Ich blicke in den Spiegel. Die dunklen Ränder unter meinen Augen haben sich beinahe bis Mitte der Wange ausgedehnt. Meine Haut drumherum ist blass. Die Augen selbst, leer. Ich schaue rein, versuche mich zu finden. Mich zu erkennen. Ein Blick ins Nichts. Die Leere füllt sich mit Tränen. Ich zittere, setze mich auf den kalten Badezimmerboden. Kralle mich erneut an der WC-Schüssel fest. Habe das Gefühl, mein Körper möchte sich von allem befreien, was er die letzten Jahre (er)tragen musste. Mehr geht nicht. Ausgebrannt. Burnout.
Dass dies auch die Diagnose meiner Hausärztin sein würde, wusste ich bereits vor meinem Termin am nächsten Tag. Arbeitsunfähig. Unruhe in mir. Was passiert mit akut? Werde ich meine Masterarbeit fertig schaffen? Was machen Menschen, wenn sie nicht arbeiten? Seit zwei Jahren hatte ich keinen einzigen komplett freien Tag. Seit vier Jahren führe ich akut in einem Vollzeitpensum, seit zwei Jahren absolviere ich «nebenbei» einen Master an der ZHdK und arbeite ebenda Teilzeit, um Geld zu verdienen. Versuche irgendwie noch ein Privatleben zu führen und aufwühlende Geschehnisse unverarbeitet einzustecken. Geschlafen hatte ich schon lange nicht mehr richtig. Meine Leistung litt nicht darunter. Auf mich war Verlass, wie man es gewohnt war von mir. Ich versuchte das Unmögliche möglich zu machen. Jeden Tag 200 Prozent von früh bis spät. Besorgte Blicke aus meinem Umfeld lächelte ich weg. «Wie machst du das alles?» Ich hatte und habe keine Antwort auf die mir meistgestellte Frage.
Und ich will auch künftig keine haben. Ich will das Unmögliche nicht mehr möglich machen und es auch niemandem raten. Nicht zu diesem Preis. Viel mehr möchte ich mich ab und zu den, wie soll ich sagen, leichteren Dingen im Leben zuwenden, wie ich es die letzten zwei Monate getan habe.
Hit me up für Diskussionen über «Love Island». Die Trash-TV-Serie hat mir meinen unruhigen Arsch gerettet. Sozialstudie. Bin klar Team Leah, wenn ihr mich fragt. Robs Schlangen-Reels auf Instagram auch sehenswert. Des Weiteren sehenswert: Die Videos von Levi und William auf Instagram und TikTok. Er kocht und putzt für sie, sie macht Unmengen an Geld mit Onlyfans. Auch gut unterhalten kann man sich jetzt mit mir über Guasha-Routinen. Ich schwöre, sie nützen! Lymphmassagen auch ganz spannend. Weiter habe ich meine Liebe für die «Bar 63» wiederentdeckt. Gleich bei meiner neuen Wohnung (bin während meines Burnouts noch umgezogen) ums Eck. Bestes Publikum, Nüssli ohne nachfragen zu müssen (an richtig guten Tagen sogar gratis Oliven) und vorzüglicher Crémant. Die Szenen, die man von den Stühlen auf dem Trottoir aus beobachten und die Gespräche, denen man lauschen kann, erweitern jeden Horizont um das Zehnfache.
Und während ich mir fast jedes EM-Spiel in den «Love Island»-Pausen reinzog, hatte ich noch eine weitere Erkenntnis: Ich will Spielerfrau werden. Ich werfe all meine feministischen Prinzipien über Bord. Will alle Vieren von mir strecken, mich nie mehr um Geld sorgen und in der Abwesenheit meines Fussballers all die Dinge tun, für die mir sonst keine Zeit bleibt. Guasha-Routinen zum Beispiel oder mein eigenes Granola machen. Leider hat Álvaro Morata aber noch nicht an meiner Tür geklingelt.
Spass beiseite. Es tat gut, mich mal mit den «unwichtigen» Dingen des Lebens zu beschäftigen. Aber eben auch mit den Wichtigen. Mich zu fragen, woher die immense Angst kommt, andere Menschen und vor allem mich selbst zu enttäuschen. Die Angst, nicht stark genug zu sein. Nicht gut genug zu sein. Zu lernen, meinen Körper zu spüren. Meine Grenzen zu spüren – und diese zu kommunizieren. Einen Schritt zurück zu machen und zu sehen, dass doch irgendwie vieles unwichtig ist. Ein grosses Fass, das ich jetzt nicht öffnen werde. Was ich sagen will, ist: Das Leben ist verdammt kurz und das meiste, worüber wir uns sorgen und wofür wir uns stressen, absolut lächerlich. Nicht lächerlich jedoch ist, was wir fühlen und wie es uns geht. Die Glorifikation der Hustle-Culture, die gerne und oft von vielen Fellow-Journalist:innen und anderen Bubble-Menschen auf Instagram betrieben wird, geht mir nicht nur auf den Sack, sondern ist auch höchstproblematisch. Ich will keine Stories mit aufgeschlagenen Laptops um Mitternacht auf dem Bett sehen, auch keine Fashion-Week-Bilder mit Kommentaren wie «Running on two hours of sleep and no food». Shut it. Es ist NICHT cool, leere Batterien zu haben. Es ist NICHT cool, wenn ihr ohne Schlafmedis kein Auge mehr zukriegt. Es ist NICHT cool, wenn ihr für mehrere Tage keine Sätze mehr bilden könnt, weil sich der überlastete Sprachbereich im Hirn verabschiedet hat.
Ich blicke in den Spiegel. Zwei Monate sind vergangen. Die dunklen Ränder unter meinen Augen sind beinahe verschwunden. Ein Glanz auf meinen Wangen, meiner Stirn – Guasha, vermute ich. Ich erkenne mich wieder. Blicke in Leilas Augen. Erhasche ein Leuchten. Erkenne aber auch viel Angst. Angst davor, zurück in ungesunde Verhaltensmuster zu fallen, so weiterzumachen wie vorher. Die Versuchung ist gross. Ich drücke meine Stirn gegen den Spiegel. Kopf an Kopf mit mir. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir. Vieles, das ich mir abtrainieren muss. Vieles, das ich neu lernen muss. «Don’t let me down, Leila», flüstere ich mir zu.
03. Oktober 2024