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«Selbst im Tod gibt es noch ein Klassensystem» – Regisseure Alexander Tank und Tobias Scharnagl im Interview

«Only Ghosts in the Waves» ist der Titel des neuen Dokumentarfilms von Alexander Tank und Tobias Scharnagl. Ein Gespräch mit den beiden Regisseuren über ihren Film und die Folgen der restriktiven EU-Migrationspolitik.

Von Natacha Rothenbühler

Sommer auf Lampedusa. Das tiefblaue Meer glitzert. Bestechend schöne Bilder einer malerischen Mittelmeerinsel. Hier lebt Enrico Naso, der Bestatter von Lampedusa. Doch die Insel hat auch ein zweites Gesicht. Wegen seines Berufs kennt er die Schattenseiten der Insel wie kein anderer. Jeden Tag treffen geflüchtete Menschen auf der Insel ein. Seit 2014 starben laut UNHCR über 32’000 Menschen im Mittelmeer, viele davon vor Lampedusa. Wie hält Enrico Naso es aus, ständig mit dem Ertrinkungstod an der EU-Aussengrenze konfrontiert zu sein? Wie schafft er es, den namenlosen Toten ihre Würde zurückzugeben? Und was eint die Menschen auf Lampedusa?

Diesen Fragen gehen die Regisseure Alexander Tank und Tobias Scharnagl in ihrem Dokumentarfilm «Only Ghosts in the Waves» mit poetischen Bildern und Erzählungen verschiedener Inselbewohner*innen nach. Der Film feierte im April 2025 seine internationale Premiere am Dokumentarfilmfestival Visions du Réel in Nyon. Ich sprach mit den beiden Regisseuren über ihre Arbeit auf Lampedusa.

Ihr seid über einen Artikel in «Die Zeit» auf euren Protagonisten gestossen. Was hat euch daran gereizt, diese Geschichte als Film zu erzählen?

Tobias: Die Reportage in «Die Zeit» hatte einen anderen Fokus. Beim Lesen dachte ich mir aber, dass die Geschichte des Bestatters auf Lampedusa, der seit Jahren jeden Tag mit diesem Leid zu tun hat, sehr spannend sein könnte.

Alexander: Als wir unseren Protagonisten Enrico über Videocall kennenlernten, waren wir endgültig interessiert. Also sind wir das Risiko eingegangen und im Oktober 2023 nach Lampedusa gefahren. Vor Ort hat sich das Potenzial, das wir gesehen hatten, bestätigt.

Tobias, es war dein Regiedebüt an der Seite von Alex, der bereits ein paar Filme gedreht hat. Wie hat es sich angefühlt?

Tobias: Es war alles neu und extrem spannend. Ich hatte keine Ahnung vom Filmemachen und habe unglaublich viel gelernt von meinem Team. Wenn ich als Reporter arbeite, bin ich meistens allein. Hier war es das Gegenteil: Wir sassen in Lampedusa jeden Abend als ganze Crew zusammen, überlegten uns, wie der Film weitergehen soll, was wir noch brauchen, wie wir die nächsten Szenen drehen wollen. Das hat viel Spass gemacht.

Wie habt ihr die richtige Bildsprache gefunden?

Alexander: Ich konnte mit unserem Kameramann Fabio bereits kleinere Projekte umsetzen. Zwischen uns hat sich ein tiefes Verständnis für Bilder und Bildsprachen eingestellt. Für diesen Film liessen wir uns von der Natur und vom Leben auf Lampedusa inspirieren. Uns wurde klar, dass wir nicht in dieses reportagenhafte Hinterherjagen verfallen oder das Leid der Menschen inszenieren wollen.

Tobias: Genau, wir wollten es vermeiden, in die gleiche Kerbe zu hauen wie die Medien. Sobald auf Lampedusa etwas passiert, rennen alle für einen Tag dahin, dann sind sie wieder weg. Uns war klar, dass auf dieser Insel die Menschen seit vielen Jahren leben und schon lange damit konfrontiert sind, dass Geflüchtete ankommen. Sie gehen überhaupt nicht aufgeregt und sensationsheischend damit um, es ist einfach ihr Alltag. Wir haben versucht, uns dem durch ein ruhiges Erzähltempo und ruhige Bilder anzupassen.

Das 4:3-Format ist speziell für einen Kinofilm. Warum habt ihr euch dafür entschieden?

Alexander: Es war alles beklemmend – wir reden über Särge, wir reden über Tod. Das passte in dieses kleine Format. Fabio hat einen unglaublichen Job gemacht. Mit den wenigsten Mitteln so tolle Bilder zu generieren, das ist schon was.

Ihr habt viele persönliche Details des Protagonisten Enrico gefilmt, zum Beispiel seine Tattoos oder die Uhr. Warum war es euch wichtig, so viel von ihm zu zeigen?

Tobias: Wenn man leise erzählen will, muss man die Aufmerksamkeit auf die Details lenken. Das passiert fast automatisch.

Alexander: Sobald du viel Zeit mit einem Protagonisten verbringst, versuchst du als Filmemacher, ihn zu verstehen und manche Charakterzüge in Bilder zu übersetzen.

Seine Partnerin ist oft im Bild und unterstützt ihn bei seiner Arbeit – aber sie spricht nie. Warum?

Alexander: Sie wollte nicht sprechen, sondern im Hintergrund bleiben. Was sehr schade war, wir hätten es uns anders gewünscht. Eine weibliche Perspektive hätte dem Film gutgetan.

Tobias: Die Partnerin war sehr spannend. In einer Szene auf dem Friedhof wird sie dann doch aktiv und spricht vor der Kamera zu Enrico. Es war sehr amüsant, zu beobachten, welche Dynamik sich da auf einmal entwickelte.

Ich hatte damit gerechnet, dass ich im Film viele Gräber von geflüchteten Menschen sehe. Diese Bilder fehlten. Warum?

Alexander: Der Friedhof in Lampedusa ist seit einigen Jahren voll, deswegen konnten wir auch kein Begräbnis filmen. Die Särge werden aufs Festland verschifft und dort begraben. Aber es war schon ein bisschen dubios. Selbst auf dem Friedhof gab es eine Art Klassensystem. Die italienischen Bürger*innen haben pompöse Marmorgebäude als Gräber; für die geflüchteten Menschen gab es gefühlt selbstgezimmerte Kreuze aus Holzresten.

Tobias: Klar, woher sollen denn die Mittel kommen? Die sind anonym und elendig im Wasser gestorben. Niemand kennt sie oder ihre Familie.

Alexander: Wie Enrico im Film sagt: Es ist eine schwierige Aufgabe, den Verstorbenen ihre letzte Würde zu geben. Nicht nur von menschlicher Seite, sondern auch aus strukturellen Gründen. Das System lässt es nicht zu. Das ist hart für Enrico. Und es war auch hart für uns, das zu sehen. Wenn du die Kindersärge dort siehst, spürst du einen ganz speziellen Zorn auf die Welt.

Warum habt ihr den Epilog, in dem der Fischer vom Bootsunglück vor Lampedusa 2023 erzählt, an den Schluss gesetzt und nicht in die Erzählung eingewebt?

Alexander: Von der Filmlogik her sind wir bei Enricos Teil in einer Stimmung, die Schwere vermittelt, den Tod. Aber er hat nicht viele Handlungsoptionen, er muss die Leute bestatten, die auf und vor Lampedusa sterben. Das ist eine Art Passivität. Aber es gibt auch Menschen dort, die vom Passiven ins Aktive kommen und Menschen aus dem Wasser retten. Vitos Erzählung war so stark, wir waren sehr berührt. Es wäre ihm gegenüber nicht fair gewesen, das Gespräch rauszuschneiden. Gleichzeitig hatten wir nur einen Nachmittag mit ihm, dadurch konnten wir nicht so viel drehen. Uns war es wichtig, zu zeigen, dass die Menschlichkeit auf Lampedusa existiert. In den Medien wird gerne berichtet, dass sich die Lampedusani nicht um die geflüchteten Menschen scheren. Das stimmt nicht, deswegen wollten wir dieses Aufbegehren, das Retten erzählen.

Tobias: Wir mussten uns überlegen, ob wir sehr dunkel und sehr verzweifelt aufhören möchten oder eben mit diesem Aufbegehren. Es ist eine saudunkle und sautraurige Geschichte, aber wir wollten dennoch diesen Hoffnungsschimmer mitgeben. Das Interview mit Vito werde ich nie vergessen, wir alle haben geweint und uns in den Armen gelegen.

Alexander: Ja, das war prägend. Vitos Leben hat sich durch dieses Unglück komplett verändert. Er war ein Mensch, der täglich zur See gefahren ist und das Meer liebte. Jetzt kann er nicht mal mehr baden gehen. Natürlich ereilt die Menschen, die ertrinken, das allerschlimmste Schicksal. Aber die Begleiterscheinungen sind auch extrem. Kolonialistische Unterdrückungsstrukturen kommen mit einem Preis, mit Problemen nach innen. Wir wollten diesen Struggle zeigen, weil wir nicht die Menschen mit Fluchterfahrung sind. Ich bin ein weisser Hetero-Cis-Mann in Europa, privilegiert wie sonst was. Ich weiss nicht, ob ich es mir anmassen könnte, die Perspektive der Geflüchteten einzunehmen. Aber ich sehe, was in unserer Gesellschaft passiert, dass auch hier Menschen unter die Räder kommen.

Habt ihr den Titel so gewählt, weil das Gespräch mit Vito so prägend war? «Only Ghosts in the Waves» ist ein Zitat von ihm.

Alexander: Ja, es war ein starkes Bild, dass ein ehemaliger Fischer nicht mehr aufs Meer fahren kann, weil er in jeder Welle um Hilfe rufende Seelen sieht. Gleichzeitig sind für uns im westlich-globalen Norden diese Menschen leider oft nur Geister im Wasser, wir haben keinen direkten Bezug zu ihnen.

Tobias: Im Titel wollten wir auch die Mehrdeutigkeit des Wassers, des Meeres aufgreifen. Für uns als privilegierte Gruppe ist es mit Urlaub verbunden, mit Entspannung. Aber für viele andere Menschen ist das Meer eine Gefahr, ein Friedhof. Wir haben uns während des Drehs schon auch gefragt, wie es unter dem Wasser im Mittelmeer aussieht, mit all den Toten. Wenn ich darüber nachdenke, kriege ich Gänsehaut.

«Only Ghosts in the Waves»
69 min.
Regie: Alexander Tank und Tobias Scharnagl
Kamera: Fabio Tozzo
Schnitt: Benedikt Strick
Musik: Alban Schelbert

04. November 2025

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