Amélie Ravalec widmet sich in ihrem neuen Dokumentarfilm «Japanese Avant-Garde Pioneers» der radikalen kulturellen und künstlerischen Erneuerung, die Japan in den 1960ern erfasste – einer Dekade, die durch tiefgreifende gesellschaftliche Spannungen, die schrecklichen Erinnerungen an einen destruktiven Weltkrieg, politische Unruhen und eine breite Protestkultur geprägt war. In einer Zeit, in der das Land einerseits den wirtschaftlichen Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte, andererseits jedoch mit den Schatten seiner imperialistischen Vergangenheit, dem Einfluss der US-amerikanischen Besatzungsmacht und den Erinnerungen an die destruktive Kraft von Atombomben rang, entstand eine intensive Gegenbewegung, die sich besonders unter jungen Menschen artikulierte. Der Film beschreibt schön: Auf Destruktion folgt Konstruktion.
Eine Antwort auf die konformistischen Gesellschaftswerte, auf eine festgesetzte gesellschaftlich codierte Idee von «bildender Kunst». Identität und Kraft schöpfte die japanische «Avantgarde» vor allem auch ausserhalb gesellschaftlicher Normen.
Die Ursachen dieser Umbrüche waren vielfältig: Die Verlängerung des US-japanischen Sicherheitsvertrags (Anpo) im Jahr 1960 etwa führte zu massiven Protesten, bei denen Studierende, Intellektuelle und Künstler*innen gemeinsam gegen eine als fremdbestimmt empfundene Politik auf die Strasse gingen. Hinzu kamen wachsende Spannungen zwischen traditioneller Gesellschaftsstruktur und westlicher Modernisierung sowie der Vietnamkrieg, der auch in Japan eine Welle der Politisierung auslöste.

In diesem Klima der Widersprüche formierte sich eine neue, experimentelle Kunstszene, die bewusst mit Konventionen brach. Künstler*innen, Fotograf*innen, Theatermacher*innen und Tänzer*innen entwickelten radikale Ausdrucksformen, die nicht nur gesellschaftliche Normen infrage stellten, sondern auch neue ästhetische Massstäbe setzten. Die Grundgesinnung: den etablierten Kunstbegriff zerrütten und Privates in die öffentliche Sphäre tragen. «Japanese Avant-Garde Pioneers» beleuchtet diese kreative Explosion und zeichnet die Wege nach, auf denen sich Kunst in dieser Zeit zu einem Akt des Widerstands und der Selbstermächtigung entwickelte – und dabei Fotografie, Performance, Grafikdesign und Film nachhaltig veränderte. Wir sind vertraut mit der westlichen Avantgarde-Kultur. Von Warhols Pop-Art über Richters «Sozialen Realismus» hin zur Geburt der Dada-Bewegung. Innerhalb einer eurozentrisch geprägten Kunstgeschichte kommen zeitgleiche andere Avantgarde-Bewegungen zu kurz.
«Als ich anfing, mich mit der japanischen Avantgardekunst zu beschäftigen, war ich erstaunt, wie wenig Material es zu diesem Thema gibt, insbesondere für ein breiteres Publikum. Es gibt zwar einige akademische Bücher in englischer Sprache, aber sie sind in der Regel sehr dicht oder in ihrem Umfang begrenzt. Und was die Original-Kunstbücher aus dieser Zeit angeht, so sind viele von ihnen längst vergriffen und unerschwinglich teuer, da sie ausserhalb Japans oft für Hunderte von Dollar verkauft werden», so Filmemacherin Ravalec.
Ravalec porträtiert die Akteur*innen nicht als isolierte Genies, sondern als Teil eines künstlerischen Netzwerks, das in enger Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Umbrüchen agierte. Auch medial übergreifen. So bleiben uns heute Bilder und Videoaufnahmen von Performancekunst und Theater. Im Gegenzug stehen die Schauspieler*innen für die rebellische Fotografie dieser Zeit Modell. Grafiker*innen bebildern die Bewerbung von Theatern und Filmvorführungen und verewigen sich so medial- und formübergreifend in der Avantgarde-Bewegung.

Der Film widmet sich zu Beginn der Fotografie: Moriyama Daidō und die Fotograf*innen des Provoke-Magazins, deren raue, unscharfe und bewusst unstabile Bildsprache – «Are, Bure, Boke» – das visuelle Vokabular der Fotografie revolutionierte und eine bewusste Absage an technische Perfektion waren. Stattdessen dokumentierten sie das Unbehagen einer Generation, die sich zwischen westlichem Konsumkapitalismus und der Erinnerung an Krieg und Besatzung verortete.
Der Fotograf Nobuyoshi Araki trieb die Fotografie ins Intime: Seine bondagelastigen Serien, oft umstritten, verhandeln Erotik, Macht und Tod mit schonungsloser Direktheit. Selbst beschreibt er seine Herangehensweise als «Attack on Life itself». Eine neue visuelle Sprache soll etabliert werden. Der Lärm soll in seinen Bildern Einklang finden. Und alten Künsten wie der erotischen Seilkunst «Kinbaku», die auch im Shintoismus erwähnt wird, eine moderne gesellschaftliche Sichtbarkeit verleihen. Die Idee von Anti-Zensur trifft auf kulturelles Erbe. Die Kunst des «Kinbaku» lässt sich in drei Abschnitte gliedern: das Machen (Knüpfen), die Auseinandersetzung mit der sozial-kulturellen Geschichte der Praktik und der artistische Ausdruck der Form, beispielsweise einer fotografischen Ablichtung.
Das Werk von Eikoh Hosoe wiederum inszenierte den männlichen Körper – etwa in seiner Zusammenarbeit mit Butoh-Tänzer Hijikata Tatsumi – als Projektionsfläche für archaische Ängste und körperliche Exzesse.

Im Kontrast dazu: Ishiuchi Miyako. Ihre leisen, berührenden Fotografien amerikanischer Militärbasen und deren Umfeld werfen einen feministischen Blick auf Orte, an denen persönliche Erfahrung und geopolitische Geschichte miteinander kollidieren.
Auch das Theater jener Zeit wird im Film als Ort der Grenzüberschreitung sichtbar. Terayama Shūji, eine Schlüsselfigur der japanischen Underground-Szene, schuf mit seinen Filmen und Bühnenarbeiten ein poetisch-surreales Gegenbild zur offiziellen Kultur – verwoben mit Kindheitserinnerungen, Gesellschaftskritik und bewusstem Tabubruch. Die Stadt wurde zur Bühne und zur Akteurin zugleich: «It’s the cityscape, where nothing is understood.» Shūji lässt für seine geführten Zirkustheater extra ein Gebäude errichten. Mitten in Tokyo. Beschrieben werden die Aufführungen als progressiv und unvergesslich. Autonome und Aussenseiter*innen wurden wie lebendige Requisiten in einem Gendernorm brechenden, surrealistischen, traumartigen, komischen und pervers erotischen Spektakel inszeniert. Als grosse Inspiration: die Welten von Fellini. Transgression von Träumen zur Realität. «Most human mistakes in history were made by reason, not madness», so Shūji.
Ein weiterer faszinierender Protagonist des Films ist Tanabe Santarō, dessen künstlerisches Schaffen einen besonders unkonventionellen Zugang zur materiellen Kunstwelt eröffnete. Bekannt wurde Tanabe für seine skulpturalen Werke, die er konsequent aus Weggeworfenem, aus Alltagsresten und städtischem Müll fertigte. In einer Gesellschaft, die sich rasant modernisierte und dem Konsum huldigte, stellte Tanabe mit seiner Praxis eine radikale Gegenposition dar: Seine Assemblagen aus rostigem Metall, Plastikresten oder mechanischen Fragmenten waren nicht nur Kritik am Überfluss, sondern auch poetische Zeugnisse einer neuen Ästhetik des Wertlosen, die den hierarchischen Status von Kunst hinterfragte. Kunst im Tempel der täglichen Aktivität. Das Ausstellungsdispositiv: einfache Lagerhallen und Keller. Der Gedanke, dass man mit Kunst Geld verdienen könnte, schien absurd. Im Film wird deutlich, wie sehr Tanabes Arbeiten von einem existenziellen Impuls getragen wurden – einem Bedürfnis, aus dem Ausgeschlossenen und Verfallenen neue Bedeutungen zu schöpfen.
Im Grafikdesign traten Yokoo Tadanori und Awazu Kiyoshi als zentrale Figuren hervor, deren bildsprachliche Handschrift die visuelle Kultur der 1960ern entscheidend mitprägte. Ihre Plakate, geprägt von greller Farbigkeit, typografischer Dichte und collagehaften Strukturen, spiegelten die Dynamik einer Gesellschaft im Umbruch.
In dieser dichten Bildwelt bewegt sich auch Tanaami Keiichi, oft als «japanischer Warhol» bezeichnet. Seine psychedelischen, popkulturell aufgeladenen Werke spiegeln eine schrille, widersprüchliche Moderne zwischen Konsum, Kriegserinnerung und medialer Überforderung.

Zu den eindrücklichsten Momenten des Films zählen schliesslich die Sequenzen über den Butoh – jenen «Tanz der Dunkelheit», den Hijikata Tatsumi und Ohno Kazuo in den späten 1950ern begründeten. Der Film lässt die Körper sprechen: langsam, entrückt, expressiv. Hier offenbart sich die existenzielle Tiefe dieses Ausdrucks, der aus dem kollektiven Gedächtnis ebenso schöpft wie aus der Einsamkeit des Körpers. Das Tanztheater griff Themen wie homosexuelle Leidenschaft, primitive Opferkultur, die Dualität von Leidenschaft und Manie, Licht und Schatten und die Vergänglichkeit des Körperlichen auf.
Ravalec gelingt es, diesen Moment der künstlerischen Explosion mit einer beeindruckenden filmischen Sprache einzufangen. Sie arbeitet mit einer dichten Collage aus Interviews, historischem Archivmaterial und präzisen kunstanalytischen Kommentaren. Zeitzeug*innen und Expert*innen führen durch eine Vergangenheit, die überraschend lebendig bleibt – nicht zuletzt durch die visuelle Wucht der dokumentierten Arbeiten: Fotografien, Experimentalfilme, Theaterperformances, Plakate und Sound-Collagen spiegeln die Vielfalt und den Mut jener Bewegung wider.

Besonders hervorzuheben ist Ravalecs sensibles Gespür für Rhythmus und Komposition: Der Film oszilliert zwischen Reflexion und sinnlicher Überforderung, zwischen Kontextualisierung und Konfrontation. Dabei bleibt er stets zugänglich, ohne zu vereinfachen – ein Balanceakt, der vielen kunsthistorischen Dokumentationen selten gelingt.
Doch Japanese Avant-Garde Pioneers ist nicht nur ein Film über eine vergangene Bewegung. Gerade in einer Zeit, in der autoritäre Regime, soziale Kämpfe und ökologische Krisen weltweit zunehmen, stellt der Film eine dringliche Frage: Welche Rolle kann Kunst heute noch spielen, wenn es darum geht, Widerstand zu formulieren – oder überhaupt neue Bilder des Zusammenlebens zu entwerfen?
Der Film gibt darauf keine einfachen Antworten – aber er zeigt, dass Kunst dann am stärksten ist, wenn sie aufbricht, irritiert und sich weigert, gefällig zu sein.
«Japanese Avant-Garde Pioneers» ist ein visuell kraftvolles Dokument einer Zeit, in der Kunst nicht gefallen wollte – sondern erschüttern, entlarven und verändern.
Die Ausstrahlungsdaten und ‑orte findet ihr hier.
08. Mai 2025