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«Widerstand und Übermut» – Nadia Brügger und Valerie-Katharina Meyer im Interview

Was bleibt von einer Literatur, wenn ihre Stimmen systematisch verdrängt wurden? Nadia Brügger und Valerie-Katharina Meyer erläutern im Gespräch und in ihrem Buch «Widerstand und Übermut», wie vielschichtig «Frauenliteratur» in der Schweiz der 1970er Jahre waren – und warum es höchste Zeit ist, sie neu zu entdecken.

Von Norma Eggenberger

Nadia Brügger und Valerie-Katharina Meyer

Die 1970er Jahre – eine Zeit des Aufbruchs für Frauen in der Schweiz. Feministische Bewegungen, das 1971 eingeführte Frauenstimmrecht und Frauen, die schrieben, viel, unkonventionell und vor allem: für sich selbst. In dieser Zeit entstanden Werke von Autorinnen wie Maja Beutler, Anna Felder, Laure Elisabeth Wyss und Verena Stefan – Texte, die Sprache neu erforschten und Themen behandelten, die in der Gesellschaft als trivial galten: «Frauenthemen». Und trotzdem erinnert sich die Schweizer Literaturlandschaft Jahre später vor allem an Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. 

Um die vergessene Traditionslinie dieser weiblichen Stimmen sichtbar zu machen, haben Valerie-Katharina Meyer und Nadia Brügger das Buch «Widerstand und Übermut. Schweizer Schriftstellerinnen der 1970er Jahre» geschrieben. Es erzählt die Geschichten von Frauen, die nicht nur Widerstand gegen patriarchale Strukturen leisteten, sondern auch neue Wege in der Literatur gingen – Verlage gründeten und solidarische Freundschaften bildeten, um den Weg für zukünftige schreibende Frauen zu ebnen.

Meyer und Brügger werfen in ihrem Buch einen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit und thematisieren die systematische Verdrängung weiblicher Autorinnen. Sie zeigen, wie Frauen durch Humor, übermütige Ideen und gegenseitige Unterstützung Widerstand leisteten – etwa im Fall von Ruth Mayers Verlag «Edition R + F», der ausschliesslich weibliche Texte veröffentlichte, oder durch Brieffreundschaften wie die zwischen Maja Beutler und Adelheid Duvanel sowie Laure Wyss und der Strafgefangenen Claudia Bislin. Besonders die Geschichte von Wyss und Bislin, die trotz anfänglicher Differenzen eine enge Freundschaft entwickelten, zeigt, wie persönliche Differenzen überwunden und feministische Solidarität aufrechterhalten werden können – eine Praxis, die weit über das Schreiben hinausgeht.

Wir haben uns mit den beiden Autorinnen in Zürich getroffen, um über ihre Arbeit zu sprechen, warum kollektives Schreiben eine feministische Praxis darstellt, was wir als Gesellschaft aus der Vergangenheit lernen und verlernen können und wieso gewisse Debatten eigentlich gar nicht so neu sind.

Der Titel des Buches lautet «Widerstand und Übermut» – zwei Begriffe, die auch im gesamten Buch eine zentrale Rolle spielen. Wie seid ihr zu diesen Begriffen gekommen und welche Bedeutung haben sie für eure Arbeit?

Valerie-Katharina Meyer: Für uns waren das zwei Bewegungen, die beim Lesen der Texte der Autorinnen immer wieder auftauchten. Einerseits ist in den Texten der Widerstand und auch Widerständiges zentral, sowohl für die Inhalte als auch für die Form. Wir entdeckten darin aber ebenfalls eine andere Bewegung – den Übermut. Ruth Mayer, die 1976 in Zürich den ersten Verlag für Gegenwartsliteratur von Frauen gründete, brauchte dafür zum Beispiel mehr als nur den Widerstand als Antrieb. In diesen Aktionen steckten auch viel Mut und Lust, Neues zu wagen.

Nadia Brügger: Mit dem Bild – zwischen Widerstand und Übermut – wollten wir die Bewegung zwischen Kritik und Utopie beschreiben, die für die 1970er Jahre zentral ist. Es ist ein Denkbild, mit dem wir die Tatsache analysieren, dass schreibende Frauen der 1970er Jahre einerseits die vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen kritisiert haben und andererseits immer schon eine eigene Utopie vor Augen hatten: Wo wollen wir als Frauen eigentlich hin? Was sind unsere Träume, unsere Visionen? Die Frauen dieser Zeit stellen sich nicht nur gegen etwas, sie wollen etwas Eigenes schaffen, auch wenn nicht immer klar ist, wie dieses Eigene aussehen könnte. Aus diesem Impuls entsprangen viele der Texte, so entstanden auch neue literarische Formen.

Das Buch folgt ja nicht nur der klassischen wissenschaftlichen Struktur, sondern auch einem Lustprinzip – mit Fokus auf zeitlicher Einordnung, Ruth Meyer und vor allem auf den Freundschaften der Autorinnen. Wie kam es zu dieser besonderen Struktur?

Nadia Brügger: Ich glaube, dass die Struktur viel mit unserem eigenen Schreibprozess zu tun hat, der immer wieder auch spielerisch war. Wir haben geschaut, wer sich wo am besten auskennt, aber auch, worüber wir Lust hätten zu schreiben. Es war uns wichtig, die Freundschaften unter den Frauen hervorzuheben, weil diese in der Literaturgeschichtsschreibung oft nicht als werkrelevant mitgedacht oder nicht tradiert werden: Dabei bauen die Texte von Autorinnen häufig auf den Beziehungen zu anderen Frauen auf. Dass die Freundschaft zwischen Frauen so zentral ist, hat aber auch mit uns zu tun – wir sind ja selbst schreibende Freundinnen.

Valerie-Katharina Meyer: Den Übermut kann man auch auf einer anderen Ebene mit uns in Verbindung bringen: Wir wollten ein Buch schreiben, in dem wir uns jenem zuwenden konnten, das uns wirklich interessierte und das wir oft vermissten. Wir wollten Texte neu lesen, anders gewichten. Auch das ist für uns übermütig.

Inwiefern ist dieser Übermut denn auch eine Form von Widerstand?

Valerie-Katharina Meyer: Widerstand und Übermut bedingen sich gegenseitig. Sie stehen nicht nur nebeneinander, sondern greifen ineinander.

Nadia Brügger: Im Buch haben wir viele Archivdokumente abgedruckt, zum Beispiel Mobilisierungsblätter der Frauenbefreiungsbewegung (FBB). Dass sich Widerstand und Übermut bedingen, sieht man auch an diesen Dokumenten. Die Aktionen der FBB waren kämpferisch, aber oft auch lustig. Im Oktober 1975 unterbrachen die Aktivistinnen der FBB eine Nationalratsdebatte über den Schwangerschaftsabbruch und bewarfen die Parlamentsmitglieder mit nassen Windeln. Solche Störaktionen hatten viel Potenzial, die Ernsthaftigkeit des Anliegens konnte mit einfachen Mitteln verständlich gemacht werden.

Ein Thema, das sich ebenfalls durch das Buch zieht, ist das Imaginieren und Fabulieren – dieses feministische Sich-Vorstellen. Welche Rolle spielte das für euren Schreibprozess?

Valerie-Katharina Meyer: Natürlich hatten wir für das Buch gemeinsame Pläne und Visionen. Es handelt sich jedoch um ein wissenschaftliches Buch, was bedeutet, dass wir auch prüfen mussten, was bereits existiert und mit welchem Material wir arbeiten können. Das Sich-vorstellen-können und Imaginieren, wo wir mit unserem Schreibprozess hinwollen, entwickelte sich insbesondere auch dank unseres Austauschs. Beim Schreiben eines eigenen Buches ist man oft mit diesen Herausforderungen allein, weshalb ein gemeinsamer Schreibprozess so bereichernd ist.

Nadia Brügger: Unser Buch will auch dazu anregen, Fragen zu stellen: Wie sieht unser kollektives Gedächtnis eigentlich aus? Wer hat darin Platz? Wen können wir uns als Autor*in überhaupt vorstellen? Dabei geht es auch darum, verschüttete weibliche Traditionslinien sichtbar zu machen: Es ist schwierig, sich Dinge vorstellen zu können, die man nicht sieht. Das hat auch Auswirkungen auf Frauen, die heute schreiben.

«Widerstand und Übermut» von Nadia Brügger und Valerie-Katharina Meyer
 erschienen im Hier und Jetzt Verlag.

Was ist aus eurer Sicht das Gefährlichste am Vergessen? Oder wie können wir heutzutage vergessen, ohne dass es gefährlich ist?

Valerie-Katharina Meyer: Das Vergessen gehört, wie auch das Erinnern, zu einer Gesellschaft dazu. Jedoch ist dies nicht nur ein passiver Prozess, sondern wir gestalten diesen als Gesellschaft mit und entscheiden somit auch, an wen wir uns erinnern wollen und an wen nicht. Dass wir uns also vermehrt an Texte von männlichen Autoren erinnern, ist mehr als nur ein blosser Zufall. Ihre Nachlässe werden vermehrt aufgearbeitet, ihre Bücher sind weniger vergriffen.

Nadia Brügger: In unserem Verständnis ist der Unterschied zwischen Vergessen und Verdrängen entscheidend. Die Werke von Frauen verschwinden nicht einfach aus der öffentlichen Wahrnehmung und Erinnerung. Die Abwertung der Literatur von Frauen ist historisch gewachsen, hat also System – und reicht bis in die Gegenwart hinein. Als Beispiel: Dürrenmatts 100. Geburtstag wurde gross gefeiert, es wurden Jubiläumsveranstaltungen und Vorlesungen organisiert. Gertrud Wilkers 100. Geburtstag jährte sich 2024. Den meisten Menschen – auch aus der Literaturwissenschaft – ist diese bedeutende Schweizer Autorin bis heute gänzlich unbekannt.

Hattet ihr beim Schreiben ein Gefühl von Verantwortung – als Gegenwartsstimmen, die sich auf eine Weise gegenüber der Vergangenheit verhalten? Vielleicht sogar mit dem Bedürfnis, ein Fundament zu schaffen, auf das heutiges Schreiben aufbauen kann?

Valerie-Katharina Meyer: Wir sehen eine Verantwortung darin, Sichtbarkeit für das Schreiben von Frauen zu schaffen und weiterzuführen, um so als Germanistinnen einen Beitrag zu der von Frauen geschriebenen Literaturgeschichte zu leisten. Letztendlich ging es uns bei unserem Projekt aber weniger um einen umfassenden Beitrag zur kollektiven Erinnerung, sondern mehr um ein punktuelles Sichtbarmachen. Vielleicht können wir mit unserer Arbeit als Duo auch zu neuen kollektiven Arbeitsformen anregen. Es geht ums gemeinsame Weiterdenken, ums Anknüpfen. Das ist etwas sehr Schönes – und notwendig für gesellschaftliche Bewegungen.

Nadia Brügger: Was mich besonders berührt, sind generationenübergreifende Begegnungen. An unsere Lesungen kommen Frauen, die in den 70ern aktivistisch organisiert waren und es teilweise heute noch sind – Frauen, die den Weg geebnet haben, auf dem wir heute weitergehen. Dieser Dialog hilft auch dabei, zu lernen, wie feministisches Wissen miteinander hergestellt, untereinander weitergegeben und bewahrt werden kann. Solche Prozesse reissen oft ab, dabei ist es so wichtig, auch über innerfeministische Differenzen hinweg gemeinsam weiterzumachen. 

Wie habt ihr eure eigene Zusammenarbeit erlebt? Gibt es ein Ritual beim kollektiven Schreiben?

Nadia Brügger: Während des Schreibprozesses hatten wir einen engen Austausch, hörten jeden Morgen nach dem Aufstehen voneinander, das gab Struktur und verbindet. Ich finde das heute noch schön und frage Valerie regelmässig, ob wir zusammenarbeiten können, selbst wenn wir nicht am gleichen Ort sind. Wenn du mit einer Freundin zusammen ein Buch schreibst, lernst du nochmals viel über dich selbst und auch über die andere Person. Diese Prozesse sind sehr spannend und bringen dich auch als Schreibende weiter. Ich zum Beispiel bin sehr theoriefixiert, möchte gerne immer ein Konzept haben für das, was ich tue. Valerie hingegen macht eher einfach mal und vertraut darauf, dass es gut wird.  

Valerie-Katharina Meyer: Nadia ist einfach sehr gut organisiert, ich bin eher weltfremd (lacht). Aber gerade dadurch ergänzen wir uns super.

Seht ihr das kollektive Schreiben als feministische Praxis?

Valerie-Katharina Meyer: Absolut. Es widerspricht dem klassischen Bild des genialen Schriftstellers. Im Austausch zu sein, ist eine Übung in Toleranz und gemeinschaftlichem Denken. Texte untereinander zu teilen, bedeutet auch, Gedanken, Ideen und Sätze mitzuteilen und somit miteinander zu teilen, sich gegenseitig zuzuhören, bisherige Ansichten zu revidieren und das Eigene nicht stets als grösste Wichtigkeit anzusehen. 

Nadia Brügger: Ein Text entsteht sowieso nie allein, selbst wenn man nur den eigenen Namen darunterschreibt. Das ist auch zentrales Thema der Autorinnen, deren Texte wir uns angeschaut haben. Die Autorinnen der 1970er Jahre haben die Produktionsbedingungen in der Literatur sichtbar gemacht. Adelheid Duvanel schrieb in einem Brief an ihre Freundin Maja Beutler: Warum müssen Frauen, die schreiben wollen, eigentlich immer auch staubsaugen und kochen? Das Bild des genialischen Schriftstellers im Stübchen blendet die ganze Fürsorgearbeit aus, die gemacht werden muss, damit dieses Schreiben überhaupt stattfinden kann. Schreiben ist nie ein alleiniger Prozess, sondern funktioniert immer nur mit Hilfe eines Unterstützungsnetzwerks. 

Was können wir heute aus dem weiblichen Schreiben der 70er Jahre lernen – oder vielleicht auch verlernen?

Valerie-Katharina Meyer: Das Schreiben war damals unabhängiger vom Markt. Viele haben einfach das geschrieben, was für sie gestimmt hat. So sind fragmentarische und humorvolle Texte entstanden, die ein Wagnis in der Sprache eingehen. Diese sprachlichen Experimente und das damit verbundene Selbstverständnis, dass Schreiben nicht immer sofort zugänglich, verständlich oder marktfähig sein muss, das sollten wir uns wieder mehr erlauben. Verlernen sollten wir vielleicht, dass Schreiben kein Beruf wäre. Noch immer haben viele schreibende Frauen Schwierigkeiten, sich als Autorinnen zu positionieren, da sie gleichzeitig finanziell über die Runden kommen müssen. Schreiben und die Auseinandersetzung mit Texten werden häufig an den Rand gedrängt. Dabei sind Schreiben und Lesen für eine Auseinandersetzung mit der Welt essenziell. 

Nadia Brügger: Viele Debatten, die wir heute führen, sind nicht neu. Wir bauen auf dem auf, was unsere Vorgängerinnen gedacht, geschrieben und getan haben, manchmal viel radikaler als wir heute – das zu wissen, ist zentral. Für uns ist es ein ganz wesentlicher Bestandteil feministischer Praxis, andere sichtbar zu machen und zu verstärken, auf ihren Ideen aufzubauen, Wissen gegenseitig zu teilen. Es geht ja darum, gemeinsam weiterzukommen. Wie Gertrud Wilker sagt: «Zusammen/ Gelingt uns eines Morgens/ der Abflug».

Abschliessend ein Rückblick auf die vergangenen Jahre und ein Ausblick in die Zukunft: Wie hat sich der Literaturbetrieb für schreibende Frauen verändert – und was muss sich noch ändern?

Nadia Brügger: Eine Vorstudie rund um Andrea Zimmermann an der Universität Basel hat gezeigt, dass der Literaturbetrieb über die Jahre zwar viel weiblicher geworden ist – viele Frauen sind als Autorinnen sichtbar, und die meisten Leser*innen sind Frauen –, sich die profitablen Positionen im Literaturbetrieb jedoch nicht gross verändert haben. Nur weil punktuell mehr Sichtbarkeit für bestimmte Personengruppen vorhanden ist, heisst das noch lange nicht, dass auch ein nachhaltiger Strukturwandel stattgefunden hat. 

Valerie-Katharina Meyer: Ich denke, das Entscheidende für die Zukunft ist, dass jede Generation immer wieder aufs Neue für Veränderungen kämpfen muss und sich auch bewusst ist, dass sie sich aktiv für solche Veränderungen einsetzen muss. Auch wenn die Ergebnisse oft erst später sichtbar werden, sind das dennoch parallele Prozesse. Man kann nicht einfach erwarten, dass sich etwas von selbst ändert, wir müssen uns aktiv und gemeinsam dafür einsetzen, weitermachen und mutig, unverzagt und heiter bleiben.

13. Mai 2025

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