Rückblick: Propog, das provisorische Polizeigefängnis, steht seit gut einem Jahr nicht mehr auf dem Kasernenareal, dem Zentrum des 1. Mai und damit dem Ort, der Zeichen setzt, gegen staatliche und polizeiliche Repression. Das Provisorium wurde ursprünglich als zeitlich begrenztes (fünf Jahre) Polizeigefängnis gebaut, um die Drogenkriminalität im Nachhall der Neunzigerjahre und der offenen Drogenszene am Platzspitz und am Bahnhof Letten einzudämmen. Tatsächlich operierte die dreistöckige Bettonbarracke mit über 130 Haftplätzen, in welche Journalist:innen nur spärlichen Zutritt bekamen, aber von 1995 bis 2023. In diesen 28 Jahren(!) warteten Insassen 23 Stunden bis zu sieben Tagen oder länger in spartanisch eingerichteten Zellen auf ihr Hafturteil: Untersuchungshaft, schneller Gerichtsprozess oder Freiheit. Haftschock im Unwissen. Unzählige Skandale stellten die Daseinsberechtigung der Polizeigefängnisse immer wieder in Frage. Von Suiziden über Erzählungen unzumutbarer Haftbedingungen wie Hitze, Kälte und Körperhygiene hin zu Missbrauchsanschuldigungen durch Personal, Ermittler:innen und Staatsanwaltschaft lässt sich in den schweizerischen Medienarchiven alles finden. Trotz dieser grossen Kontroversen, welche der Schweiz als Mitglied internationaler Staatsverträge auch scharfe Kritik einbrachten, blieb das Propog als repressive Institution bestehen. Nun ist dieser Schandfleck weg. Ausradiert. Fast.
Viele der Häftlinge sassen vor ihrem 18. Lebensjahr bereits mehrere Tage im Propog. Sie waren Kinder. Oder Teenager. Dass dies gegen internationale Menschenrechte verstossen hat, ist klar und muss hier nicht ausgeführt werden. Die Minderjährigen von damals sind heute Erwachsen. Auch wenn ein Ort der Erinnerung fehlt, bleiben die prägenden Erinnerungen. Eine Mahnung an den Umgang mit herangehenden, heranwachsenden Bürger:innen – wir vergessen nicht.
Die Namen der Interviewpartner kürzen wir ab. Was sie gemeinsam haben: Sie alle verbrachten Zeit hinter den Gittern des Propogs, als sie zwischen 14 und 17 Jahren alt, waren. Die meisten wurden nie für den Verstoss gegen den zu untersuchenden Tatbestand belangt.
R. wird nach einem Fussballspiel auf der Strasse verhaftet. Das erste Anliegen der Zivilpolizei: Handy entsperren. R. hat aufgepasst bei den Erzählungen seiner Freund:innen und besteht darauf, dass das Handy versiegelt bleibt. Er wird es über ein Jahr lang nicht mehr sehen. Danach machte man Fotos von ihm und nahm DNA-Proben. Bei J. wurden auch die Tattoos gescannt. O. erzählt, dass er gewaltsam auf den Boden gedrückt wurde und man ihm schlussendlich so Speichelproben entnommen hätte, weil er sich weigerte, diese freiwillig abzugeben. Nach der Massenzelle gab es graue Trainerhose und Crocs, eine Doppel- oder Einzelzelle und Café Complet (Brot mit Butter und Käse). Andere wurden in eine Wartebox, einen zwei Quadratmeter grossen Sicherungsraum, ohne Lüftung, platziert. Darin wurde es im Sommer gerne über 35 Grad heiss. Warum sie inhaftiert wurden, wussten die meisten noch nicht. Eine Einvernehmung hatte noch nicht stattgefunden.
R. erzählt weiter, dass die erste Nacht sehr kalt war. Die Wolldecke dünn. Dem Wunsch nach einem Pullover kam man nicht nach.
Bis auf einen angeschraubten Tisch, eine Bank, eine Toilettenschüssel aus Stahl ohne Rand und ein Gitterbett mit dünner Matratze gab es in den Zellen nichts.
Um die Gedanken ruhigzustellen, suchte man nach Ablenkung. Die Jugendlichen wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht richtig, was gerade geschieht und wie es weitergehen würde. Dabei waren sie bis auf die eine Stunde Hofgang den ganzen Tag in der Zelle, ohne Eltern und ohne Freund:innen. Fernseher gab es keine, und der Radioknopf neben der Notfallsprechanlage spielte nur einen Sender in nervtötender Qualität.
«Als ich gefragt habe, ob sie etwas zu lesen hätten, bekam ich Reisemagazine», erzählt S.
Die meisten wurden alle zwei bis drei Tage gefragt, ob sie Duschen wollten. R. jedoch konnte erst nach vier Tagen duschen: «Ich drehte meine Kleider mehrfach um, ich stank fürchterlich.» Doch gestunken hat es im gesamten Bau. Die Lüftung sei regelmässig ausgefallen. Bei einer vollbesetzten Baracke machte sich dies schon nach wenigen Minuten bemerkbar.
Ein Interviewpartner erzählt von seinem Zellennachbar, der weder Deutsch noch eine andere Landessprache flüssig sprechen konnte: Mit fremden Erwachsenen in der gleichen Zelle im gleichen Gefängnis ergab sich ein ungewohnter Zwangsaustausch.
Die Kommunikation in gebrochenem Englisch war möglich. «Ich habe eigentlich die meiste Zeit des Tages damit verbracht, ihm die gerichtlichen Anordnungen und polizeilichen Dokumente zu übersetzen. Erst da habe ich begriffen, wie viel schwerer meine Situation wäre, verstünde ich die deutsche Sprache nicht, und wie schlimm andere dran sind. Er wurde verhaftet wegen einem Gramm Gras.»
Einige der Jugendlichen wurden auch zuhause abgeholt. Hausdurchsuchung um 06:30. Waren die Eltern zuhause, wurden diese über die nächsten Prozessschritte informiert. In anderen Fällen erfuhren die Angehörigen, wie auch die Arbeitgeber:innen erst durch die Anwält:innen der betroffenen Minderjährigen, wo sie sind.
Alle der ehemaligen Insassen erzählen dasselbe: 48 Stunden waren sie auf sich allein gestellt, unwissend, was sie erwartet, uninformiert über ihre rechtliche Situation. Nach 48 Stunden wurde S. der Jugendanwaltschaft vorgestellt, ihm wurde dann erklärt, dass er ab diesem Zeitpunkt einen Rechtsbeistand hinzuziehen dürfte. Davon wurde jedoch oft nachdrücklich abgeraten. «Sie erklärten mir, wie teuer so ein Anwalt sei, dass es sich für ein solches Bagatelldelikt wie meines nicht lohnen würde, einen hinzuzuziehen. Dass ich meine Eltern schneller wieder sähe, wenn man daraus keine grosse Sache machen würde», erzählt S. Druckmittel, die bei Kindern wirken: Familie. Im Falle von Y. wurde die zeitliche Grenze klar überschritten. Rund drei Tage lang sprach man mit ihm weder über seinen Fall, noch liess man ihn einen Rechtsbeistand informieren.
Die Anwält:innen waren es, die Familie und Arbeitgeber:in über die aktuelle Lage informierten und sich um allfälliges Belangen wie frische Kleidung und Toilettenartikel kümmerten. Mit dem Besuch bei der Jugendanwaltschaft wurden auch einige offene Fragen beantwortet. Erste Informationen zum Fall wurden ersichtlich. Denjenigen, die bis dahin noch nicht verhört worden waren, erklärte man die weiteren Prozessschritte. Wann, warum und unter welchen Umständen Untersuchungshaft beantragt werden kann.
Auch von kleinen Psychospielen erzählen mir die Gefangenen von damals. Aussagen von Angestellten wie: «Du kriegst Wasser ja, aber ich kann damit machen, was ich will, bevor es bei dir ankommt», schürten Misstrauen und Unsicherheit. Dass sich dann effektiv auch 40 Minuten vergingen, bis D. das Wasser bekam, verstärkte den Effekt des Spruches noch um ein Vielfaches.
Auch die stündliche Zigarettenabgabe wurde je nach Lust und Laune der Angestellten eingehalten oder nicht. Mit Äusserungen zu Hautfarbe und dem Erscheinungsbild der Insassen hielt man sich ebenfalls nicht zurück.
In den Zellen gab es weder Uhren noch Wecker. Die Zellen, die zum Hof ausgerichtet waren, gaben den Blick frei auf die Uhr der Polizeiwache. Um sich zeitlich situieren zu können, verfolgte man gebannt den Stunden- und Minutenzeiger. Die Zeitangabe darauf: Fehlerhaft. Gemerkt haben das einige durch den Vergleich mit sporadischen Zeitansagen aus dem Radio.
S. erzählt von einer Inschrift (Tabakasche in den Beton eingeritzt) an seiner Zellenwand: «Lass dich nicht ficken! Die Uhr geht falsch!» Und M. wagt zu behaupten, dass er über die sechs Tage, die er im Propog verbracht hat, herausfinden konnte, dass die Uhr um 90 Minuten nachging.
F. erzählt auch von den Verhören: «Sie sagten mir, es sei zwecklos zu lügen. Meine Freunde hätten schon alles ausgepackt. Dass sie wissen, dass ich mich strafbar gemacht habe. Dass mich meine Freunde verraten haben. Ich habe die Aussage verweigert und liess mich nicht zu einem falschen Geständnis drängen. Nach unserer Freilassung erfuhr ich dann von meinen Freunden, dass ihnen dasselbe gesagt wurde.» Einem anderen Insassen wurde mitgeteilt, sein Opfer läge im künstlichen Komma, obwohl dem nicht so war.
Kleine Einblicke mit grosser Wirkung. Erfahrungen, die sich bis ins erwachsene Alter ziehen. Auf die Polizei und die Vollzugsanstalten ist heute keiner meiner Interviewpartner gut zu sprechen. Selbst wenn eine Prävention durch Abschreckung Wirkung gezeigt haben könnte: Das generelle Misstrauen gegenüber diesen staatlichen Institutionen bleibt irreversibel. Und somit auch eine Haltung von nun erwachsenen Bürgern. Steuerzahler:innen, die ihre Erfahrungen an Dritte weitergeben. Potenzielle Erziehungsideologien, in welche die Erfahrung einfliessen wird. Die Propog-Repression, und insbesondere die Handhabung von Minderjährigen darin hat tiefe Narben hinterlassen, welche nicht einfach mit einem Abrisskran ungeschehen gemacht werden können.
30. April 2024