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Mental Health: TikTok – eine seelische Stütze für Generation Z

Irgendwo zwischen Besorgnis, Zivilcourage und zugesprochenem Optimismus wirft eine wachsende Community die Frage auf, ob der digitale Voyeurismus für Betroffene von seelischem Leid auch nachhaltig etwas verändert.

Von Joshua Amissah

Tiktok Illustration Social Media Abhängigkeit

Immer mehr Studien setzen sich damit auseinander, dass eine häufige Nutzung von TikTok und anderen sozialen Medien negative Auswirkungen auf die eigene Psyche haben können. Beleidigende Hasskommentare verlassen Absender:innen um einiges flüchtiger und schneller als im echten Leben. Nicht nur das Cybermobbing, sondern auch die digitale Ausgrenzung und Dramen, die in diesen Netzwerken auftreten können, werden des öfteren mit einer höheren Rate an psychischen Problemen bei Jugendlichen in Verbindung gebracht. Dem gegenüber steht eine stets wachsende Community an jungen Menschen, die ihre eigenen psychischen Probleme mit einem Millionenpublikum auf TikTok teilen. Alleine das Schlagwort «Mental Health» verzeichnet bei der Lieblingsplattform der Generation Z über 25.3 Milliarden Aufrufe. Haben wir in der Vergangenheit bei Tumblr schon so gesehen? Ja, so ähnlich. Aber diesmal ohne eine inszenierte Ästhetisierung der Social-Media-Kultur.

Die Kurzvideo-App TikTok mag allgemein geltend hippen Tanzeinlagen, Katzenvideos, humorvollen Komiker:innen und bildhübschen Models eine Plattform bieten, doch wird sie auch von einer Vielzahl an anderen Bevölkerungsgruppen bespielt. Individuen, die in der reellen Welt an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, finden hier plötzlich eine virtuelle Zuschauerschaft, welche im Minutentakt ermutigende Worte der Anerkennung von sich gibt. Die Empfänger:innen dessen äussern sich vermehrt als Digital Natives, die in Form einer Selbstdokumentation von ihrem beeinträchtigten Alltag berichten. Vor der ambulanten Einlieferung in die Psychiatrie. Während der Panikattacke. Nach der Flucht aus dem betreuten Wohnheim.

Eine davon ist Michelle (Namen geändert). Sie lebt im Süden von Deutschland und ist gerade einmal 19 Jahre alt. Schon vor mehreren Jahren wurde bei ihr eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, die sich bei ihr vor allem durch ein gestörtes Selbstbild und eine massive Angst vor der Einsamkeit äussert. Dazu kommen eine posttraumatische Belastungsstörung, eine dissoziative Identitätsstörung, eine anhaltende Depression und eine lange Vergangenheit mit verschiedenen Formen von Essstörungen. Abhängigkeiten von verschiedenen Substanzen begleiten die junge Frau schon fast seit der Hälfte ihres Lebens. Die Liste geht noch weiter und wird mindestens im halbjährlichen Takt erweitert oder neu aufgestellt.

Michelle hat über 50’000 Follower:innen auf TikTok und berichtete für längere Zeit beinahe täglich von ihrem Alltag in der Psychiatrie, verschiedenen Therapieformen, und auch von ihrem seelischen Zustand. Manchmal euphorisch. Manchmal in Tränen. Nach dem dritten Suizidversuch entschied sich Michelle heimlich für einen Tiktok Kanal: «Mir war einfach langweilig. . .», meint sie später dazu. Der Spruch: «Der Vodka rauscht lauter als das Meer. Bin lieber voll als leer», ziert eines der ersten Posts, der mittlerweile von über 600’000 Menschen gesehen wurde. Insgesamt 20’200 Likes und über 300 Kommentare. Die beiden populärsten Kommentare: «Danke, dass du deinen Weg mit uns teilst :D! Ich glaube an dich❤» und «sag das du lebst pls mach mir Sorgen🥺». Irgendwo zwischen Besorgnis, Zivilcourage und zugesprochenem Optimismus wirft es die Frage auf, ob der digitale Voyeurismus für Betroffene auch nachhaltig etwas verändert. Wir konnten uns kurz mit Michelle via DM austauschen:

(…)

Danke, dass du dabei bist! Es war schwierig jemanden zu finden, aber erst einmal: Wie geht es dir?

gut. Der Winter kackt an aber ist easy.

hey ich teile mein Leben sowieso deswegen macht es keinen grossen Unterschied…Verstehe aber schon warum das ein bisschen unangenehm ist. Viele Leute aus der Community sind ja auch anonym unterwegs

ohne Gesicht und so

Ich verstehe! Wir bringen das ja sowieso nur anonymisiert, aber trotzdem: Was meinst du mit der Community? Und wie kann diese auf TikTok anonym unterwegs sein?

ja halt faceless Profile. Die schreiben mir voll oft und ich weiss auch nicht wie die aussehen aber zum Teil haben wir halt die gleichen Erfahrungen und das hilft

Und was verstehst du unter Community?

es gibt voll viele mitdenen bin ich am schreiben seit dem ersten Tag auf Tiktok. Wir schicken uns Updates und schauen aufeinander. Gerade wenn wir das Gefühl haben, dass es sonst niemanden interessiert. Wie eine Family❤

Mega wichtig!
Man kann ja auch nicht alles mit sich selbst ausmachen, und braucht meistens auch einfach eine Form von Austausch! Siehst du da einen Unterschied, ob dieser Austausch digital oder physisch stattfindet?

hmmm..
schon schöner wenn man im reallife eine connection hat, aber ich habe das auch gerade erst letztens meiner psychologin erzählt. Stell dir vor du kannst einfach nur mit deinen besten freundinnen über deine probleme sprechen. und jetzt stell dir mal vor du kannst mit hunderten leuten darüber sprechen. Mir hilft das voll und man lernt voll die neuen leute kennen

Stimmt eigentlich! Ich bin ja kein Psychologe, aber wenn man dafür genug offen ist, dann kann das bestimmt helfen. Und wenn ich Fragen darf: Wie stehen denn deine Psycholog:innen zum Thema TikTok?

hey eigentlich finden die das voll in ordnung. Als ich letztes Mal in der Klinik war, haben sie meinen TikTok Account gefunden und ich durfte dann nur noch am Wochenende auf TikTok sein. Hab ihnen auch erklärt dass das für mich wie ein Tagebuch ist und ich mich damit auch wieder an Sachen erinnere..

Den Tagebuch-Gedanken verstehe ich. Ist ja einfach eine modernere Version, oder? Vielleicht ist das jetzige System auch einfach ein bisschen überfordert mit neuen digitalen Plattformen und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.

Ja!!! Ich konnte ja immer noch hier (auf TikTok) sein aber darf keine Videos mehr machen unter der Woche. Habe dann einfach mehr geschrieben und bin dann auch oft alte posts durchgegangen und hab da kommentiert und so. auch versucht wieder mehr für andere leute da zu sein

I see! Du hast ja auch eine ziemlich grosse Reichweite.
Ist es nicht auch schwierig auf diese tausenden Kommentare zu antworten? Jetzt mal abgesehen von den ganzen Privatnachrichten.

Auf alles antworten geht nicht aber ich versuche es halt wenn ich genug nerven dafür habe..
Denke mir halt so wenn ich nur schon für eine person da sein kann dann war es das auch schon wert. Manchmal hat es bei mir auch einfach nur jemanden gebraucht der mich versteht. Oder auch einfach mal zuhört. Mir hat das so geholfen!! 💖

(….)

31. Januar 2022

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