber, dass die Präsenz von Frauen und deren Beteiligung an dieser Tradition mehr als zu wünschen übrig lässt, müssen wir – hoffe ich – nicht diskutieren.
Geschichte:
Der «Böögg» und dessen Verbrennung haben den Ursprung im damaligen Zürcher Kratzquartier, dem Gebiet zwischen dem Fraumünster und dem Bürkliplatz. Damals fanden das Sechseläuten der Zünfte und die Verbrennung des «Bööggs» durch die Quartier-Jungs am Tag der Tagundnachtgleiche zeitgleich aber unabhängig voneinander statt. Ende des 19. Jahrhunderts wurden dann die zwei Bräuche zu einem gemacht. Jedes Jahr wurde der «Böögg» in einer anderen Gestalt auf dem Scheiterhaufen verbrannt, mal um den Winter zu vertreiben, mal um die Pest auszurotten. Seit knapp 30 Jahren hat er nun die Gestalt des Schneemanns.
Samichlaus und Schmutzli
Jede:r kennt das heiss umstrittene Duo von Samichlaus und Schmutzli. Es ist der Inbegriff von Gut und Böse, der unsere Kindheit prägte – zumindest für einen Monat im Jahr. Der Samichlaus bringt Geschenke und liebe Worte, während er den Kindern erzählt, was sie dieses Jahr besonders gut gemacht haben. Der Schmutzli fokussiert sich eher auf die negativen Ereignisse und Verhaltensweisen der Kinder. Dass er böse und gemein zu ihnen ist, wird aber schon lang nicht mehr geduldet. Vielmehr soll er als Mahnfigur dienen und als Pendant zum guten Samichlaus. Die Meinungen über die Gestalt des Schmutzlis spalten sich: Viele finden den Schmutzli mit schwarzem Gewand und schwarz angemaltem Gesicht nicht mehr zeitgemäss, andernorts besteht nach wie vor ein grosses Bedürfnis danach.
Geschichte:
Der Samichlaus ist bis in die ersten Jahrhunderte des Christentums zurückzuführen. Damals war der Heilige Nikolaus von Myra ein sehr beliebter Bischof, der sich für die Benachteiligten einsetzte. Er soll damals Kindern und benachteiligten Familien Geschenke vor die Tür gelegt haben. Daraus entstand dann auch der heutige Brauch des Samichlaus.
Oft wird bei uns in der Schweiz erzählt, dass der Samichlaus mit seinen Geschenken auf dem Weg durch den Wald auf den Schmutzli getroffen ist und sie seither gemeinsam Sache machen. Wo der Schmutzli früher noch der Inbegriff des Bösen war, ist er heute einfach der etwas genervte und mürrische Gehilfe vom Samichlaus.
L’Escalade Genf
An der jährlichen Escalade de Genève vom 11. auf den 12. Dezember wird die erfolgreiche Verteidigung von Genf gegen die Savoyarden im Jahr 1602 gefeiert. Mit einem Nachtumzug durch die Stadt und vielen historischen Programmpunkten fühlt man sich schnell ins 17. Jahrhundert zurückversetzt. Genf wird zum mittelalterlichen Schauplatz, wo zum Schluss alle Zuschauer:innen und Teilnehmer:innen vor dem grossen Freudenfeuer zusammenkommen.
Geschichte:
In den frühen Morgenstunden am 12. Dezember 1602 griffen die Savoyarden die Stadt Genf an. Mit Leitern erklommen sie die Stadtmauern – daher auch der Name des Festes. Der Herzog von Savoyen wollte so die Herrschaft über die Stadt erlangen und sie unter französische Herrschaft bringen. Doch die Bewohner:innen von Genf verteidigten ihre Stadt mit Bravour. Einer Legende zufolge soll eine Frau namens Madame Royaume einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung geleistet haben. Sie habe einen gusseisernen Topf samt Suppe über die Mauer geworfen, um die Angreifer davon abzuhalten, darüber zu klettern. Noch heute ist der Kochtopf ein Symbol für den Sieg und die willensstarken Bürger:innen von damals; Töpfe aus Schokolade werden zuhause von Familie und Freund:innen zerschlagen, aus denen dann kleines Marzipangemüse fällt.
Schwingen / Schwingfest
Der Schweizer Nationalsport Schwingen ist eine Form des Zweikampfs, bei dem das Gegenüber mit Schwüngen fair zu Boden gebracht werden muss. Die daraus resultierenden Schwingfeste haben sich über die Jahre zu populären Grossanlässen entwickelt. Auch Frauen praktizieren heute die Sportart, was nicht immer so war.
Im Leitbild des Eidgenössischen Schwingerverbands heisst es:
«Das Schwingen ist geprägt von gegenseitigem Respekt und Achtung. Dabei bildet die Kameradschaft einen unabdingbaren Grundstein und wird dementsprechend gepflegt […] Wir sind politisch und konfessionell neutral und stehen für alle Schwingbegeisterten offen.»
«Auch wenn in der Schwingkultur die Tradition einen hohen Stellenwert hat, wollen wir offen sein für Neues und fördern somit einen zeitgemässen Schwingsport.»
Geschichte:
Wie lange das Schwingen in der Schweiz als Sportart praktiziert wird, ist nicht genau nachweisbar, es wird aber vermutet, dass der Ursprung des Sport bis ins 10. Jahrhundert zurückzuführen ist. Was früher eher ein Kräftemessen ohne jegliche Regeln war, hat sich inzwischen zu einer beliebten Sportart entwickelt. Im Jahre 1895 fand dann das erste Eidgenössische Schwing- und Älplerfest in Biel statt. Seither ist die Tradition erhalten geblieben und erfreut immer mehr Menschen.
Es ist schön, Vergangenes zu ehren und dafür dankbar zu sein, doch sollten wir offen sein für neue Traditionen und auch dafür, ein, zwei alte vielleicht mal zu überdenken.
08. August 2022
Weitere Artikel
Back: Symphonie des Lebens