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Mit anderen Augen sehen – Sommernachtstraum einer fremden Oma

Wie mich die Begegnung mit einer fremden Oma an die Pluralität jedes Momentes erinnert hat, und welche Möglichkeiten sich eröffnen, wenn wir unser Leben öfter mit den Augen der Menschen um uns herum sehen.

Von Michelle Müller

Ein Dienstagabend Ende August letzten Jahres, 23 Uhr: Ich sitze auf meinem Rennrad und fahre mit Highway-Speed durch die Stadt. In meinen Ohren singt die Playlist einer vergangenen Reise. Der Abend mit Freund:innen war schön, die Gespräche tief und das Beisammensein erfüllend. Durch meinen Kopf jagen Gesprächsfetzen unserer Diskussionen, die laute Stimme meiner Lieblingsinterpretin der Woche und das Verlangen, dass dieser Abend noch nicht zu Ende geht. Ich entscheide, mich den noch ungelebten Möglichkeiten dieser Nacht hinzugeben und fahre zum See, um baden zu gehen.  

An der Seepromenade sind ausser mir noch zwei Männer. Sie sitzen im Dunkeln auf einer Parkbank. Der Gedanke, ob ich mich hier allein sicher fühle, streift mir durch den Kopf. Doch ich wasche ihn mit dem Eintauchen in das kühle Wasser weg. Ich entscheide, dass dieser Moment mir gehört, und versuche, die Genugtuung dieses kleinen spontanen Ausfluges anzunehmen. 

Ich steige aus dem Wasser und drei Gestalten treten mir aus der Dunkelheit entgegen: eine ältere Frau und zwei junge Erwachsene. Sie sprechen Englisch und kommen schüchtern auf mich zu. Sie erkundigen sich, ob es nicht verboten sei, hier zu baden, wegen der Schlangen. Ich schüttle verwirrt den Kopf, kleine Wassertropfen lösen sich aus meinen Haaren und fallen neben mir zu Boden. Die beiden jungen Erwachsenen tauchen ins dunkle Wasser, während die ältere Frau die Situation vom Ufer aus beobachtet. Ihr Gesicht ist von feinen Linien durchzogen, die anfangen zu tanzen, als sich ihr Mund zu einem kleinen Lächeln formt. Wie so oft hätte ich schweigen und mich dem Nachhauseweg widmen können. Doch ich entscheide mich dazu, mit der fremden Frau ins Gespräch zu kommen. 

Sie erzählt mir, dass sie aus Minnesota komme und acht Enkel habe. Mit jedem möchte sie eine memorable Reise machen. Mit Eva reist sie gerade von London nach Rom. An diesen Erinnerungen sollen sich ihre Enkel eines Tages festhalten können, wenn sie mal nicht mehr sei, sagt sie mir mit leuchtenden Augen.

Das glucksende Lachen der beiden im Wasser durchbricht die Stille der Nacht und die Frau erzählt weiter. Fast ganz Europa und die USA habe sie in den letzten Jahren auf diesen, wie sie es nennt, letzten Reisen bereist. Mit fasziniertem Blick macht sie während des Redens Fotos von ihrer Enkelin und einem jungen Mann. Den hätten sie heute auf einer Tour kennengelernt. Ich stehe neben ihr, mit Blick auf den See und versuche mir vorzustellen, was dieser Moment für sie bedeutet. Wie fühlt es sich an, bewusst auf die letzten Reisen des eigenen Lebens zu gehen? Momente in Bildern festzuhalten, ohne zu wissen, wie oft man sich diese noch anschauen kann? 

Mit einem leisen Klicken fängt sie einen Moment ein, der sich bei mir irgendwo schweigend zwischen den Banalitäten des Alltags verliert. An einem Ort, der für mich Normalität ist und den ich so oft unbemerkt als Bühne meines Erlebens benutze. Dieselbe Nacht, derselbe Ort, dieselbe Zeit, dieselbe Begegnung. Zugleich solch eine plurale Bedeutung des Erlebens. Für die beiden wird es womöglich eine lustige Geschichte sein über eine Nacht, in der sie in der Schweiz schwimmen waren, trotz möglicher Schlangen im See. Momente, an die sich ihre Enkelin eines Tags nostalgisch erinnern wird, wenn sie durch das Fotoalbum der letzten Reisen mit ihrer Oma blättert oder heute wohl eher wischt.  

Ich schwinge mich auf mein Rad und blicke noch einmal zurück. Die fremde Oma geht ins Wasser. Ich schliesse kurz die Augen und mache Klick

In einer Zeit, in der sich, offline und online, so viele verschiedene Realitäten, Möglichkeiten, Wahrheiten, Lügen und Bühnen eröffnen, werde ich mir immer mehr der Unabdingbarkeit des Erlebens durch die Augen anderer bewusst. Ab und zu versuche ich, die Mauern in meinem Kopf zu durchbrechen, indem ich die Welt durch ein anderes Fenster betrachte. 

Aus einem Moment können so viele Geschichten entstehen. Wenn mir mein persönlicher Blickwinkel eines Tages nicht mehr zusagt, kann ich mich einfach nach einem anderen umsehen.  

(Dieser Text einer wahren Begegnung wurde von der Redaktion für die Vollständigkeit des Artikels leicht ergänzt)

29. Februar 2024

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