Dieser Beitrag wurde von Cindy Ziegler verfasst und ist Teil der aktuellen Ausgabe «nass» des Internetmagazins «Zollfreilager».
Irgendwo tief in mir bin ich ein Kind geblieben.
Peter Maffay, «Ich wollte nie erwachsen sein»
Anfang der Nullerjahre freute ich mich vor allem über die gefüllten Supermarktregale in Deutschland, wo es so viele verschiedene Schokoladenaufstriche gab. Wegen einem lohnte sich die Fahrt von Rheinau in den Nachbarort besonders. Zweifarbig war er. Weiss und dunkelbraun. Zu Hause versuchte ich, die Schokocreme so auf das frische Brot zu schmieren, dass der weiss-braune Swirl erhalten blieb wie im Glas. Die Brotscheibe aber war noch warm und mein Vorhaben umso schwieriger. Die Schokolade zerlief, die zwei Farben mischten sich, und flossen über meine Hände und in die Mundwinkel.
Ich wollte nie erwachsen sein.
Das sang Tabaluga damals. Ich mochte ihn gern. Den Song, den kleinen grünen Drachen und die Spielshow, die wir samstags im Pyjama schauen durften.
Damals sprach niemand davon, dass ein Sommer zu heiss sein konnte. Wenn es Wasser und Wetter zuliessen, schwammen wir – mit farbigen Poolnudeln, grossen Reifen und einer noch grösseren Luftmatratze – im Rhein. Gleich beim Stollenausgang, wo die Strömung schön stark ist. Dort, wo der Fluss teilweise durch einen künstlichen Kanal unter dem Dorf –unter unserem Haus – geleitet wird. Dort benetzten wir uns und stiegen ein. Und erst viel später wieder aus. Wenn wir uns in der Sonne aufgewärmt hatten, kühlten wir uns im Wasser wieder ab. Ab und zu kitzelten uns kleine Fische an den Füssen oder wir gerieten in einen Wasserstrudel. Hexen nannten wir solche. Ich stellte mir immer eine alte, warzige Frau mit Meerjungfrauenflosse vor, die sich einen Spass daraus machte, nach uns zu greifen. Das Schwimmen, das Gleiten, fühlte sich magisch an. Oft träumte ich auch einfach vor mich hin. Auf der Luftmatratze liegend, die Haarspitzen im Wasser, die Augen geschlossen und die Sonne wärmend im Gesicht. Der Rhein spülte alle Gedanken an den Alltag weg.
Damals gab es Winter, die waren noch kalt. Wir hatten wochenlang Zeit, um Schneemänner zu bauen und sie dann wieder umzutreten. Wir schlittelten über selbstgebaute Schanzen und machten so viele Schneeengel, dass wir sie nicht mehr zählen konnten. Wenn es mal richtig kalt war, konnten wir rund um die Klosterinsel, wo der Fluss fast stillsteht, über das Wasser gehen. Diese Zeiten, wo der Rhein zufror, waren unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich toll. Doch der Rhein ist schon lange nicht mehr gefroren.
Irgendwo tief in mir bin ich ein Kind geblieben.
Mama mochte es nicht, wenn wir unbeaufsichtigt am Rhein waren. Und wenn wir dort badeten, noch viel weniger. Als Kind hat mich das genervt, heute bin ich beeindruckt, dass sie es ausgehalten hat, uns am Rhein aufwachsen zu sehen. Ganz anders mein Papa. Mit ihm stand ich oft am Ufer und er zeigte mir, wo er erwachsen geworden war. Wo er schwimmen gelernt hatte. Wo er zum ersten Mal an ein Mädchen dachte. Und wo er sich vor Grossmama und Grosspapa versteckte, um zu rauchen.
Der Rhein ist auch für mich Zuhause. Ich fühle mich fest umarmt vom grünen Nass, immer behütet. Der Rhein ist Zuneigung, Wärme und ganz viel Liebe. Reine Momente. Aber der Fluss ist auch Grenze. Klare Trennlinie zwischen uns und den anderen. Und ich dazwischen. Ich besitze zwei Pässe und könnte ebenso in Deutschland leben wie in der Schweiz. Als Kind sah ich an der Grenze nichts Trennendes.
Zu spät.
Erst dann, wenn ich’s nicht mehr spüren kann
Weiss ich, es ist für mich zu spät.
Heute kann ich keine Grenze überqueren, und schon gar nicht die zwischen Deutschland und der Schweiz, ohne aktiv darüber nachzudenken. Ich lese die Nachrichten, lese von politischen Entscheiden in Deutschland und fühle mich seltsam unbeteiligt. Mich überkommt dann oft ein schlechtes Gewissen, meine doppelte Identität nicht genügend wertzuschätzen. Mich zu wenig auszukennen. Und doch bin ich sofort emotional involviert, wenn jemand einen Witz über das Land meiner Mutter – das eben irgendwie auch meines ist – macht.
Die Grenze Schweiz-Deutschland ist menschengemacht, dasselbe gilt auch für den Rhein. Den Fluss, wie ich ihn als Kind kennengelernt habe, gäbe es ohne das Einwirken des Menschen gar nicht. Rheinau ist ein Dorf mit einer reichen Geschichte. Bis 1798 unterstand es der Klosterherrschaft. Der Besitz des Klosters erstreckte sich im Mittelalter links und rechts des Rheins, vom Untersee über den Klett- und Alpgau bis in den östlichen Schwarzwald. Der Standort an der Grenze und eingeklemmt vom Fluss war also schon damals wichtig. Und wurde es später noch viel mehr. In den 50er-Jahren gab es Initiativen gegen das Rheinau, in dem ich später aufwuchs: Das des Kraftwerks, der Turbinen und der Wehre. Bevor das Kraftwerk 1957 in Betrieb genommen wurde, richtete sich der Widerstand besonders gegen den Aufstau des Flusses zwischen dem Rheinfall und dem Kraftwerk Rheinau und der damit verbundenen Veränderung der Landschaft.
Diese Landschaft wurde zu meinem Rheinau. Die Menschen, die sich damals im Rheinaubund engagierten, wollten nicht, dass sich der Rhein ihrer Kindheit veränderte. Heute denke ich, wenn ich am Rheinufer stehe, dasselbe. Ich wünschte, ich könnte einfach wieder in die unbeschwerten Szenen von damals hineinspringen.
Der Fluss verändert sich nach wie vor. Heute wird er vielerorts renaturiert. Man baut Treppen in Kraftwerke, damit die Fische sie überwinden können. Aale beispielsweise schwimmen zum Laichen tausende Kilometer den Rhein hinab in die Nordsee. Und von dort in die Sargassosee. Doch viele von ihnen sterben, lange bevor sie gelaicht haben. Die Aale folgen der stärksten Strömung und werden in den Kraftwerkturbinen zerstückelt. In 20 bis 30 Jahren wird es den Aal wohl in europäischen Gewässern nicht mehr geben. Auch im Rhein nicht mehr. Durch Schweizer Flüsse und Seen schwimmen schon heute nur noch Aale, die dort eingesetzt wurden. All das lernte ich erst viel später. Ich erinnere mich an meinen deutschen Opa, der immer gern zum Fischen nach Rheinau kam. Er mochte die Aale, auch zum Essen. Manchmal sass ich auf seinem Schoss oder auf einem kleinen Hocker neben ihm, wenn er angelte. Wenn er einen Aal aus dem Wasser zog, ekelte ich mich, und wenn er ihn ass, umso mehr. Heute wünsche ich mir, mein Opa würde noch immer am Rhein fischen und Aale aus dem Wasser ziehen.
Das mit dem Erwachsenwerden ist so eine Sache. Die Pubertät baut nicht nur den Körper um, sondern vor allem den Kopf. Wir konservieren Momente wie in einem Glas. Wollen sie festhalten und von ihnen kosten, wenn sie längst zu Erinnerungen geworden sind. Als Kinder hatten wir eine Vorstellung von der Person, die wir mal sein würden. Wir lebten im Moment. Glückselig und todtraurig. Die Zeit verging langsam. Die Augenblicke flossen zäh dahin, wie das Wasser um die Klosterinsel. Mit jedem Jahr aber fliessen sie schneller. Und wir machen uns mehr Gedanken. Als sich mein erster Freund von mir trennte, dachte ich, ich würde nie wieder glücklich. Ich weinte in den Armen meiner Freundinnen. Wir sassen auf einem Bänkli am Rhein und meine salzigen Tränen mischten sich mit dem Flusswasser. Der erste Liebeskummer ging vorbei und der zweite auch. Irgendwann zog ich von Zuhause aus. An die Thur. Zwei Jahre lebte ich dort, danach war ich wieder am Rhein. Nun aber weit weg von den Orten, die meine Kindheit prägten.
Heute stimmt der Rhein mich eher nachdenklich. Wenn ich am kanalisierten Fluss in meiner neuen Heimat, dem Rheintal, entlangspaziere, bin ich melancholisch. Ich sehe die Natürlichkeit nicht mehr. Das reine Fliessen. Ich kann die Gedanken nicht abschütteln. Sie nicht einfach mit dem Wasser fortspülen wie damals auf der Luftmatratze. Ich sehe den Fluss, wie er im Sommer immer trockener wird. Ich spüre keine kleinen Fische mehr, wenn ich barfuss im Wasser stehe. Schon lange habe ich mich nicht mehr vor einem Aal, der auch eine Wasserschlange hätte sein können, erschrocken. Das Wasser war schon lange nicht mehr angenehm warm und auch schon lange nicht mehr wirklich kalt. Wenn ich heute an Grenzen denke, denke ich nicht an den zweifarbigen Schokoladenaufstrich, sondern an Ausgrenzung, an Grenzerfahrungen und an Abgrenzung. Ich denke an Krieg, an den Klimawandel und an fehlende Kompromisse. Die schlechten Nachrichten erreichen mich nicht in Wellen, sondern als Sturzflut.
Manchmal wünschte ich mir, ich könnte Peter Maffays Zeilen und meinem Kindheitshelden Tabaluga einfach zuhören und das Lied mitsummen, ohne zu verstehen.
Unten auf dem Meeres grund
Wo alles Leben ewig schweigt
Kann ich noch meineTräume sehen
Wie Luft, die aus der Tiefe steigt.
Die Strophen des Lieds erinnern mich an den Rhein. Wenn ich in den Fluss schaue, kommt mir das Leben ewig vor. Dann sehe ich mich in der Spiegelung. Nicht nur mein Spiegelbild, sondern alles, was ich war, bin und sein werde. Und ich sehe meinen Vater und seine Träume.
Ich gleite durch die Dunkelheit
Und warte auf das Morgenlicht.
Dann spiel‘ ich mit dem Sonnenstrahl
Der silbern sich im Wasser bricht.
Am Fluss kann ich nachdenken. Das ist schön, weil der Rhein den Gedanken Platz lässt. Aber es sind auch Momente, in denen mich Heimweh überkommt. Heimweh, das sich nicht mit dem Rhein heilen lässt. Es ist kein Heimweh nach einem Ort oder nach Familie. Ich glaube, es ist Sehnsucht nach Unbeschwertheit. Nach reinen Momenten. Nach dem Glauben, dass alles wieder gut wird. Nach dem Kind in mir.