Es ist, als würde ich die Realität gerade nur durch einen Filter betrachten. Der Covid-19-Virus, an dem wahnsinnig viele Menschen gestorben sind, wird gerade verdrängt von den Schreckensnachrichten anderswo, Menschen, die andere Menschen aus ihren Häusern verdrängen, Raketen, die fliegen, Frauen und Kinder, die von Raketen und vor allem von Gegenraketen erschlagen werden und ich frage mich, wann ist das eigentlich so gekommen, das Zivilist*innen im Krieg die ersten und eigentlich fast schon gezielten Opfer sind.
Ich glaube mich zu erinnern, dass die Schlachten in «Krieg und Frieden» von Leo Tolstoi daraus bestanden, dass Napoleon, die «Bestie in Menschengestalt», sich irgendwo in Österreich oder wo auch immer auf Feldern mit irgendwelchen verängstigten Russen traf und man sich niedermachte, aber dass dort die Opfer ausschliesslich Soldaten waren. Viel früher aber, so erinnere ich mich an ein Buch über den Dreissigjährigen Krieg, das ein Geschichtsprofessor aus Konstanz geschrieben hat, dessen Name mir gerade nicht einfällt, da gab es noch nicht einmal besoldete Armeen. Die Soldaten haben also die Orte, die sie eroberten, besetzt, und wenn man den falschen Glauben hatte, wurde man geplündert, ausgeraubt, und die allerersten Opfer dieses Dreissigjährigen Krieges waren Zivilist*innen, und aus jenem Krieg stammt der Begriff «Marodieren». Die «marodierenden Banden», wenn ich mich richtig erinnere, stammen aus eben jenem Krieg und dann, im Rahmen des Westfälischen Friedens 1648 mit dem dieser endlos lange Schrecken beendet wurde und dem etwa ein Drittel der Bevölkerung Europas zum Opfer fiel, in diesem riesigen Friedensvertragswerk hat man dann festgelegt, dass es im Krieg Regeln geben muss, dass Soldaten bezahlt werden müssen und das Krieg bedeutet, dass Zivilist*innen nicht angegriffen werden dürfen.
Aber irgendwann dann, vermutlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hat sich das wieder verschoben, und Zivilist*innen wurden in den Kriegen wieder die primären Ziele, und wenn man heute in diesen Stunden die Flimmerbilder sieht, dann sieht man zerfetzte Kinderkörper und Zivilist*innen, die von ihren Häusern vertrieben werden, und das alles ist selbstverständlich überhaupt nicht ansatzweise zu vereinen mit den Genfer Konventionen, aber die Genfer Konventionen scheinen immer weniger zu greifen, wir sitzen vor unseren Sozialen Medien und zucken kaum noch zusammen, und auf Twitter haben alle sehr genau eine Meinung, wer nun welchen Konflikt angefangen hat, als würde allein das die Ermordung von Zivilist*innen auf irgendeine Weise rechtfertigen, und eigentlich sollte ich diese Kolumne für Leila schreiben, aber fast lieber würde ich zwei Xanax schlucken und zwölf Stunden schlafen und wenigstens für eine kurze Zeit alles vergessen.
Es geht um Lina E. aus Leipzig. Das war die vereinbarte Kolumne. Und als ich über die Kolumne nachdachte, begann sich mein Kopf wieder zu drehen. Die Geschichte geht so: Lina E. sitzt seit vergangenem November in Untersuchungshaft. Der 25-jährigen Frau wird vorgeworfen, einen Neonazi zusammengeschlagen zu haben. Zudem soll sie, so heisst es inzwischen, Anführerin einer linksextremen Gruppe zu sein, die mindestens einen weiteren Neonazi geschlagen hat. Sie soll demnach mit zehn anderen Personen eine «kriminelle Vereinigung» gegründet haben. Das ist ein schwerer Tatvorwurf, der normalerweise die Mafia betrifft oder Mitglieder von Hell’s Angels. Was die Sache so irre macht ist, dass in Deutschland in den vergangen Jahren dutzende Menschen von Rechtsradikalen ermordet wurden. Mordopfer von linker Gewalt sind seit dem Verschwinden der Roten Armee Fraktion (RAF) vor nun mehr fast dreissig Jahren keine bekannt.
Eine gemeinsam geführte Datenbank der «Frankfurter Rundschau» und von «Die Zeit» benennt die Zahl auf 187 von Menschen, die seit 1990 und bis zum 30. September 2020 in Deutschland von Rechtsextremen ermordet wurden. Allein der Terrororganisation «Nationalsozialistischer Untergrund» (NSU) fielen neun Menschen zum Opfer. Am 19. Februar 2020 wiederum ermordete ein Rechtsextremer neun Hanauer Bürger*innen mit Migrationshintergrund. Politik und Behörden werden dabei nicht mühe, den «Einzelfall» zu betonen, während bei der mutmasslichen linken Schlägerin Lina E. der Vorwurf des Terrorismus im Raum steht.
Thomas Feltes, Rechtsprofessor und ein ehemaliger führender Ausbilder der deutschen Polizei sagte mir kürzlich in einem Interview: In der deutschen Polizei habe nach dem Zweiten Weltkrieg aus verschiedenen Gründen eine Entnazifizierung nie stattgefunden. Man habe führende Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg einfach in die Behörden übernommen, und schliesslich, mit den Unruhen von 1968, wo diese Nicht-Entnazifizierung aufs Tapet kam und von links scharf kritisiert wurde, rechts, also bei der Polizei, die Reihen geschlossen. Seither stünde in der deutschen Polizei der Feind automatisch oder im Zweifel links. Linke oder Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund: Das seien quasi die selbstverständlichen Feindbilder der Polizei, sagte Feltes, und ich weiss noch, dass ich mich fragte, wo wir hingekommen sind, dass einer der ehemals führenden Ausbilder der deutschen Polizei so spricht, aber dann dachte ich an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. Das sind die NSU-Mordopfer, und ich dachte daran, wie die Medien jahrelang von «Dönermorden» geschrieben haben, weil die Opfer alle Türken waren und Türke gleich Döner und Türke gleich ja irgendwie auch ein bisschen selber schuld, und drum hat es auch nicht interessiert, dass dieselbe Justiz, die jetzt gegen eine 25-jährige Studentin, die einen Neonazi zusammengeschlagen haben soll, eine «Kriminelle Vereinigung» und somit alle repressiven Möglichkeiten eines Staatsapparats hochfährt, inklusive Flug im Helikopter nach Karlsruhe zum Sitz des Bundesanwalts, bei der NSU-Mordserie jahrelang auf dem rechten Auge blind war und nicht in diese rechte Richtung ermittelt hatte, obwohl es diverse Alarmzeichen gegeben hat.
Und wie man dann, während man gegen Lina E. also den Generalbundesanwalt auffährt, beim NSU zuerst einmal die Aktenvernichter hochgefahren hat, damit nicht klar werden sollte (was es bis heute deshalb auch nicht ist), wie es sein konnte, dass beim einen NSU-Mord, an jenem nämlich an Halit Yozgat, ein V-Mann des Verfassungschutzes vor Ort war. Ein V-Mann am Tatort eines Mordes – und ein Staat, der von nichts weiss: Willkommen in Deutschland.
Und Thomas Feltes, ehemaliger Ausbilder der deutschen Polizei, Rektor einer Polizeihochschule in Baden-Württemberg, er sagte zu mir in Bezug auf die Studentin Lina E., die deutsche Polizei und Justiz und den ganzen Wahnsinn: «Der NSU ist ein gutes Beispiel dafür, wie man auf der rechten Seite umdeutet, um nicht aufarbeiten zu müssen.» Der NSU habe ja eine weitere Person ermordet, die überhaupt nicht ins Profil gepasst habe, die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. «Allein rund um diese Ermordung gibt es so viele Unklarheiten», sagte der emeritierte Rechtsprofessor. «Es wurde offensichtlich von der Polizei gepfuscht. Wenn man sich die Akten genauer ansieht, was ich gemacht habe, stösst man auf Ku-Klux-Klan-Gruppen in der baden-württembergischen Polizei. Zeugen, die direkt nach den Schüssen einen Mann in der Nähe des Tatorts gesehen hatten, wie er sich Blut in einem Bach abgewaschen haben soll. Offensichtlich gibt es einen dritten Täter, der nie ermittelt wurde, obwohl man DNA von ihm gefunden hat. Im Untersuchungsbericht ist sogar von einem US-Agenten die Rede, der vor den Schüssen am Tatort gewesen sein soll. Es gibt so viele Unklarheiten, die man offensichtlich nicht aufarbeiten will, und irgendwann lässt dann auch das Interesse nach. Wenn es um das rechte Spektrum geht, ist man grosszügig und man gibt sich mit schnellen Antworten zufrieden.»
In Hamburg am Dammtor steht ein Kriegerdenkmal, das 1936 von den Nazis erreichtet wurde. Es zeigt 88 lebensgrosse Soldaten, die mit geschultertem Gewehr in den Krieg marschieren. Die Engländer wollten dieses schreckliche und unfassbar hässliche Denkmal nach dem Krieg sprengen, liessen es dann aber bleiben, warum auch immer. Auf dem Nazi-Denkmal steht: «Deutschland muss leben und wenn wir sterben müssen.» Es steht noch heute.
PS. Anfang der Achtziger dichtete die Hamburger Punkband Slime die Zeile des Denkmals um und schuf mit dem Lied «Deutschland» eine radikale Gegenhymne zu diesem Deutschland voller angeblicher rechtsradikaler Einzelfälle: «Deutschland muss sterben, damit wir leben können.»
14. Mai 2021