Es war der Autor Arthur Schnitzler selbst, der seinem skandalösen «Reigen» ein Spielverbot bis 1982 belegt hat. Zu tief untersuchte das Stück wohl die Abgründe der menschlichen Psyche und die bürgerliche Sexmoral der damaligen Zeit.
Sex suchte man bei Yana Ross’ Inszenierung von Schnitzlers Reigen zwar vergebens auf der Bühne des Schauspielhauses Zürich, doch der nicht ganz angenehme Tauchgang in die Psyche blieb bestehen.
Insgesamt zehn renommierte Autor:innen der Gegenwart überschrieben Schnitzlers Stoff unter Yana Ross’ Regie für diese Inszenierung von Reigen. Es schrieben: Lydia Haider, Sofi Oksanen, Leïla Slimani, Sharon Dodua Otoo, Leif Randt, Mikhail Durnenkov, Hengameh Yaghoobifarah, Kata Wéber, Jonas Hassen Khemiri und Lukas Bärfuss. Jede Autorin und jeder Autor schrieb jeweils eine Szene ohne den Inhalt der Szenen der anderen Autor:innen zu kennen. Ein spannendes Experiment, das jedoch den roten Faden verschwinden lässt und man sich als Zuschauer:in immer wieder von vorne orientieren muss. Die Szenen sind so unterschiedlich wie ihre Autorinnen und Autoren selbst. So variieren sie auch in Originalität, Sprachlichkeit und Stärke.
Was in der Inszenierung verbindet ist, nebst dem Ort an dem sich alles abspielt; einem riesigen Luxusrestaurant, die Empörung. Empörung über eine Gesellschaft, der es an Menschlichkeit, Verständnis und Transparenz fehlt.
So spielt neben problematischen Thematiken wie Vergewaltigung, Unterdrückung oder Stalking auch der Krieg in Europa eine grosse Rolle. Besonders aufwühlend ist die Video-Szene des russischen Autors Mikhail Durnekov. Er hat seine Szene nach Beginn des Ukrainekriegs komplett neu geschrieben. Darin ruft ein Mann via Skype aus Moskau seine Eltern in Tomsk an, weil er ihnen mitteilen möchte, dass er mit seiner Frau und seinem Kind Russland verlassen wird. Die Mutter ist völlig empört über seine Entscheidung – denn es herrsche doch kein Krieg, das alles sei bloss eine «spezielle Militäroperation». Und überhaupt wolle er sie mit seinen Worten nur kränken. Die Szene hat zwar noch weniger mit Schnitzler zu tun als der Rest der Inszenierung, trifft mit ihrer Echtheit aber direkt ins Herz.
Eine ebenfalls emotionale Angelegenheit ist Lukas Bärfuss’ Abschlussszene für Eingeweihte. Die Szene ist etwas schwer zu verstehen und kann auf verschiedene Weisen interpretiert werden. Was jedoch klar ist, ist der Fakt, dass der Rohstoffhandel darin eine Rolle spielt. Kein Zufall; denn die Salzburger Festspiele, an denen Ross’ «Reigen» Premiere feierte, wurden bis vor Kurzem durch Solway, einem Bergbauunternehmen mit russischen Wurzeln, dem in Guatemala Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, unterstützt. Vor rund drei Monaten hat Yana Ross gemeinsam mit dem Schweizer Autor in einem offenen Brief die sofortige Trennung vom Sponsor gefordert. Viele Diskussionen später lösten die Festspiele schliesslich den «toxischen» Sponsorenvertrag auf.
Wer sich Yana Ross‘ «Reigen» im Schauspielhaus anschauen möchte, hat noch bis Ende Oktober die Gelegenheit dazu.
23. September 2022