Logo Akutmag
Icon Suche

Mit der Shotgun gegen Weltschmerz

Frostige Winde bringen Jahr für Jahr die «Gilmore Season». Draussen fallen die Blätter und drinnen sprechen alle über Lorelai. Befreiung und Nostalgie auf dem Screen, dünne Häute werden unter dickem Fell begraben. Ein Blick nach Stars Hollow, wo Worte zu Waffen werden.

Von akutmag

Text von Janica Madjar

Endlich im Herbst angekommen, der Wind aus dem Norden bringt den Winter. Innerhalb von nur etwa acht Stunden sind die Temperaturen in den Keller gesackt und da geblieben, ich trage seither nur noch Flanell und Hühnerhaut. Ich kann mich nicht erinnern, wie der September an mir vorbeigezogen ist, ich war irgendwie immer ein bisschen tipsy. Die zweite Oktoberwoche war wohl die schönste des Jahres. Ich habe meine Mutter besucht und wir waren zusammen in den Bergen. Die Sonnenstrahlen sind in uns hineingefallen. Herbststrahlen, die trotz 25 Grad weniger stark sind, als das Licht im August. Ich habe sie sorgfältig in den Winterspeicher geshiftet, in der Hoffnung, sie mögen mich die nächsten Monate wärmen. Mein Magen war ein Heliumballon, der von innen erbarmungslos gegen meinen Brustkorb drückte wegen irgendeinem (oh no, verdammt, nicht schon wieder) Boycrush von Tinder. Ausserdem schlief ich nicht gut, die eigene millimetergenaue Vermessung hielt mich wach. Die Farben all der Pflanzen, die sich auf den Winterschlaf vorbereiteten, verstärkten das Gefühl in mir, haarscharf an einer Simulation vorbeizuschrammen. Die Regeln besagen, dass der Herbst jedes Jahr aufs Neue der Kick-off ist für eine erneuten Gilmore Girls Serienmarathon. Das ist persönliche Überzeugung und scheinbar auch ein TikTok Trend. Ich schimpfe mich zu alt für TikTok, was natürlich die Fehleinschätzung im Endstadium ist. Klar, ich ballere mir TikToks drei Wochen später bei Instagram rein. Aber die Kürbisse und Laubbäume im Sepiafilter. Orange, ewige Rückkehrung, ewige Dauerschleife, ewige Gilmore-Season, ewiges Feel Good. «Lorelai, you have the word ‚Juciy‘ on your rare end», oh Emily, wenn du uns Girls heute wieder sehen könntest. Wir chillen nur noch im samtenen Full Juicy-Tracksuit.

Ich stritt mit einer Freundin beim Kaffeetrinken darüber, ob die Serie nun gut gealtert sei, oder nicht. Immerhin sprechen wir hier von über 20 Jahren Klischeedenken. Zusammenfassend gibt es wohl genau so viele Argumente dafür, wie dagegen. Für den Anfang der 2000er-Jahre waren die Gilmores vielleicht keine Revolution, aber bestimmt eine Befreiung. Ich empfinde sie noch heute als solche. Die Serie befasst sich in acht Staffeln mit Lorelai Gilmore, einer alleinerziehenden Mutter, und ihrer Tochter Rory. Beste Freundinnen, gewitzt, schlagfertig, nehmen kein Blatt vor den Mund, ernähren sich schuldfrei von dem, worauf sie gerade Bock haben, lieben Kaffee, trinken zu viel davon. Eine Geschichte vom Leben in Stars Hollow, einer Kleinstadt an der US-amerikanischen Ostküste, gespickt mit Anspielungen auf Pop Culture, Filmklassik und Literatur. Es geht um Wissen, Selbstverwirklichung und weiche Aufregung, getrieben durch Turbulenz und Verliebtheit. Alles eben, was mich und meine Freundinnen auch im Herbst 2023 nächtelang wach hält. Natürlich können wir uns über das furchtbare bis angsteinflössende Männerbild unterhalten. All die Lukes, Deans und Jesses, die sich am liebsten die ganze Zeit aus Eifersucht die Köpfe einschlagen würden und sich eher grummelnd hinter Büschen verstecken, als über ihre Empfindungen zu sprechen. Oder über die zwar nett gemeinten, aber wenn überhaupt queeren Nebenrollen, die in jeder fünften Folge mal das Joke-Glas klirren lassen. Sweetes Leben in der weissen, heteronormativen Dreamworld eurer Grosseltern. Es gibt vieles besser zu machen. In den letzten 20 Jahren ist dahingehen zum Glück ein wenig was passiert. Nur toxic Jesse-Charaktere lerne ich leider noch immer zur Genüge kennen. Und draussen hat es gerade eben zu regnen begonnen, Stars Hollow ist in Watte gebauscht, es fällt höchstens sanfter Schnee, der niemanden frieren lässt. Alle tragen die nice Übergangsjacke, für die es nie eine Zeit gibt. Sucht euch einen Manic Pixie Dream Boy Vibe aus, aber verlangt die Liste ihrer Top fünf Traumata vor dem ersten Date. Anyways, alles aushaltbar, Guilty Pleasure und nach wie vor; so fucking einfach, sich mit Lorelai zu identifizieren. Amy Sherman-Palladinos Gilmore Girls ist und bleibt was vom Besten, das du dir bei Netflix reinziehen kannst. 

Gilmore Girls zelebriert Zerbrechlichkeit und wandelt sie um in Stärke. Es gibt keine «I truly love you» Momente, es gibt nur grobe Aufrichtigkeit und Zynismus. Keine aufgeladenen Stimmungsbögen aus Dramas und Soaps, um Emotionen zu untermauern. Worte sind Waffen, jedes Gespräch in kampforientiertem Tempo. Es gibt nur den Sieg der Girls, keine Alternativen, keine Verschnaufpausen. Ich ziehe Lebensweisheiten aus den Gefechten. Frauen, eigens stehende Frauen, ohne Typen, die so schnell und mit so vielen Worte wie möglich sprechen, um Herrin der persönlichen Einsamkeit zu werden. Es sind Worte, die Mauern bauen. Mauern so hoch, dass nichts sie bezwingen mag. So dick, dass keine Stille, kein Schweigen, kein Gaffen, kein Grabschen, keine auch nur leiseste Ahnung von Sterblichkeit und Verletzung, nicht einmal romantische Liebe sie durchdringen kann. Und auch wenn wir Zuschauer:innen hinter diese Mauer blicken können, wünschen wir uns doch auf keinen Fall, dass sich Lorelai all diesen Gefühlen und all dem Leid stellt, weich wird, um sich dann in den Dunst eines Slimeys zu wandeln. Im schlimmsten Fall in direkter Abhängigkeit von Dritten. Lorelai ist im Endeffekt eine Stoikerin und ihre sprachliche Cleverness ist die Shotgun, um den Weltschmerz und die Ablehnung auszuhalten. Füll mir das Glas mit diesem Scharfsinn, vor allem wenn ich mich das nächste Mal wiederfinde in Zusammenhängen, die mir nicht guttun. Lass es spekulative Romantik, gefolgt von Phantomliebeskummer sein. Im nächsten Moment, in dem trotz des ausgefeilten Therapievokabulars und dem präzisen Bestimmen der Emotionen, die ich mit mir herumtrage, eine Hilflosigkeit bezüglich des darauffolgenden Handelns herrscht. Bei den nächsten Wahlen, oder ungewollten Gesprächen an Weihnachtsfamilienfesten. Herbst ist nur einmal im Jahr, aber die Gilmore Season kann ewig dauern. 

30. Oktober 2023

Weitere Artikel

Back:

Next:

Support us!

Damit wir noch besser werden