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«Beim Lesen sucht man nach etwas Menschlichem, nach Gefühlen, die man wiedererkennt» – Nelio Biedermann im Interview

Ein Buch, das seit zwei Wochen in den Medien ist wie kein anderes, und ein Autor, der gerade einmal 22 Jahre alt ist. Noch bevor Nelio Biedermanns «Lázár» am 1. September erschien, wurde es bereits an zwanzig Länder verkauft. Wir haben mit dem Shootingstar über sein opulent-düsteres Familiendrama, das Schreiben und Fleisch gesprochen.

Von Norma Eggenberger

Der Hype war da, ehe «Lázár» überhaupt im Regal stand. Und er reisst nicht ab: Kurz nach Erscheinen ist Biedermann bereits für den Schweizer Literaturpreis nominiert. Auch mir ist noch nie ein Roman in die Hände gekommen, auf den ich während des Lesens so oft von Fremden auf der Strasse, im Tram oder im Bus angesprochen wurde – unverkennbar der stolze Schimmel auf dem Cover. Und wie ist’s, raunt und munkelt man, wie ist dieses Buch, das die ganze Buchwelt in seinen Bann zieht? «Lázár» liest sich wie ein Fiebertraum, springt durch fünf Jahrzehnte, ist zart und verstörend, opulent und brüchig zugleich. Im gemeinsamen Gespräch erzählt Biedermann von Fleisch und Porzellan, von Vergangenem und Gegenwart und davon, wie viel man seinen Figuren zumuten darf.

In deinem Buch wirkt das Motiv Fleisch sinnlich, teilweise verstörend. Welche Bedeutung hat es für dich? Bist du vielleicht Vegetarier?

Nelio: (lacht) Nein, aber ich versuche oft, darauf zu verzichten. Das Motiv erscheint im Buch auf verschiedene Arten. Auf einer persönlichen, körperlichen Ebene etwa: Maria ritzt sich, während der Hauslehrer träumt, sie komme nur noch als Knochen aus dem See zurück. Diese Bilder hängen mit den Erfahrungen der Figuren zusammen: Die Welt ist ihnen fremd, sie finden keinen Platz. Daraus entsteht der Wunsch nach Auflösung; sich zu lösen vom Fleischlichen und Körperlichen, das sie zugleich immer wieder verstrickt und ihre Beziehungen belastet. 

In dieser Symbolik schwingt auch Opulenz mit – etwas Überbordendes, das auch Abscheu in den Figuren auslöst. 

Mich interessierte diese Reibung zwischen dem archaisch Roh-Groben des Fleisches und dem vom Menschen Gemachten, wie etwa dem feinen Porzellan. Diese Kombination stösst ab und sie kippt ins Unheimliche.

Auch deine Räume und Orte wirken beinahe unheimlich – fast wie eigenständige Figuren – und erinnern dabei nebst E.T.A. Hoffmann auch an Poes «The Fall of the House of Usher».

Genau das wollte ich. Schon auf der ersten Seite sieht eine Figur im Wald etwas, ohne es benennen zu können. Das Unheimliche wird somit fast physisch spürbar, der Wald «verschluckt» Menschen, greift aktiv ins Leben ein. Wie bei Hoffmanns «Sandmann» wird das Unheimliche selbst zu einer handelnden Kraft, die das Leben der Figuren verändert. 

Mit «Lázár» liegt heute dein zweites Buch vor. Welche Rolle spielt dabei noch die Zeit der Pandemie, in der du das Schreiben für dich entdeckt hast?

Eine grosse, denn vor Covid hatte ich nie ernsthaft geschrieben. Erst mit dem Schreibwettbewerb an meinem Gymnasium änderte sich das. Die Isolation hat mir Fokus gegeben und ich fand dadurch auch wieder zurück zum intensiven Lesen. Das ist für mich irgendwie wie Training: möglichst viel lesen, um besser schreiben zu können. Schreiben und Lesen gehen für mich Hand in Hand.

Wie gehst du mit Schreibblockaden um?

Ich habe höchstens nach einem fertigen Projekt Blockaden. Dann will ich immer sofort etwas Neues anfangen, habe aber noch keine Idee. In solchen Phasen lese ich viel, schaue Filme und lasse Gedanken reifen. Wenn ich mitten im Schreiben hänge, ist das meist ein Zeichen dafür, dass ich die Szene oder das Kapitel anders angehen oder eine andere Form dafür finden muss.

Dein Roman wirkt in Tempo und Struktur oft filmisch. Inwiefern hat dein Studium der Filmwissenschaft auch dein Schreiben beeinflusst?

Dass mein Buch filmisch wirkt, habe ich schon öfter gehört. Geplant war dies nicht, aber ich bin mit Film aufgewachsen und schaue nach wie vor viele Filme. Auch William Faulkner, der zunächst als Schriftsteller begann, schrieb später Drehbücher für Hollywood. In seinen späteren Texten merkt man, wie Szenen zunehmend filmisch gedacht sind. So etwas beeinflusst einen, genauso wie alles, was man aufnimmt.

Gab es bestimmte Filme, die dich geprägt haben?

«Drive My Car» von Ryūsuke Hamaguchi fand ich sehr beeindruckend. In dieser Verfilmung von Murakamis Kurzgeschichten fasziniert mich, wie verschiedene Geschichten ineinander verwoben werden und selbst Nebenfiguren ein eigenes Schicksal erhalten. Das hat mich ermutigt, selbst alles zu erzählen, was mich interessiert, auch wenn es nicht unmittelbar den Plot vorantreibt. Auch Figuren am Rand haben eine Geschichte verdient.

In deinem Roman werden fünf Jahrzehnte erzählt – man hätte daraus wahrscheinlich auch ein tausendseitiges Buch machen können. Wie bist du mit dieser Fülle an Stoff auf 336 Seiten umgegangen?

Auch hier haben mir filmische Mittel geholfen; durch harte Zeitschnitte konnte ich zum Beispiel die Handlung enorm verdichten.

Wie bist du bei der Recherche zu deiner Familiengeschichte und den historischen Hintergründen vorgegangen?

Das Buch ist stark von meiner eigenen Familiengeschichte inspiriert. Vieles wusste ich somit aus Erzählungen, parallel recherchierte ich historisch. Nach einigen Monaten merkte ich jedoch, dass mir Alltagsdetails fehlten: Was hat man gegessen, wie gewohnt? Deshalb fuhr ich zu meinem Grossonkel nach Budapest; er zeigte mir das Familienhaus und Fotoalben aus den 1920er und 1930er Jahren. All diese Eindrücke haben dann den Schreibprozess und das Endresultat mitgeprägt.

Hat dich bei der Recherche auch die Frage nach transgenerationalem Trauma beschäftigt?

Ja, in gewisser Weise. Ich habe diese Erfahrungen zwar nicht selbst gemacht, höchstens indirekt über meinen Vater, dessen Verhalten teilweise noch von dieser Vergangenheit geprägt ist. Es gab jedoch viele Erzählungen in der Familie, von der Enteignung, von der Flucht. Als Kind wirkten sie wie Abenteuergeschichten und gleichzeitig empfand ich eine Abwehr – das hat doch mit meinem Leben nichts mehr zu tun. Erst beim Schreiben wurde mir klar, wie traumatisch diese Erfahrungen waren und wie sehr sie bis heute nachwirken. Mein Grossonkel erzählte mir, seine erste Erinnerung sei die Enteignung: Er wacht auf, ein russischer Soldat steht im Zimmer und hält seinem Bruder eine Pistole an den Kopf. Solche Verlusterfahrungen prägen nicht nur die direkte Generation, sie wirken auch in die nächste weiter.

Welche Rolle spielte dabei für dich das Fabulieren?

Es hatte etwas Ermächtigendes, Leerstellen mit Fantasie zu füllen. Mir war wichtig, keine Biografie zu schreiben. Es gibt Anknüpfungspunkte, aber ich habe sie weitergesponnen, so wie es für mich richtig erschien. In meiner Familie wurden fast nur die guten Geschichten erzählt, dem habe ich nicht ganz getraut. Keine Familie hat über Jahrzehnte ausschliesslich positive Erlebnisse. Für mich war es wichtig, auch andere Seiten zu erzählen und ein vollständigeres Bild zu entwerfen. Am Anfang habe ich sogar versucht, mit den echten Namen zu arbeiten, aber das ging nicht. Ich hatte das Gefühl, der Wahrheit verpflichtet zu sein und keine Freiheit zum Fabulieren zu haben. Erst durch den Verfremdungseffekt konnte ich frei erzählen. Dadurch ist es paradoxerweise wahrer geworden. Auch wenn nicht alles genau so war, habe ich das Gefühl, es hätte genauso passieren können.

Bist du ein nostalgischer Mensch?

Eigentlich nicht. Wenn überhaupt, dann in Bezug auf meine eigene Vergangenheit, aber nicht auf die Zeit, in der meine Familie gelebt hat. Ich habe mir nie gewünscht, damals zu leben. Mein Vater empfindet da noch mehr Wehmut, vielleicht auch ein Selbstverständnis, dass die Schlösser «der Familie gehört hätten». Das habe ich nicht.

Wie hat sich dein Bild vom Schriftstellersein verändert, seit du selbst schreibst?

Am Anfang hatte ich selbst ein sehr romantisches, fast altmodisches Bild vom Schreiben. Auch die Bilder, die ich erschaffen wollte, waren stark davon geprägt. Inzwischen löse ich mich mehr davon und suche nach einer Sprache für die Gegenwart. Vergangenes verklärt man schnell, oft stimmen die Bilder gar nicht. Selbst Autoren wie Faulkner mussten für Hollywood oder Zeitungen schreiben, regelmässig liefern, statt frei und ungebunden. Diese Vorstellung, dass früher alles besser war, ist ein Trugschluss. Schon Goethe hat sich über die angeblich verdorbene Jugend seiner Zeit beschwert – solche Klagen wiederholen sich durch alle Generationen.

Klage unserer Generation: KI in der Literatur. Chance oder Gefahr?

Für mich ist KI keine grosse Bedrohung. Ich möchte nichts lesen, von dem ich wüsste, dass es eine Maschine geschrieben hat. Denn beim Lesen sucht man nach etwas Menschlichem, nach Gefühlen, die man wiedererkennt, und dem bedeutenden Moment, in dem man sich verstanden fühlt. Das fällt weg, wenn ein Text von KI stammt. Vielleicht führt das sogar dazu, dass Literatur wieder bewusster menschlich wird, mit Brüchen, Unsauberkeiten und Eigenheiten.

Der Maler Jan Vermeer taucht in deinem Buch als Gegenbild zum Schreiben auf – seine Bilder halten flüchtige Augenblicke und keine vollständigen Existenzen fest. Hast du dir manchmal gewünscht, schreiben zu können, wie er malt?

Zu einem gewissen Grad habe ich mich tatsächlich selbst in diese Kritik hineingeschrieben. Denn manchmal fühlte es sich falsch oder fast übergriffig an, Figuren so intime Dinge preisgeben zu lassen. Vielleicht hätte ich mir vor allem manchmal gewünscht, in einem anderen Medium zu arbeiten, in dem man mehr offenlassen kann. Vermeer deutet etwas an, ohne es auszusprechen. Ein Standbild, eine Momentaufnahme. Schreiben hingegen ist Bewegung: Der Moment muss fast zwangsläufig weitergedacht werden. Aber vielleicht wäre es ein Ansatz, Momente anzuschneiden und nicht zu Ende zu erzählen, um genau diesen Schwebezustand zu erzeugen.

War es dir unangenehm, so tief in deine Figuren einzudringen?

Ja, manchmal schon. Es klingt immer etwas kitschig, wenn Autor*innen sagen, die Figuren würden zu Freund*innen. Aber tatsächlich muss man sich ja einreden, dass es echte Menschen sind, sonst könnte man nicht schreiben. Gleichzeitig fühlt es sich übergriffig an, ihnen schlimme Schicksale zuzuschreiben. Ich erinnere mich an Daniel Kehlmanns «Ruhm»: Darin reist eine Frau in die Schweiz, um sich bei Exit das Leben zu nehmen. Kehlmann tritt selbst als Figur auf und schenkt ihr Jugend und Gesundheit zurück. Theoretisch hätte ich das auch machen können, aber es fühlte sich falsch an, weil ich wusste, was erzählt werden musste.

Oft heisst es, Figuren tragen auch immer etwas vom Autor in sich. Entblösst man sich dadurch selbst?

Ja, unbedingt. Schreiben ist etwas sehr Intimes. Man entblösst nicht nur die Figuren, sondern auch sich selbst. In gewisser Weise war das Übergriffige, das ich gespürt habe, auch gegen mich selbst gerichtet.

Eine Figur hat mich besonders beeindruckt: Imre, der im Chaos beständig bleibt, gerade durch seine Abkehr von der Welt. 

Imre ist auch meine Lieblingsfigur. Er war von Anfang an als Konstante gedacht. Er ist ambivalent und man weiss nie genau, ob er tatsächlich krank ist oder ob er die Welt vielleicht nur anders wahrnimmt. Am Ende wirkt er fast wie eine Orakelfigur: benebelt und gleichzeitig klarsichtig, wie die Seher im antiken Griechenland. Während andere Figuren an der Nähe zur Welt zerbrechen, zieht er sich ins Innere zurück und überlebt gerade dadurch. Das lässt sich auch auf die Gegenwart übertragen. Menschen, die sich bewusst von Nachrichten und Medien fernhalten, weil es ihnen nicht guttut. Das soll nicht heissen, dass Abkehr das erstrebenswerte Ziel ist, aber sie zeigt einen Umgang mit Unsicherheiten und Ängsten, die auch heute präsent sind.

Schreibst du schon an etwas Neuem?

Ich schreibe eigentlich immer, aber ich verwerfe eben auch viel. 

Am 22. September liest Nelio Biedermann im Kaufleuten aus «Lázár». Die Veranstaltung ist bereits ausverkauft. Wir verlosen hier aber 5×2 Tickets.

14. September 2025

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