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La Belle Étoile – das Tal der Vergangenheit

Savoyen, Frankreich. Ein Tal. Grün – so grün, man kann das Gras beinahe riechen, die Saftigkeit der Wiesen, die Hügel, die sich aneinanderschmiegen. Es ist eine Idylle, die sich in den ersten Szenen von «Les Oubliés de La Belle Etoile» auf der Leinwand am Visions du Réel in Nyon ergiesst. Doch der Inhalt tut einen Abgrund auf – eine Düsternis, die sich auf einem dieser Hügel verortet.

Von akutmag

Text von Gastautorin Norma Eggenberger

Erst im Februar dieses Jahres wurde von einem Bericht über 4800 Missbrauchsopfer in einer Kirche Portugals bestätigt, ein Gutachten aus dem Erzbistum Freiburg im Breisgau verzeichnet mindestens 600 Opfer. Vertuschen und Versetzen lautete das Credo, die Aufarbeitung dauert und ist zäh. Dies zeigt der Film «Les Oubliés de La Belle Étoile» von Clémence Davigo, der am diesjährigen Dokumentarfilmfestival Visions du Réel in Nyon Schweizer Premiere feierte. Er berichtet von einer katholischen Erziehungsanstalt in Savoyen, welche den Vorwürfen in nichts nachsteht.

Die drei Freunde Dédé, Michel und Daniel finden sich für zwei Wochen in einem traditionellen Landhaus zusammen. Dort kochen sie – es gibt selbst gemachtes Brot, Tartlets, Käse und vieles mehr – gehen spazieren, gehen baden. Zentral ist ihre Vergangenheit, die sie verbindet. Ihre Vergangenheit in dem Zentrum La Belle Étoile. Ein Name, der wie seine Umgebung, schöne Bilder hervorruft. Doch die Erzählungen der Dreien strafen diese Vorstellung Lügen. La Belle Étoile war eine private, katholische Besserungsanstalt, die von Abbé Garin gegründet und geleitet wurde. Dieser unterstand damals der Diözese Paris. Von 1948 bis 1970 wurden an drei Standorten in der Gemeinde mehrere hundert Waisen und Kinder des Sozialamts DDASS aufgenommen. Die Anstalt existiert heute nicht mehr. Doch die Geschehnisse in der Erziehungsanstalt, welche die Kinder zwischen neun und vierzehn Jahren besuchten, wiegen schwer. Dédé, Michel, Daniel sowie weitere Kinder, mittlerweile Männer im Alter von ca. 70 Jahren, erzählen von Missbrauchserfahrungen, Schlägen, Tritten, Hungersnöten und sexueller Gewalt.

Clémence Davigo, Regisseurin des Films, die ich zum gemeinsamen Gespräch in Nyon treffen durfte, erzählte mir wie sie die drei Ehemaligen des Zentrums kennengelernt hat. Zum einen André, auch Dédé genannt. Humorvoll und gewitzt, sein Strafregisterauszug wirkt durch seine Erzählung beinahe wie ein Abenteuer. 53 Jahre wurden verhängt, 35 Jahre sass er ab. Clémence Davigo traf Dédé erstmals 2014 bei ihrem Film Enfermés mais vivants. Da erzählte er ihr die Geschichte über seine Kindheit. Über La Belle Étoile – den Ort, den er letztendlich verantwortlich macht für seine Zeit hinter Gitter. Ein Ort, der die Zeit hinter Gitter bereits einläutete. Durch Dédé lernte Clémence Michel und Daniel bei Ehemaligentreffen von La Belle Étoile kennen. «Ich habe mich gefragt, was sie zusammenbringt», erzählt mir die Regisseurin. «Wahrscheinlich damit sie nicht mit dem Geschehenen alleine sind. Aber auch um sich zu versichern, dass das, was ihnen angetan wurde auch wirklich real ist.»

Zwei Wochen verbrachten die Ehemaligen von La Belle Étoile in dem Landhaus. Hier brechen sie ihr Schweigen und sprechen über ihren gemeinsamen Schmerz. Dabei bildet die umgebende Landschaft Savoyens einen krassen Kontrast zu dem Leid der Menschen, die Davigo so wunderbar feinfühlig porträtiert. «Das Haus sollte ein heller Ort sein, wo man Abstand nehmen kann zu dieser Finsternis. Ein Ort zum Leben und nicht nur zum Drehen.» Das gelingt der Regisseurin, denn man bekommt die Erziehungsanstalt nie zu Gesicht. Stattdessen zeigt Daniel auf einer Wanderung wie man auf einem Grashalm pfeift und Michel steht stundenlang in der Küche und tischt Delikatessen auf. Bereits bei den Ehemaligentreffen schuf Michel eine Unmenge von Essen an, erzählt mir Davigo. Einen Bollerwagen mit drei Tiefkühltruhen, so dass alle noch was mitnehmen konnten. «Da wurde mir bewusst, wie wichtig Essen wirklich ist», meint Clémence Davigo. Essen, das den Kindern in La Belle Étoile verwehrt wurde. So bildet das Kochen für Michel, die Natur für Daniel, und die Kriminalität für Dédé ein Ventil, um Erinnerungen und Gedanken zum verstummen zu bringen.

Doch trotz der tief schürfenden Erfahrung wird keiner der Männer viktimisiert, denn was die drei ausmacht, ist der liebevolle Umgang miteinander und ihre Freundschaft. Sie sorgen sich, passen aufeinander auf. Ein Trio – eine kleine Familie, die sich in all dem Unheil gefunden hat. Ein gutes Beispiel, dem die Kirche leider nicht folgt. Ehemalige der Erziehungsanstalt, darunter auch Dédé, Michel und Daniel, melden die Vorfälle der Beratungsstelle der Diözese Savoyen, wo sie mit Hilfe zweier Berater:innen der Kirche das Erlebte erzählen, aufarbeiten sowie ihre Erwartungen und Forderungen an die Kirche stellen. Eine der Forderungen ist unter anderem ein Gespräch mit dem Bischof, was ernüchternd verläuft. Nicht einmal eine Entschuldigung kann er sich abringen, die Berichte wurden offensichtlich nicht gelesen – die Kirche macht keine gute Falle. Besonders der Fakt, dass ein Pfarrer, der sich während der Zeit in La Belle Étoile an Kinder vergriff, lange danach noch praktizierend war, schockiert.

Clémence Davigo war vor ihrem Screening beim Dokumentarfilmfestival Visions du Réel Festival aufgewühlt. Ihre persönliche Mailadresse sowie ihre Nummer wurden in Umlauf gebracht. Seit einigen Tagen erhält sie nun Drohungen, denn der Pfarrer wird namentlich in ihrem Film genannt. Wenn sie das Screening beim Festival nicht absagt oder den Namen aus dem Film schneidet, würde Anzeige gegen sie erstattet werden. Keine der Forderungen war für Clémence eine Option; der Film lief unverändert in Nyon.

Schlussendlich bleibt die Frage: Wer ist verantwortlich? Die Kirche? Der Staat? Die Personen, die im Zentrum diese Gräueltaten verübt haben? Davigo meint, dass es ein Problem des Systems ist: «Wird eine Institution geschlossen, trifft man solche Problemstellungen in Gefängnissen und Krankenhäuser wieder an. Überall wo Ressourcenknappheit herrscht, schaut man nicht genau hin.» Das trägt dazu bei, dass solche Missstände erst Jahre später sichtbar werden. Im Fall La Belle Étoile gibt es eine doppelte Verantwortung: die der Kirche und die des Staates. Man würde sich also mehr erhoffen von dem nachträglichen Umgang mit den schrecklichen Geschehnissen. Auch nach dem Screening des Filmes, die Dreharbeiten fanden im Sommer 2021 statt, kann von Reparation und Widergutmachung nicht die Rede sein. Seit dem Dreh wurde eine Liste mit Anforderungen aufgestellt, von der bis jetzt keine einzige erfüllt wurde: Eine Gedenktafel mit den Namen der Kinder in Mercury (ein Brief wurde dem Bürgermeister von Mercury geschickt – dieser wurde nie beantwortet), ein offizielles Statement der Kirche, eine der Kinder gewidmete Messe, die der Bischof in Mercury abhalten soll, sowie die Kostenübernahme für zahlreiche Therapie-Sitzungen – Ergebnis der zugefügten Traumata. 

Frustration bleibt zurück. Ein Gefühl, das auch Davigo teilt. Wenn man sich über fünf Jahre mit dieser Thematik beschäftigt und zu den Menschen eine Beziehung aufbaut, kann einen das Schicksal der Dreien nicht kalt lassen. «Der Film zeigt einen Ausschnitt, aber das Leben der Protagonisten geht weiter.» Jeder der Protagonisten, darunter auch Dédé, Michel und Daniel waren während dem Screening anwesend. Eine nur schwer beschreibbare Atmosphäre erfüllte den Raum. Achtung vor der jungen Frau, die sich diesen Menschen annimmt. Achtung vor den Menschen, die über ihr Leid reden. «Vielleicht kann der Film ein Anstoss sein, damit sich etwas ändert.» Das ist die Hoffnung Davigos. Auf jeden Fall gibt es Anstoss über die systematischen Missbräuche innerhalb katholischer Institutionen nachzudenken, die leider noch immer präsent sind in unserer Gesellschaft – ob in der malerischen Region Savoyens oder sonst wo.

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