Text und Bilder von Lennart Holste
Italien – der Sehnsuchtsort, in dem, so die Vorstellung, das Dolce Vita bei Pizza und Gelato gelebt wird. Von Palermo bis nach Mailand, von der Adria zur Riviera können jedes Jahr Millionen Tourist:innen ihre Alltagsidentität unter der gebräunten Urlaubsmaske verstecken. Auch mich zog es in den letzten Jahren immer wieder in das Land, das mir wie anderen als Projektionsfläche des lockeren Lebens dient. Dieses Jahr wollte ich dort erneut meinem Alltag von Lohnarbeit, Studium und psychischer Belastung entfliehen.
Konnte ich bei den letzten Besuchen die politische Realität des Alltags noch ausblenden, schiesst mir nun bei der Ankunft in Genua in den Kopf: Hier regiert eine Faschistin. Es gibt etliche Faschismusdefinitionen und sicherlich trifft gerade keine auf das gegenwärtige Italien zu. Trotzdem beschleicht mich ein unbehagliches Gefühl. Ich checke die letzten Meldungen: Die Grundsicherung wurde gestrichen, Seenotrettungsschiffe festgesetzt, eine europäische Militärmission zur Abwehr von Flüchtenden im Mittelmeer gefordert und gegen Homosexuelle gewettert.
Mein Blick ändert sich und ich fange an, diesen in Fotos festzuhalten. Ich meine überall Codes zu entdecken, die auf die rechte Regierung und ihre menschenfeindliche Politik hinweisen. Ich liege auf Sardinien am Strand und in dem Meer, in dem ich mich abkühle, kämpfen andere oft vergeblich ums Überleben. Ich reise mit wenig Geld, ohne Unterkunft ausser meinem Zelt – ein prekäres Leben auf Zeit. Wenn es heikel werden sollte, kann ich jederzeit wieder nach Deutschland in meine Wohnung, während andere dauerhaft ihr Zuhause wegen der gestrichenen Grundsicherung verlieren werden. Ich kaufe mir ein Ticket für die Fähre, gebe als Nationalität deutsch an und komme so bequem über das Mittelmeer auf das europäische Festland.
All diese Ungerechtigkeiten werden mir plakativ vor Augen geführt. Oft wird gefordert, die eigenen Privilegien zu reflektieren, aber was folgt daraus? Eine Ohnmacht überkommt mich, nichts an diesen Umständen ändern zu können. Ich kann demonstrieren, wählen oder Autos anzünden und nichts davon überwindet diese Ungerechtigkeiten, von denen ich nicht einmal betroffen bin.
11. November 2023