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Mental Health: Gesellschaftspsychologie

Therapeut:innen sind gefragter denn je. Besonders in den letzten Jahren ist die Anzahl psychischer Erkrankungen gestiegen. Sind wir als Gesellschaft auf dem Weg in Massendepressionen und psychische Erkrankungen und hilft eine Therapie bei solch gesamtgesellschaftlichen Themen überhaupt noch? Diese schwierigen Fragen haben wir Dr. med. Stefan Indergand, Facharzt für Psychiatrie und Psychologie, gestellt.

Von Sina Schmid

In den letzten Jahren ist das Thema mentale Gesundheit immer mehr in den Vordergrund gerückt. Tabuisierte Krankheiten wie die Depression werden diskutiert und es wird dementsprechend aufgeklärt. Aber es scheint auch, als hätte das Ausmass an psychischen Krankheiten ein neues Hoch erreicht. 

Im Gespräch mit Dr. Indergand durften wir einiges lernen. Um aber später tiefer auf die Frage einzugehen, wie es um unsere Gesellschaft und Therapie steht, müssen wir uns erst dem Menschen widmen. 

Herr Indergand erklärt, dass der Mensch ein bio-psycho-soziales Wesen ist, also dreidimensional. Die vierte Dimension wäre die spirituelle, diese fällt in diesem Fall jedoch in den Hintergrund.

Der Mensch: Ein dreidimensionales Wesen

Der Mensch hat den Körper, dieser ist materiell. Dann gibt es die Psyche, welche also immateriell und ungreifbar ist. Zu guter Letzt, die soziale Dimension: Wir alle sind auf die eine oder andere Weise in eine soziale Struktur eingebunden. Unsere Gesundheit umfasst alle drei Dimensionen. Sie sind voneinander abhängig und überschneiden sich. So ist eine Depression eben nicht nur eine psychische Erkrankung, sondern eine bio-psychisch-soziale.

Depressionen äussern sich in Energielosigkeit und Antriebslosigkeit. Das trifft unseren materiellen Körper. Wir bewegen uns weniger, die körperliche Fitness leidet. Generalisierte pessimistische Gedanken wirken sich nicht nur auf unsere Psyche, sondern auch auf unsere sozialen Kontakte aus. Diese Gedanken und die physische Antriebslosigkeit führen zu sozialer Isolation und Einsamkeit. Es fällt auf, dass wir uns in einem Teufelskreis befinden, denn Gesundheit ist nicht eindimensional.

Gesellschaftliche Veränderungen und Sozialpsychologie

Das lässt sich auch auf gesellschaftliche Veränderungen, welche beispielsweise mit der Pandemie einhergingen, projizieren. Viele Betriebe setzten auf Homeoffice. Der Arbeitsweg fiel weg, somit auch die Bewegung und Begegnung. Auch soziale Kontakte waren stark eingeschränkt: Telefonie und E-Mail sind eben nicht dasselbe, wie persönlicher Kontakt. Zudem wurden und werden wir, also unsere Psyche, stetig mit negativen Nachrichten konfrontiert. 

Diese andauernde Konfrontation mit Negativem, auch durch die sozialen Medien, ist für unseren Körper gefährlich. Stressfaktoren wie negative News mobilisieren Hormone, welche dann Ärger auslösen, jedoch nicht nur virtuell. Dieser Ärger und Stress bleibt, es kommt nicht zum «Kampf» um Dampf abzulassen, die Energie bleibt in unserem Körper. 

Ferner heisst das: mehr Hunger, Grundmuskelspannung aber keine betätigte Muskulatur, und ein stetig alarmiertes Stresssystem, welches kontinuierlich aktiviert wird. All diese Themen, online oder in Zeitungen, wirken sich auf unsere Gesundheit aus. Unser Körper wird inaktiver durch Einschränkungen, sozial sind wir isolierter und psychisch pessimistischer: der Teufelskreis grüsst erneut. 

Die meisten sind sich bewusst, dass die Negativschlagzeilen allgegenwärtig sind und uns oft wiederholt beschäftigen werden. Wie können wir, nach diesem Digitalisierungsschub, weiterhin die Gesundheit der Gesellschaft fördern? Die Hoffnung bleibt, dass das Ganze auch Bewusstsein für die dreidimensionale Gesundheit schafft.

Psychotherapie bei gesamtgesellschaftlichen Themen

Des Weiteren stellt sich die Frage, ob Psychotherapie bei so gesamtgesellschaftlichen Themen überhaupt noch nützt. Dr. Indergand sagt hier, dass eine Psychotherapie nur dann nützlich ist, wenn alle drei Dimensionen verbessert werden. Nicht nur das Mindset, sondern auch das Sozialleben und der materielle Körper müssen durch das in der Therapie erschaffene Bewusstsein profitieren. Erkenntnisse müssen also auf allen drei Bereichen angewendet werden.

Die Gesellschaft hierzulande hat zudem eine grosse Erwartungshaltung an die kurative Medizin. Gibt es ein Problem, muss dieses sofort gelöst werden, ob durch eine Pille, einen Gips, ein Magenband. Gibt es einen Störfaktor, braucht es auch sofort etwas, das diesen verschwinden lässt. Die Motivation gesund zu bleiben, also präventiv zu agieren, muss aber weiter gefördert werden, und indessen das bio-psycho-soziale Modell. 

Auch unsere Arbeitgeber werden in Zukunft mehr auf diese Fragen eingehen müssen. Denn Themen wie Burnout und Stress mit psychosomatischen Folgen haben zugenommen. Durch die Spezialisierung hat sich die Belastung enorm verändert. Es gibt Arbeitsplätze, die es vor 50 Jahren noch niemand kannte.

Diese Veränderungen müssen auch in der Art und Weise, wie Gesundheit angegangen wird, evolvieren. So soll in Zukunft das Bewusstsein über gesundheitliche Risiken der Digitalisierung gefördert werden.

Vermehrte psychische Probleme bei Jugendlichen

Viele Jugendliche laufen Gefahr, sich in Richtung Vereinsamung zu entwickeln. Die vermeintlichen Kontakte zur Aussenwelt via Social Media, decken eben nicht alle drei Dimensionen ab. Handys ersetzten echten Körperkontakt nicht. Dieses euphemistische Narrativ, dass durch Facetime und Whatsapp diese Bedürfnisse gestillt werden, stimmt eben nicht. 

Zudem darf der Aspekt des Schlafmangels nicht vergessen werden: Wer lange abends am Handy ist, dann aber früh auf muss, wird Müdigkeit erfahren. Diese Müdigkeit sorgt dafür, dass weniger Bewegung passiert, und dass weniger physische soziale Kontakte gepflegt werden. Auch hier lässt sich wieder ein Muster erkennen. 

Diese jugendspezifischen Probleme haben sich auch mit den Schulschliessungen und dem Online-Unterricht während der Pandemie gezeigt: Bildung ist nicht nur Wissen in Form von Schulbüchern zu erlangen. Soziale Intelligenz kann nicht nur in Theorie angeeignet werden. Zum Erwachsenwerden gehört mehr. Für Student:innen fiel in vielen Fällen Zeit weg, in welcher ein beruflich-soziales Netzwerk aufgebaut werden konnte und sollte. 

Diese Problematiken wirken sich automatisch auf unsere Gesundheit aus. Denn nochmals: Mentale Gesundheit ist eben nicht nur mental, sie betrifft alles, was wir haben. 

10. Januar 2022

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