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Fight the Power #9

Ein Gespräch mit der palästinensischen Autorin Mariam Bargouthi über ihr Leben in Ramallah, vom Israel besetzten Westjordanland. Über die Vertreibungen von Palästinenser:innen durch die israelische Siedlungspolitik, ihrer eigenen massiv eingeschränkte Bewegungsfreiheit und die permanenten Angriffe auf Presse- und Meinungsfreiheit von allen Seiten. Und über verlorene Jahrzehnte als junge Frau.

Von Daniel Ryser

Ich wollte mit Mariam Bargouthi, Autorin, laute Kritikerin der nach Völkerrecht illegalen, israelischen Siedlungspolitik, wie auch der Palästinensischen Autonomiebehörde, schon lange sprechen. Aber sie war zu beschäftigt in den Tagen des Krieges, der Angriffe auf Gaza als direkte Folge der Vertreibungen in Scheich Dscharrah mit sich zog. Sie schrieb Meinungsstücke für die Washington Post («Wen beschützt die Palästinensische Autonomiebehörde? Uns jedenfalls nicht.»), gab Interviews auf Democracy Now («Wir leben in einem Polizeistaat ohne Staat»), wo sie die israelische Politik als «Siedlungskolonialismus» und die Palästinensische Autonomiebehörde als eine autoritäre Maschine, zerfressen von Korruption, bezeichnete. Sie sagte einem Interview zu, tauchte ab, die Situation vor ihrer Haustür eskalierte immer mehr, erst die Vertreibungen, die israelischen Bulldozer, die in Jerusalem massenhaft palästinensische Häuser zerstören, dann der Krieg auf Gaza, dann die brutalen Angriffe auf Demonstrant:innen durch die Autonomiebehörde in ihrem Wohnort Ramallah, die nach der Ermordung des Polit-Aktivisten Nizar Banat auf die Strasse gegangen waren: Kein Ende des Schreckens in Sicht.

Mariam Bargouthi, Autorin aus Ramallah, 50’000 Follower auf Instagram, Soziologin, eine wichtige Stimme im Westjordanland, weil sie international gehört wird: Sie erscheint auf Al Jazeera English, schreibt im Guardian, für die BBC, die New York Times, den Middle East Monitor. Während der Vertreibungen von palästinensischen Familien aus ihren Häusern in Jerusalem durch die israelische Armee, twitterte sie im Mai quasi im Minutentakt – woruafhin Twitter kurzfristig ihren Account sperrte. Ein «technischer Fehler», wie das Unternehmen später behauptete.

Schliesslich telefonierten wir an einem späten Mittwochabend doch noch. Bargouthi rauchte während des Gesprächs Zigaretten von Pueblo in Kette, manchmal reagierte sie genervt auf meine Fragen – der Journalist aus der Schweiz repetiere zum Teil tausendfach gehörte Stereotypen, sagte sie. Etwa, als ich sie im Gespräch selbstverständlich als Aktivistin bezeichnete. «Warum nennst du mich eigentlich eine Aktivistin?», fragte sie. «Ich bin keine Aktivistin. Alles, was ich will, ist ein normales Leben führen.»

Interview mit einer Frau, die sich von der Angst nicht sprachlos machen lässt.

Mariam Bargouthi, die schlimmen Nachrichten aus Ihrer Heimat überschlagen sich. Palästinensische Menschen werden aufgrund der israelischen Siedlungspolitik aus ihren Häusern vertrieben, die Häuser werden teils zerstört. Dann die Bombardierung des Gaza-Streifens. Dann wieder Alltag: Wo Palästinenser hunderte Jahre lebten, sollen israelische Siedlungen entstehen. Gleichzeitig konnte man von massiven Angriffen auf palästinensische Aktivist:innen und Journalist:innen in der Westbank lesen – und zwar hier nicht durch das israelische Militär, sondern durch Polizisten und Schläger der Palästinensische Autonomiebehörde. Nizar Banat, ein heftiger Kritiker der Autonomiebehörde, wurde verschleppt und dann in Haft ermordet. Palästinenser:innen scheinen in der Westbank und in Gaza von allen Seiten erstickt zu werden. Kürzlich twitterten Sie: «Als palästinensische Autorin und Journalistin werden wir von den Redaktionen auf der Welt im Stich gelassen.» Können Sie schildern, wie Sie als Autorin, die kein Blatt vor den Mund nimmt, überhaupt Ihren Alltag meistern? 

Die Situation ist extrem übel. Journalist:innen werden ständig von allen Seiten angegriffen, von den Israelis wie auch von den palästinensischen Behörden. Wir warnen davor seit Jahren, und jetzt passiert es ganz offen: Auf der einen Seite die Straflosigkeit der Israelis, auf der anderen Seite die Autonomiebehörde, die extrem korrupt ist und Kritiker:innen einfach zusammenschlägt, wegsperrt oder sogar ermorden lässt. Die Frauen wurden bei den Protesten gegen die Ermordung von Nizar Banat von Fatah-Schlägern verbal bedroht und sexuell belästigt, die protestierenden Männer zusammengeschlagen. Omar Nazzal etwa, ein Journalist wurde zehn Monate lang von Israel weggesperrt ohne Anklage, als er ausreisen wollte, um an einer Konferenz der European Federation of Journalists teilzunehmen. Sami al-Sai: Verhaftet, weil er die Autonomiebehörde kritisiert hat. Wieder und wieder. Das ist mein Alltag. Es ist alles extrem übel.

Sie werden von allen Seiten angegriffen?

Ja.

Warum? Erklären Sie das.

Was warum? Das eine, Israel, ist ein koloniales Regime, das andere, die Autonomiebehörde, ist ein autoritäres Regime. Es ist nicht bloss die Pressefreiheit, die im Westjordanland verunmöglicht wird. Es ist die Meinungsfreiheit generell. Die Freiheit, Wissen zu vermitteln. Die Dinge entfalten sich mit grossem Tempo: überall werden Palästinenser:innen vertrieben, neue jüdische Siedlungen entstehen, nicht nur in Jerusalem sondern überall im Westjordanland. Wir werden auf der einen Seite von der israelischen Armee angegriffen, einem Regime, das dazu da ist, die völkerrechtswidrigen Siedlungen durchzusetzen und dann zu beschützen, und auf der anderen Seite von der Autonomiebehörde: Unsere Leute werden verhaftet, eingesperrt, gefoltert. Niemand traut dem anderen. Ist der, der an einer Demonstration gegen das Regime oder den Siedlungsbau neben dir steht, ein Zivilist? Ein Fatah-Schläger?Oder ein Undercover-Polizist? 

Wer ist es, der angegriffen wird?

Palästinenser:innen, die ihre Stimme erheben gegen die Apartheid, gegen die Verfolgung, die Vertreibung, die Korruption. Palästinenser:innen die sagen, dass wir Besseres verdient haben.

Können Sie von Ihrer persönlichen Situation erzählen, als Autorin und Aktivistin in Ramallah?

Zuerst einmal: Ich bin keine Aktivistin. Bloss, weil ich ein normales Leben führen will, macht mich das noch nicht zu einer Aktivistin. Aber ja, es ist mir bewusst, und das ist Teil meines Alltags, dass ich dafür mein Leben risikiere. Allein für ein Interview wie hier mit Ihnen. Das israelische Militär verhaftet Palästinenser ohne Gerichtsverfahren, ohne Anklage, was nach internationalem Recht illegal ist. Es herrscht völlige Willkür im Westjordanland. Man wird in Militärgefängnissen gehalten ohne Anklage und Urteil. Und meistens ist es exakt nur wegen dem, was ich hier tue: Dinge benennen. Die Dichterin Dareen Tatour sass zwei Jahre im Gefängnis oder im Hausarrest wegen eines Gedichts.

Die Gewalt ist nicht immer offensichtlich. Sie zersetzt den Alltag. Gewalt ist nicht nur, wenn Gaza mal wieder kaputt bombardiert wird. Die Gewalt ist hier überall. Jüdische Siedler, die durch die Strassen ziehen und unbescholten «Tod den Arabern» skandieren, Menschen angreifen und dafür vom israelischen Militär beschützt werden: Dieser gewalttätige Rassismus ist unser Alltag. Die Straflosigkeit. Die ethnischen Säuberungen in Jerusalem. Aber es ist noch viel mehr: Es ist ein bürokratisches System, das uns Palästinenser:innen den Alltag verunmöglich. Das es uns verunmöglicht, ein ganz normales Leben zu führen. 

Wenn Sie vom bürokratischen System sprechen, das den Alltag verunmöglicht: Sie leben in Ramallah, einer Stadt in der Westbank mit rund 40’000 Einwohner:innen. Eine Autostunde entfernt liegt Jerusalem. Können Sie morgens aufstehen und zum Beispiel Ihre Freund:innen in Jerusalem besuchen?

Nein, das kann ich nicht. Das ist mir nicht erlaubt. Das System der Besatzung erlaubt es nicht.

Können Sie das ausführen?

Ich habe eine sogenannte Westbank-ID. Palästinenser:innen mit einer Westbank-ID dürfen nicht nach Jerusalem oder ins historische Palästina reisen. Unsere Bewegungsfreiheit ist extrem eingeschränkt. Ich darf auch nicht nach Gaza reisen, und Menschen, die in Gaza leben, dürfen Gaza nicht verlassen. Die einzige Ausnahme: Eine Erlaubnis des israelischen Militärs. Oder von den Ägyptern, im Falle Gazas. Bewegungsfreiheit existiert in Palästina nicht, dem ursprünglichen Palästina, das vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer reichte. Palästina ist zerschnitten von militärischen Checkpoints und Mauern. Ich kann mich noch nicht einmal in Ramallah selbst völlig frei bewegen. Die israelische Armee kann jeder Zeit eine Stadt zur militärischen Sperrzone erklären mit Checkpoints an jeder Ecke.

Und wenn ich medizinische Behandlung brauche? Was dann? Was bedeutet das für Menschen, die schwer krank sind?

Palästinenser:innen in Gaza verfügen über kein funktionierendes Gesundheitssystem, weil Israel die nötigen Ressourcen nicht in den Streifen gelangen lässt. Gaza wird seit fünfzehn Jahren belagert und abgesperrt. Und seit 2008 wird es regelmässig bombardiert. Palästinenser:innen, die beispielsweise Chemotherapie benötigen müssen dafür nach Jerusalem oder Tel Aviv reisen. Kriegen Sie die? Es ist nicht gesagt. Sie müssen dafür Genehmigungen einholen. Kriegen Sie die Bewilligung? Nur vielleicht. Manchmal kriegen Kinder beispielsweise Bewilligungen, ihre Eltern aber nicht. Sie müssen dann alleine ins Spital für die Chemotherapie.

Wie kriegt man solche Bewilligungen?

Es ist extrem schwierig. Eine feindselige Bürokratie durch die Behörden. Jemand wie ich, der laut Kritik übt, kriegt keine solchen Bewilligungen. Wenn Sie die Meinung vertreten, dass Israel ein koloniales Regime ist, können Sie es vergessen, irgendwas zu kriegen. So sehr fürchtet man offensichtlich unsere Stimmen, obwohl sie es ja sind, die diese extrem gewalttätigen und schrecklichen Verbrechen verüben. Ich äussere nur meine Meinung.

Wie sehr fühlen Sie sich von der Welt im Stich gelassen? Selbst wenn Gaza bombardiert wird, verweist ein Grossteil der westlichen Medien auf die Hamas-Raketen, die ja ihren Teil dazu beigetragen hätten. Dieser Alltagsschrecken, den Sie beschreiben, wird kaum thematisiert.

Ich bin froh, dass etwa die Aktion von Ben&Jerry’s, kein Eis mehr in den illegalen Siedlungsgebieten zu verkaufen, ein solch grosses Echo ausgelöst hat. Aber leider reicht eine solche Aktion bei weitem nicht. Vor zwanzig Jahren hätte es vielleicht gereicht. Ich weiss es nicht. Doch inziwschen sind die Vertreibungen, die Hetzjagden, derart Alltag geworden: Es reicht einfach nicht. Wir brauchen eine komplette Delegitimierung der ethnischen Säuberungen im Westjordanland. Das sind alles Kriegsverbrechen. Ausnahmslos alles Kriegsverbrechen. Soldaten wurden angewiesen, Demonstrierenden und Journalist:innen beim sogenannten «Grossen Marsch der Rückkehr» in Gaza scharf in die Knie zu schiessen. Das waren friedliche Proteste gegen die Gaza-Blockade. Bei den Protesten gab es hunderte Schwerverletzte. Es ist schön und gut, kein Eis mehr in den besetzten Gebieten zu verkaufen. Aber was es wirklich braucht ist, dass diese Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Von der internationalen Gemeinschaft.

Sie sagen also: Pressefreiheit existiert unter der israelischen Besatzung nicht ansatzweise. Im Gegenteil: Es herrscht Straflosigkeit. 

Schauen Sie, wer benennt die Dinge denn? Wer spricht denn von ethnischen Säuberungen? Wer spricht denn von Verfolgung und Apartheid? Vor Ort ganz sicher niemand, auch internationale Journalist:innen nicht, denn das können sie sich nicht erlauben. Die Redaktionen getrauen sich kaum, solche Dinge zu schreiben, auch wenn inzwischen umfassende Berichte wie jener von Human Rights Watch die Apartheid-Situation sehr klar benennen. Was hier passiert geht viel weiter als Einschränkung der Pressefreiheit. Es ist aktive Zensur. 

Man fragt mich wie ich zu Israel stehe. Ob ich Israel ein Existenzrecht zugestehe. Warum fragt man mich das? Niemand hier wurde gefragt, ob er damit einverstanden sei, dass ein kolonialistisches Regime entsteht, das Menschen mit vorgehaltenen Schusswaffen aus ihren Häusern vertreibt und illegale Siedlungen errichtet. Ich bin Palästinenserin. Ich bin keine israelische Araberin. Und ich will das Recht haben, nach Jaffa zu fahren, wo mein Ur-Grossvater Ende der Vierziger von zionistischen Milizen aus seinem Haus vetrieben wurde. Das Haus haben wir verloren. Es wurde uns einfach genommen. Ich bin ein Mensch zweiter Klasse. Und die Leute haben den Nerv, mich zu fragen: Wie sehen Sie es mit dem Existenzrecht Israels? Muss ich diese Frage als Palästinenserin, deren Familie vertrieben wurde, wirklich beantworten? Die sich nicht frei bewegen kann? Warum beantworten Sie als Schweizer diese Frage nicht? Warum muss sich die internationale Gemeinschaft nicht diese Frage stellen: Wollen wir ein koloniales Regime – ja oder nein? Wollen wir die Apartheid – ja oder nein? Warum ich? Ich lebe in einem Land, das zerschnitten ist von einer Mauer. Das zerschnitten ist von Militärposten. Das zerschnitten ist von Bürokratie, das die Bewegungsfreiheit untersagt. Was ist denn mit meinem Recht zu existieren? Interessiert offensichtlich keinen.

Sie sprachen an früherer Stelle von sexuellen Übergriffen an kürzlichen Demonstrationen für den ermordeten Politiker Nizar Banat im Juli. Können Sie beide Punkte noch etwas ausführen: Wie war die Situation an den Demonstrationen? Und warum wurde Banat ermordet?

Zuerst einmal: Bei den Demonstrationen hier in Ramallah wurden wir Demonstrant:innen und Journalist:innen umzingelt und angegriffen, die Männer geschlagen, die Frauen verbal und sexuell attackiert. Es sind Praktiken, die beide Regimes anwenden. Ich weiss, wovon ich spreche, weil ich von den Israelis verschleppt wurde, als ich zwanzig war. Ich weiss es, weil ich von der Palästinensischen Autonomiebehörde belästigt und verfolgt werde, seit ich zwanzig bin. Banat war ein lauter Kritiker der Korruption der Autonomiebehörde. Die meisten Berichte, die es zu dieser Korruption gibt, erscheinen auf Englisch. Viele Leute verstehen sie gar nicht. Banat aber hat man verstanden. Die Behörde ist so korrupt, dass sie in Panik gerät, wenn Leute laut werden. Und sie gehen inzwischen so weit, wie man bei Banat gesehen hat, dass die Leute verschwinden und umgebracht werden. Gleichzeitig schreiten die Vertreibungen in Scheich Dscharrah voran: Palästinenser:innen werden gezwungen, ihre eigenen Häuser abzureissen, weil die illegal dort stehen würden, laut einem israelischen Gericht. Menschen, die dort seit fünfzig Jahren leben. Der illegale israelische Siedlungsbau schreitet immer weiter voran. Es nimmt kein Ende. Ich habe meine Jahre als Teenager an diesen Kampf verloren. Ich habe meine Zwanziger verloren. Ich will nicht auch noch meine Dreissiger an diesen Kampf verlieren.

17. August 2021

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