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«Parthenope» – eine neue Herangehensweise

An einem regnerischen Sonntag stolpere ich triefend nass in einen leeren Kinosaal und reise in vergangene Sommertage an die Mittelmeerküste von Neapel. Die neuste Spielfilmproduktion, das Coming-of-Age-Drama «Parthenope» (2024) von Paolo Sorrentino, überzeugt mit Tiefe, regt zum Nachdenken an, sprudelt vor Schönheit und spricht über eine lähmende Trauer, die alles zu verschlingen droht.

Von Lino Kalt

Vergangenheit und Gegenwart kreuzen sich auf der Leinwand, kämpfen und verhandeln miteinander. Ist eine gelebte Liebe vollkommen? Oder verschwindet sie, wenn man ihr nachgibt? Sorrentino rechnet ab. Mit seiner grossen Liebe, der Stadt Neapel. Und der katholischen Kirche. Ich fühle mich aufgehoben. Und meine Sorgen werden ganz klein.

Visuell ist «Parthenope» ein Meisterwerk. Dass die Schönheit in ironischer italienischer Manier dabei überspitzt dargestellt, stereotypisiert und in die Länge gezogen wird, muss berücksichtigt werden. Der Film wird für seine Fragmentiertheit der Handlung und Botschaft kritisiert. Dass «Parthenope» langweilig und nichtssagend sei, wird dem Episodenwerk, so finde ich, nicht gerecht. Die visuelle Sensation, die Aneinanderreihung speziell schön gerahmter Kameraeinstellungen, kann erlebt werden, ohne dass man dabei auf die Handlung achten müsste. Wer den Film nicht verstehen oder deuten kann, dem wird ein sich lohnender Kinobesuch nicht verwehrt. Dieser Fakt stellt für mich eine Qualität an sich dar.

Celeste Dalla Porta, Daniele Rienzo, Dario Aita Credit: Gianni Fiorito. Courtesy of A24.

Der Film erzählt uns die Lebensgeschichte von Parthenope, gespielt von Celeste Dalla Porta, in drei Teilen. Parthenopes aussergewöhnliche Schönheit macht sie schon in Jugendjahren zum Mittelpunkt der Bewunderung, doch während die Welt in ihr eine Muse sieht, sucht sie selbst nach einer eigenen Stimme. Ihr Bruder Raimondo entwickelt, wie alle in Parthenopes Umfeld, eine grosse Faszination für sie, eine stille Spannung, die sich wie ein unsichtbares Band durch ihr Leben zieht. Ein Sommer auf Capri im Jahr 1973 wird zu einem tragischen Wendepunkt: Ein Unglück spaltet die Familienkonstellation und stürzt Parthenope in eine tiefe Trauer. Ihre Augen verlieren den Glanz der Lebensfreude.

Als junge erwachsene Frau stürzt sie sich in die Welt des Wissens und der Kunst, schwankt zwischen der Wissenschaft der Anthropologie und der verlockenden «Grandezza» des Kinos. Begegnungen mit verblassten Leinwandikonen wie Flora Malva und Greta Cool zeigen ihr die Zerbrechlichkeit des Ruhms. Und sie beginnt, sich mit ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte ihrer Stadt auseinanderzusetzen. 

Jahrzehnte später kehrt Parthenope nach Neapel zurück. Die Stadt hat sich verändert, doch die Vergangenheit schimmert noch in ihren Strassen, ihren Fassaden, ihren Stimmen. Inmitten der Erinnerungen an ihre Jugend sucht sie nach Antworten – auf die Frage, was von ihr blieb, und der Konstruktion des Mythos, den andere aus ihrer Person gemacht haben.

Ein visuelles Feuerwerk

Der Film eröffnet mit einer weiten, panoramatischen Aufnahme von einer Kutsche, die auf einem Floss in Richtung Neapel verschifft wird. In der Ferne erkennen wir die Küstenlinie. Das Blau des Meeres kontrastiert mit dem weissen Leinenanzug des «Commandante». So was darf nur Sorrentino. So überrumpeln.

Der Film lässt seine ganze Spieldauer über in seiner gestalterischen Schönheit nicht nach. Im Gegenteil. Ironisch treibt der Film die Länge gewisser als gesellschaftlich schön kodierter Einstellungen, die vermeintlich aus einer «Raffaelo-Werbung» stammen könnten, auf die Spitze. Ein Kommentar. Die Anordnung von Kompars*innen, die das städtische Leben verkörpern, sich oft mit direktem Blick bewegend an die Zuschauer*innenschaft wenden und dabei gut getimte Einsätze in langen Kamerafahrten finden, wirkt äusserst originell. Sorrentino erfindet dabei die Surrealität in der überspitzten Schönheit für sich neu. Was auch neu ist: der vermehrte und prägnante Einsatz von CGI. Die Schönheit findet sich so auch in regelrechten Fieberträumen wieder. Aufwendige Computeranimationen finden prominenten Einzug in die pittoreske Szenerie Neapels.

Die Schönheit des Filmes liegt für mich in der Bildkomposition, in seinem Tempo, seinem Blocking und seinem Humor. Denn die Dialoge schaffen in emotional aufgeladenen und schwermütigen Stimmungslagen des Filmes Raum zum Atmen. Zynische Wortwechsel und Kommentare entlarven das Leben als brutalen Prozess eines «Auf und Ab» dem es manchmal eben zu trotzen gilt. Was wären wir ohne unsere Schicksalsschläge, ohne Identitätskrisen und gezeigte Reue für vergangene Entscheidungen? Sorrentino bewegt uns durch die Akteur*innen in seinem Film vor die Wahl zum oder gegen das Leben. Bewegt uns zum Diskurs über eine ehrliche Liebe. Gelebt oder ungelebt. Erwartet oder uneingetreten.

Celeste Dalla Porta Credit: Gianni Fiorito. Courtesy of A24.

Von Parthenope, der Liebe und dem nicht verstanden werden

Parthenope liebt in jungen Jahren ihr Leben und die Menschen an ihrer Seite bedingungslos. Diese Liebe, eine bedingungslose, darf sie selber aber nicht erfahren. Die Liebe der Anderen ist immer an Bedingungen geknüpft. In erster Linie an ihr Erscheinungsbild. Aber auch Besitzansprüche werden Parthenope gegenüber erhoben. Parthenope beginnt, sich vor der Liebe zu hüten, geniesst die Aufmerksamkeit, welche sie bekommt, wenn sie die Liebe ungelebt lässt. So fragt sie ihre Jugendliebe Sandrino (Dario Aita): «… findest du nicht, dass das Verlangen ein Mysterium und Sex seine Beerdigung ist?» Die Antwort kommt Jahre später: Parthenopes Jugendliebe und engster Vertrauter neben ihrem Bruder lässt sie in Napoli zurück, weil sie ihn nicht heiraten wollte. Parthenopes Liebe ist eine vergangene. Eine kindliche, bedingungslose, die sie so nicht mehr, nie mehr finden wird. Ihre Schönheit wird zur Obsession der Stadt und ihrer Menschen. Für ihre Eltern wird Parthenopes Art, Liebe geben und aufnehmen zu wollen, zum Ursprung des Verderbens anderer. Auch sie wenden sich von Parthenope ab. Was ihr nach einem üblen Schicksalsschlag bleibt, ist ihre Verbissenheit, ihre Stärke und ihre Intelligenz. Die Hoffnung und die Aussicht auf ein Leben voller Liebe sterben. Die Liebe wird zum Spiel. Beinahe zu einer Art Waffe für Parthenope. Liebe wird zum Krieg. Und die Ethnografie zur Waffe. Auf die Frage, was die Ethnografie überhaupt sei, bekommt sie von ihrem Professor Devoto Marotta (Silvio Orlando) jahrelang keine Antwort. Kurz bevor sie ihre eigene Professur antritt, erzählt ihr Marotta: «(…)Die Ethnografie ist die Kunst des Hinsehens. Keine Angst davor zu haben, hinzusehen(…)».

Garry Oldman, berühmt für seine Verkörperungen von Bösewichten, spielt den einsamen, in die Jahre gekommenen amerikanischen Schriftsteller John Cheever mit Alkoholproblem. Untypisch. In den Laken seines Hotelbettes riecht er die Liebesspiele vergangener Bekanntschaften. Oldman spielt authentisch und erstaunlich erfrischend. Über Melancholie zu sprechen ist hier erlaubt. Dies zieht auch Parthenope an. Oldman fungiert als Vorbote für Parthenopes Schicksal. Seine Erfahrung will er mit ihr teilen. Parthenope fühlt sich zum ersten Mal verstanden und gesehen. Mit Cheever möchte sie die Liebe teilen und erleben. Auf die Frage Parthenopes jedoch, ob sie ihn auf einem nächtlichen Spaziergang begleiten dürfe, erwidert Cheever: «Nein, weil ich nicht eine Minute deiner jugendlichen Schönheit stehlen will(…)».

Gary Oldman Credit: Gianni Fiorito. Courtesy of A24

Ode an Neapel, Abrechnung mit Tendenzen.

Wo ich «È stata la mano di Dio» (IT, 2021) noch als lobliederliche Hommage an Neapel auffassen durfte, verhandelt Sorrentino in «Parthenope» seine langjährige Beziehung zu seiner Heimatstadt mit härteren Bandagen. Nüchterner. Das filmische Porträt Neapels, mit unglaublich schönen Stadtbildern und Bildern ihrer Bewohner*innen ausgeschmückt, wirkt reifer. Es scheint, als hätte Sorrentino Distanz zu seiner eigenen Identität gewonnen. Kritik wird immer nur durch Symbolik, mithilfe von Platzhalter*innen, geübt. Poetisch ausgeschmückt, realistisch eingebettet. In das Narrativ und in das visuelle Setting. Und dies gelingt Sorrentino meisterhaft.

Thematisch aufgegriffen werden: die lähmende, unmögliche Ehe zwischen kommunalem Verwaltungsapparat und organisiertem Verbrechen; die Korruption, der nicht ausgewichen werden kann. Der Aberglaube, die Leichtgläubigkeit, die der Stadt und ihren Bewohner*innen dazu dient, jegliche Autonomie und Selbstverantwortung von sich zu weisen. Und die gesellschaftlich (und in Neapels Fall historischerweise kirchlich) kodierten Tabus, die Menschen in Misstrauen und Einsamkeit drängen können. Klar, was bei Sorrentino immer bleibt: die Schönheit im Elend. Hier kämpft man selbst ums «Verlieren». Und auch die Stereotypisierung muss man mit einer Prise Ironie geniessen. Wie immer bleibt an dem Witz der Aussage jedoch einiges an Wahrheit kleben.

In der einen Szene wendet sich die Diva Greta Cool auf einem Schiff an die High Society von Neapel, nachdem ihr eine Statue in ihrem Antlitz präsentiert wird. «Sehen Sie, das Problem ist nicht, dass diese Statue hässlich ist. Das Problem seid ihr Neapolitaner. Ihr seid deprimiert und ihr wisst es nicht. Ihr geht Arm in Arm mit dem Grauen und wisst es nicht. Ihr seid einfach schlampig und folkloristisch. Alle lachen über euch, und ihr merkt es nicht. Ihr rühmt euch, klug zu sein. Aber was habt ihr von all dieser Klugheit gewonnen? Ihr seid arm, feige, weinerlich und rückständig. Du stiehlst und handelst schlecht. Du bist immer bereit, das Kreuz auf jemand anderen zu werfen. Den Eindringling des Augenblicks, den korrupten Politiker, den skrupellosen Bauträger. Aber die Schande seid ihr selbst. (…)»

In anderen Szenen wird mit der Widersprüchlichkeit von gesellschaftlich ausgeübter und tolerierter Gewalt und mit einer fanatischen Glaubensblindheit der Stadtbewohner*innen abgerechnet. Hier wählt Sorrentino schockierende Motive: Um einen Familienstreit der Camorra beizulegen, werden zwei junge Erwachsene, Kinder der Familien, gezwungen, ein Kind zu zeugen. Zeremoniell findet der unfreiwillige Paarungsakt unter Zuschauenden statt. Oder: Heilige Uffizien werden als Körperschmuck in eine Akt-Szene zwischen Parthenope und dem Erzbischof und Kardinal von Neapel (Peppe Lanzetta) eingebunden, wohlgemerkt in einer Kirche, nachdem das Blut des heiligen St. Gennaro sich nicht erfolgreich verflüssigt hat.

Celeste Dalla Porta, Isabella Ferrari Credit: Gianni Fiorito. Courtesy of A24.

Dass gerade Stefania Sardelli die reife und ältere Parthenope verkörpert, scheint kein Zufall zu sein. Sardellis Karriere, beschäftigt man sich etwas mit ihrem Werdegang und ihrer Filmografie, beginnt mit 15 Jahren, nachdem sie bei einem Schönheitswettbewerb entdeckt wurde. In ihren Rollen wurde ihre Schönheit stets stark inszeniert. Als die Aufträge in den 80er-Jahren stagnierten, liess sie sich auf Erotikkomödien ein, um ihre Karriere wieder zum Leben zu erwecken. Sardelli kennt die Oberflächlichkeit der Industrie wohl gut. Und so endet Sorrentinos Schönheitsepos mit einer Nahaufnahme einer lächelnden, winkenden, reminiszierenden und zurückblickenden Sardelli als Parthenope.

Dass der Film bei uns nur in sehr wenigen Kinos gezeigt wird, ist unverständlich. Für mich ist Parthenope Sorrentinos bestes Werk bis dato.

02. April 2025

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