Interview von Gastautorin Karolina Sarre
Die Jenischen bilden eine Minderheit, die ausserhalb der Schweiz nicht offiziell als solche anerkannt ist. Ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Lebensweise werden marginalisiert. Obwohl sie oft mit Sinti und Roma gleichgesetzt werden, sind die Jenischen ein hiesiges und eigenständiges Volk, das sich historisch durch eine nicht-sesshafte und reisende Lebensweise kennzeichnet. Heutzutage sind die Jenischen allerdings nicht mehr als «Fahrende» zu bezeichnen. Sie wurden oft von den Behörden gezwungen, sesshaft oder semi-nomadisch zu werden. An vielen Orten allerdings sind Jenische wiederum seit Gedenken sesshaft.
Um mehr Bewusstsein und Verständnis für jenische Menschen, ihre Lebensweise und ihre vielfältigen Geschichten zu schaffen, haben sich Andreas Müller, Simon Guy Fässler und Marcel Bächtiger der anspruchsvollen Aufgabe angenommen und einen einfühlsamen Film gedreht.
Wir haben die Macher von «Ruäch – eine Reise ins jenische Europa» zum Gespräch getroffen.
Wie seid ihr auf die jenische Lebensweise aufmerksam geworden?
Andreas: Ich arbeite schon lange an einem historischen Spielfilmprojekt, in dessen Zentrum eine jenische Frau steht, die vor 200 Jahren in einen Gerichtsprozess involviert war – Klara Wendel. So habe ich über viele Jahre hinweg immer wieder Jenische aufgesucht und recherchiert. Dabei habe ich jemanden kennengelernt, der eines Tages mit der Idee auf mich zu kam, einen aktuellen Film über Jenische zu drehen. 2014 kam es auf der kleinen Allmend in Bern zu einer Besetzung durch Jenische, die auf die mangelnden Stand- und Durchgangsplätze aufmerksam machen wollten. Als diese von der Polizei gewaltsam vertrieben, Kinder von ihren Eltern getrennt und dabei teilweise mit Nummern versehen wurden, rief er mich an und bat uns, das zu dokumentieren.
Der Impuls für den Start des Projekts kam also von aussen?
Andreas: Genau, ich wäre sonst nicht auf die Idee gekommen, weil ich wusste, wie schwierig es ist, den Zugang zu Jenischen zu finden. Es sind schon manche mit demselben Vorhaben gescheitert. Und wichtiger: Ich habe mir nicht anmassen wollen, dieses Thema aus eigener Initiative anzupacken, ohne Impuls von einem Jenischen. Mein Interesse für das Thema war aber riesig – nicht nur wegen der Recherche für den historischen Spielfilm.
Marcel: Ja, es war eine Art Einladung oder Ruf. Aber noch wichtiger war das Versprechen, uns Türen zu öffnen. Dadurch wurde es möglich, jenische Menschen zu Wort kommen zu lassen, die sonst nicht in den Medien auftreten, und jenische Geschichten zu erzählen, die man so noch nicht gehört hat.
Guy: Viele von ihnen suchen die Öffentlichkeit nicht und scheuen eher die Behörden.
Dazu gibt es noch eine aufschlussreiche Geschichte: Als wir das erste Mal in dieser Kneipe in Thusis waren – nur mit Block und Stift, ohne Kamera – glaubten sie uns nicht, dass wir wirklich einen Film machen wollten. Sie verspotteten uns ein bisschen: «Das könne ja jeder behaupten». Beim zweiten Besuch sind wir dann mit laufender Kamera rein und sie waren total offen: «Hey, ihr seid wieder da – und ihr macht jetzt wirklich den Film! Setzt euch zu uns».
Andreas: Wir waren an den Personen interessiert, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, und haben deshalb versucht, über verschiedene Wege Zugänge zu ihnen zu finden. Das war viel Arbeit. Wie eben zum Beispiel in Thusis, wo wir immer wieder in diese Kneipe gegangen sind.
Guy: Diese Konstante, dass wir immer wieder kommen, die Kontakte regelmässig pflegen, war sehr wichtig. So wurde auch klar, dass wir es ernst meinen und nicht die schnelle Berichterstattung suchen. In dem Bereich haben einige schlechte Erfahrungen gemacht. Viele von ihnen scheuen sich vor oberflächlichen TV-Beiträgen, weil diese nicht selten gegen sie verwendet werden.
Hattet ihr Probleme zu filmen? Gab es Jenische, die nicht wollten, dass ihr filmt?
Guy: Eine unserer Hauptfiguren wollte das zuerst nicht. Das hatte vor allem damit zu tun, dass wir uns zu Beginn nicht kannten. Wir konnten aber nach und nach Vertrauen aufbauen und mittlerweile sind wir gute Freunde.
Dieses Misstrauen kommt daher, dass manche Angst vor Eindringlingen haben, weil sie fürchten, dass ihnen wieder etwas weggenommen werden könnte. Vor allem die Freiheit, so zu leben wie sie wollen.
Andreas: Diese Angst ist omnipräsent. Die Jenischen haben ihre Berufsgeheimnisse oder üben Tätigkeiten auf ihre eigene Art aus und wollen das nicht preisgeben. Verständlicherweise wollen sie dabei nicht gefilmt werden. Es hat deshalb etwa vier Jahre gedauert, bis sich eine Situation ergab, wo wir das Alteisensammeln, die «Feraille» filmen konnten.
Habt ihr euch manchmal gefragt, ob ihr wie Schaulustige oder Eindringlinge seid?
Guy: Man überlegt sich natürlich immer, wie man eine Minderheit überhaupt dokumentieren kann, ohne eben nur mit der Kamera draufzuhalten. Uns war von Anfang an wichtig, dass wir nicht über den Zaun schauen, wie es zum Beispiel die Nachbar:innen von Jenischen oft getan haben. Wir haben sie etwas über die Jenischen gefragt und sie wussten nur, dass sie ab und an Feuer machen, und dass sie sich versammeln und Schwyzerörgeli spielen. Man hat gemerkt, sie würden nicht mit den Leuten in Kontakt treten und beobachten sie nur aus der Ferne – ein bisschen wie im Zoo. Und genau das wollten wir nicht. Aus diesem Grund haben wir anfangs auch keine Interviews geführt. Erst gegen Ende des Drehs haben wir solche Gespräche aufgezeichnet, weil sich eben manche Dinge nur über Sprache vermitteln lassen.
Andreas: Um diesen ethnografischen Blick, das Draufschauen, zu vermeiden, war es wichtig, dass wir selbst Teil des Films sind. Dass wir uns einbringen und uns ebenfalls exponieren. Dadurch wird der Film vielmehr zu einem Dokument unserer persönlichen Begegnungen auf dieser Reise. Es ist sowieso klar, dass wir nur Ausschnitte zeigen können und wollen – niemals ein repräsentatives Gesamtbild.
Marcel: Sicher waren wir auf eine gewisse Art neugierig, aber daran ist ja im Grunde nichts Negatives. Man interessiert sich für das Leben anderer Menschen, man will etwas erfahren. Und ihr, Andreas und Guy, habt das auch immer offen formuliert. Man muss dazu stehen, dass man neugierig ist. Das ist Teil der ganzen Geschichte.
Andreas: Und gleichzeitig möchte ich feststellen, dass Du auch einen ganz anderen Film hättest schneiden können, Marcel. Du hast bewusst keine voyeuristischen Ausschnitte gewählt. Und auch während des Drehs ging es immer darum, unsere Begegnungen und das, was wir gemeinsam erleben, ins Zentrum zu stellen. Isabelle, die Hauptfigur aus Annemasse, sagte beim Podiumsgespräch am Visions du Réel, dass für sie die Zusammenarbeit mit uns am Film keine Arbeit war, sondern eine Freundschaft, die über die Zeit entstanden ist.
Guy: Was wir vielleicht noch erläutern sollten – wir waren nicht mit dem Camper unterwegs, um unsere Protagonist:innen zu imitieren, von denen ohnehin viele eher sesshaft leben als reisend. Es war die günstigste und einfachste Variante. In einem nahen Hotel zu übernachten und jeden Tag anzureisen, wäre der falsche Weg gewesen. Wir wollten einfach nah an den Orten sein, wo jenische Menschen wohnen. Nach ein paar Wochen war es sogar manchmal ein seltsames Gefühl, in die eigenen vier Wände zurückzukehren (lacht).
Andreas: Wir sind ja meistens nicht mitgereist, sondern sind von Ort zu Ort gefahren und haben sie dort besucht. Die meisten sind sesshaft oder semi-nomadisch. Mit der Familie Duda aus Kärnten sind wir einmal durch Deutschland gefahren. Wir haben aber keineswegs die jenische Lebensweise praktiziert oder simuliert. Wir haben einfach zusammen eine Reise unternommen. Dieser Unterschied ist wirklich sehr wichtig. Das schwingt ja auch bei dem Wort «Ruäch» mit, das von einigen auch als der «Möchtegern-Jenische» verstanden wird.
Hattet ihr Vorurteile, denen ihr euch vielleicht vorher gar nicht bewusst wart?
Guy: Ich begann mich eher selbst zu hinterfragen, als ich lernte, dass manche Jenische nur halbtags arbeiten und den Rest der Zeit mit ihrer Familie verbringen. Das ist ein verlockender Entwurf. Spannend ist, dass unsere Gesellschaft langsam auf Ideen kommt, weniger zu arbeiten, während einige Jenische das schon lange leben – indem sie zum Beispiel ihre Fixkosten senken. Es ist diese Art von Freiheit, sich selbst die Zeit einteilen zu können. Jenische sind oft ihre eigenen Chef:innen, viele sind selbstständig.
Andreas: Für mich war es eher so, dass ich froh war, auf dieser Reise zu sein, wo ich die Stereotypen, die uns ja von kleinauf fortwährend eingetrichtert werden, nun endlich durch reale Bilder ersetzen konnte. Vor allem durch die persönlichen Begegnungen, die mir ganz andere Perspektiven anboten.
Marcel: Ich habe hauptsächlich die Vielfalt entdeckt. Auch jetzt wieder, an der Premiere am Vision du Réel in Nyon und am Podium, das wir anlässlich der Premiere veranstaltet haben. Es gibt so viele verschiedene Positionen, so viele verschiedene Lebensentwürfe, so viele verschiedene Charaktere. Die Medien – selbst wenn sie wohlwollend berichten oder erzählen – vermitteln meist ein ziemlich eindimensionales und am Ende auch klischiertes Bild der jenischen Kultur. Meine Erkenntnis war: Es ist alles viel breiter und diverser, als man mir vermittelt hat.
Habt ihr mit Behörden gesprochen, um die ganze Thematik aufzuarbeiten?
Guy: Nein, wir hatten eher organisatorisch mit ihnen zu tun. Wir wollten zum Beispiel nicht verpassen, wenn die Häuser gebaut werden, die ihnen schon lange versprochen wurden. Wir haben bemerkt, dass es gut war, regelmässig aufzukreuzen. Die Behörden wussten, dass wir filmen und alles dokumentieren – so konnten sie keinen Rückzieher machen und mussten ihre Versprechen einhalten. Es ist wichtig, dass wir diese Thematik in die Mehrheitsgesellschaft hineintragen.
Hat euch die Reise verändert?
Guy: Ja, sie hat Neugierde geweckt und mir einmal mehr gezeigt, dass es sich lohnt zu reisen und Menschen kennenzulernen – auf sie zuzugehen, um Vorurteile aktiv zu hinterfragen und Erwartungen zu überprüfen. Dass es besser ist, sich ein eigenes Bild zu machen, statt fremde Meinungen zu kopieren.
Wenn ihr noch einmal drehen würdet, was würdet ihr anders machen?
Guy: Ein bisschen schneller fertig werden vielleicht (lacht).
Andreas: In der Postproduktion hat mich bei jedem Betrachten vom Ruäch noch irgendwas gestört. Bei der Weltpremiere dachte ich zum ersten Mal, jetzt stimmt alles. Wir konnten sowieso nichts planen und am Ende kommt es immer anders. Wir hatten sehr viel Zeit zur Verfügung, das war wichtig. Es ist ein Gemeinschaftswerk. Ich könnte mir nicht vorstellen, wie wir es anders hätten realisieren können.
Die reguläre Kinopremiere feiert «Ruäch» am 31. August im Kino RiffRaff in Anwesenheit der Filmemacher. Vorher gibt es verschiedene Vorpremieren an Openair-Events mit Musik und Gesprächen, so zum Beispiel in Schwyz oder am Xenix Openair in Zürich. Weitere Infos unter ruaech.ch.
01. August 2023