In einer Welt, die von Geschwindigkeit und Effizienz geprägt ist, setzt die ukrainische Künstlerin Iryna Evora auf das Gegenteil: Entschleunigung, Achtsamkeit und die bewusste Wahrnehmung des Vergänglichen. Ihre Philosophie der «Neo-Romantik» ist eine Hommage an die Schönheit des Moments – an das, was kommt und wieder vergeht, ohne festgehalten zu werden. Ihre floralen Kompositionen spiegeln diese Haltung wider: Sie entstehen im Einklang mit den Jahreszeiten, ohne sich Trends oder Marktlogiken unterzuordnen. Statt auf Perfektion setzt sie auf Intuition und das organische Zusammenspiel von Texturen und Farben, selbst wenn einige der verwendeten Blumen nur für wenige Tage in voller Pracht blühen. Entsprechend ziert auch das Haiku
above life’s chaos
a butterfly flaps its wings
everything changes
einen jeden Blumenstrauss, der das Studio der Floristin verlässt. Diese radikale Wertschätzung der Ephemerität ist für sie nicht nur ein ästhetisches Konzept, sondern auch eine Form des Widerstands gegen eine Welt, die sich oft dem Flüchtigen entzieht, indem sie es konservieren oder kommerzialisieren will. Ihre Arbeiten zeigen, dass wahre Schönheit nicht von Dauer, sondern von Authentizität bestimmt wird – ein Gedanke, der auch in der traditionellen japanischen Ästhetik oder der Philosophie des Wabi-Sabi anklingt.
Nach der Eröffnung ihres ersten Studios in Kiew im Jahr 2018 hat sie mit Künstler*innen, Marken und Unternehmen zusammengearbeitet, stets mit dem Anspruch, florales Design nicht als blosses Handwerk, sondern als künstlerische Ausdrucksform zu begreifen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine führte sie schliesslich nach Zürich, wo sie sich nun einer neuen kreativen Herausforderung stellt: Wie kann man in einer neuen Umgebung Wurzeln schlagen, ohne die eigene Handschrift zu verlieren? Und wie gelingt es, Kund*innen für einen Ansatz zu sensibilisieren, der nicht Massenproduktion, sondern Saisonalität und Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellt? Einen ersten Schritt hat sie bereits getan – mit der Eröffnung ihres Blumenladens im neuen Zürcher Second-Hand-Möbelgeschäft «Kiosk.io», wo sie ihre ganz eigene Haltung einem neuen Publikum näherbringt.

Im Gespräch reflektiert Iryna Evora feinfühlig über ihre künstlerische Praxis, ihre Sicht auf die Vergänglichkeit als Quelle von Inspiration und die feine Verbindung zwischen Natur, Emotion und kreativer Gestaltung.
Deine Philosophie der «Neo-Romantik» betont die flüchtige Einzigartigkeit eines Moments. Was bedeutet diese Haltung für dich ganz allgemein?
Iryna: Meine «Neo-Romantik» ist eine leicht adaptierte Interpretation der neo-romantischen Kunstbewegung, die im 19. Jahrhundert entstand. In meinem Verständnis ist es eine Form des Widerstands – mein persönlicher Gegensatz zur wahnsinnig schnelllebigen Existenz, die durch Globalisierung und das moderne Denken unserer Welt geprägt ist.
Trends werden von Menschen geschaffen, um eine starke, überzeugende Position zu etablieren – oft, um wiederum etwas zu gewinnen, meist etwas Materielles. Für mich als Künstlerin steht die Arbeit mit Farben und den Jahreszeiten im Mittelpunkt. In meiner Welt setze ich mich dafür ein, die Interessen der Natur zu schützen, und möchte mit meiner Arbeit den Menschen helfen, der Natur ein Stück näherzukommen und ihre Schönheit und Bedeutung zu erkennen.
Wir alle haben Gefühle, und die Natur existiert in uns. Gefühle wecken Emotionen, und für mich sind Blumen etwas Flüchtiges – etwas, das erscheint und schnell wieder verschwindet, aber dennoch einen tiefen Eindruck in unserer Erinnerung hinterlässt.
Mitten im Chaos des Lebens kann plötzlich etwas Bedeutsames auftauchen – vielleicht Blumen, die dir von einem geliebten Menschen geschenkt wurden. In diesem Moment hältst du inne und reflektierst deine Gefühle – und dieser Gedanke verändert den Verlauf eines Tages, vielleicht sogar des morgigen Tages.
Wie setzt du diese Idee in deinen floralen Kompositionen um?
Ich bin sehr romantisch und manchmal übermässig sensibel. Ich glaube, ich habe eine starke Fähigkeit, die wahre Essenz eines Moments in der Natur einzufangen. Ich versuche nicht, zuerst an das Budget zu denken, sondern lege den Fokus auf die Saison. Bei der Auswahl der Blumen orientiere ich mich nicht an ihrer Grösse, sondern an ihrer Textur und Farbe. Manchmal füge ich einem Strauss Blumen hinzu, die nur zwei oder drei Tage halten, und es macht mir nichts aus, wenn sie schneller welken als die anderen in der Komposition. Ich sehe die Einzigartigkeit dieses flüchtigen Moments. Wir sollten akzeptieren, dass Schönheit nicht davon definiert wird, wie lange etwas hält, sondern wie wahrhaftig es ist.

Du hast dein erstes Studio 2018 in Kiew gegründet und arbeitest mit Künstler*innen, Marken und Unternehmen zusammen. Inwiefern beeinflusst die Zusammenarbeit mit anderen Kreativen deine Ästhetik?
Ich kann nicht sagen, dass sie mich in keiner Weise beeinflusst. Ich bemühe mich immer, meine Vision in jedem Projekt so vollständig wie möglich zu vermitteln, aber am Ende möchte ich, dass die Kundin oder der Kunde glücklich ist, also versuche ich, die beste Lösung für beide Seiten zu finden. Es ist immer eine Freude, wenn wir eine gemeinsame Basis finden – das macht ein Projekt erfolgreich und energetisch leicht und bringt den Menschen viel Freude.
Inwiefern hat die Stadt Zürich deine kreative Praxis beeinflusst?
Als jemand, der nicht von hier stammt, ist es derzeit schwierig für mich, in Zürich Projekte und Kontakte zu finden. Ich warte auf mehr Möglichkeiten, um an grösseren Projekten zu arbeiten. Bis jetzt beeinflusst mich Zürich aber positiv. Ich geniesse, was hier passiert – es ist ziemlich langsam, aber das gefällt mir. Ich glaube, mit der Eröffnung des Studios wird es leichter sein, die richtigen Menschen zu finden, wenn alles zusammenpasst.
Florales Design wird oft sowohl als Kunstform als auch als Handwerk betrachtet. Wie navigierst du zwischen künstlerischem Ausdruck und den praktischen Anforderungen an vergängliche Materialien?
Das ist eine sehr gute und wichtige Frage für mich! Ich habe nicht die Absicht, Blumen zu einem Geschäft zu machen; für mich ist es eher Kunst als Handwerk. Genau aus diesem Grund arbeite ich nur auf Vorbestellung, um zu vermeiden, dass Materialien übrigbleiben. Ich möchte nachhaltig arbeiten und die Natur keinesfalls ausbeuten.
Zukünftig würde ich gerne ausschliesslich mit Kund*innen zusammenarbeiten, die den Wert meiner Arbeit und der Materialien verstehen. Ich hoffe, Vertrauen aufzubauen und nur auf Vorbestellungen zu arbeiten. Ich bin mir nicht sicher, ob das hier in Zürich so funktioniert. In Kiew, an meinem alten Standort, hatte ich fast nie Blumenreste, weil ich immer auf Vorbestellung gearbeitet habe.

Blumen tragen eine starke kulturelle und emotionale Symbolik. Integrierst du persönliche oder regionale Bedeutungsebenen in deiner Arbeit?
Natürlich tragen meine Kompositionen eine tiefe kulturelle und emotionale Symbolik in sich. Ich tue dies nicht bewusst – vielmehr spiegeln die Blumen die innere Welt einer Person wider, ihr Wesen, ihre Wurzeln. Es gibt nichts Konkretes, aber im Wesentlichen kann man viel über den oder die Autor*in erfahren, wenn man sich die Komposition ansieht.
Das Konzept des Wandels scheint zentral für deine Haltung zu sein, wie auch in dem Haiku, das du öfters teilst:
above life’s chaos
a butterfly flaps its wings
everything changes
Wie hat sich dein kreativer Ansatz über die Jahre entwickelt, und wo siehst du ihn in Zukunft?
Dieses Haiku gefällt mir sehr. Es beschreibt, dass der Moment des Schmetterlingsflugs wunderschön ist und dass Veränderung etwas Positives ist – ein wichtiger und untrennbarer Teil des Lebens. Ich lege dieses Haiku jeder Blumenkomposition bei, zusammen mit Pflegehinweisen für die Blumen. Wenn mir jemand Referenzbilder schickt und mich bittet, einen Strauss exakt nach einem Foto nachzubilden, ohne zu verstehen, in welcher Jahreszeit diese Blumen wachsen, dann sende ich der Person dieses Haiku und erkläre, dass ich nicht nach Referenzen arbeite.
Nach meiner Arbeit auf einer Farm habe ich ein tieferes Verständnis für Saisonalität und die Einzigartigkeit von Momenten in der Natur entwickelt. Man beginnt, nicht die Menge der Blumen in einem Strauss zu schätzen, sondern die Qualität und Einzigartigkeit ihrer Textur und Farbe. Der kreative Ansatz bleibt derselbe – man könnte sagen, dass nur Erfahrung und Professionalität wachsen.
Wie sich das weiterentwickelt? Ich weiß es nicht und bin mir nicht sicher, was passieren wird, aber ich bin dankbar für diesen Ort hier in Zürich, Kiosk.io, und dafür, dass wir alle von wunderschönen Blumen umgeben sind.

25. Februar 2025