Sobald sich Künstler:innen heutzutage in kommerzielleren Sphären wie der Mode oder der Werbung bewegen, gibt es nicht selten hitzige Debatten über deren Authentizität, Motivation und Glaubwürdigkeit. Mit etlichen Kollaborationen und Werbeverträgen vertreten sind nicht nur entsprechende Positionen im Bereich der Popkultur wie Marina Abramović oder Jeff Koons, sondern auch zahlreiche aufstrebende Positionen, welche die eigene Haltung punkto Kommerzialisierung der eigenen Arbeit erst noch mit sich selbst vereinbaren müssen.
Unter ihnen ist auch der in den Niederlanden geborene Künstler Pieter Eliëns, welcher derzeit in London ansässig ist. Nebst innovativem Set-Design für Sänger:innen wie Birdy und Styling Aufträgen für hochrangige Modemagazine brilliert der Kreativschaffende in seiner persönlichen künstlerischen Arbeit mit einem eklektischen Mix aus verschiedenen Assoziationen und schafft es dabei trotzdem immer wieder, sich selbst treu zu bleiben. Ursprünglich daheim in der Bildhauerei, bewegt sich Eliëns nach Stationen in Amsterdam, Paris und Antwerpen heute zwischen Installation, Fotografie, Mode, Schaufenstergestaltung und Bühnenbild.
Er neigt dazu, mit einer breiten Palette von Materialien zu arbeiten und ist nicht auf ein bestimmtes Material festgelegt. Allerdings ist die Verwendung von Stoffen ein häufig wiederkehrendes Element in seinem Werk. Er behandelt diese Stoffe oft so, dass sie zu Trägern menschlicher Emotionen und Erfahrungen wie Zerbrechlichkeit, Fürsorge und Verlust zu werden scheinen; seine Arbeiten scheinen als Metapher für diese Gefühle zu fungieren, die universell von uns allen erlebt werden. Die Art und Weise, wie seine Skulpturen und Installationen hergestellt und konstruiert werden, wird oft sichtbar gemacht und ins Zentrum gerückt. Seine Werke haben einen manuellen, gestischen Touch, der eine Reaktion auf die Überfülle an maschinell hergestellten Dingen zu sein scheint, von denen wir umgeben sind. In seinen Arbeiten denkt er über den Begriff der Ordnung und des Chaos nach, über Strukturen, Träger und die Idee, welches Material von einem anderen Material getragen oder unterstützt wird.
Wir haben uns mit dem Künstler Pieter Eliëns über sein persönliches Selbstverständnis, den wachsenden Einfluss von digitalem Kunstkonsum, und vor allem über seine spezielle Beziehung zu Textilien unterhalten.
Lieber Pieter Eliëns, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit uns genommen haben! Zurzeit nehmen Sie an einem Künstleraufenthalt in den Picton Studios teil, welches von Selfridges, London unterstützt wird. Wie nutzen Sie diesen 6-monatigen Aufenthalt, um an Ihrer künstlerischen Praxis zu arbeiten?
Pieter Eliëns: Vielen Dank, dass Sie mir die Gelegenheit geben, über meine Arbeit zu sprechen. Die Residenz gibt mir Zeit und Raum, um über meine Arbeit im Allgemeinen und im Besonderen über meine jüngsten Arbeiten nachzudenken. Da es keine wirklichen Verpflichtungen gibt, kann man sich wirklich nach innen wenden und sich fragen, was man mit seiner Arbeit erzählen möchte. Ehrlich gesagt ist es wirklich grossartig, für einen kleinen Moment innezuhalten und einfach zu reflektieren. Kurz vor Beginn dieses Aufenthalts habe ich eine Reihe von Arbeiten fertiggestellt und ich brauchte wirklich Zeit – nicht um zu arbeiten – sondern um darüber nachzudenken, was ich gemacht hatte. Für mich hätte der Zeitpunkt für diesen Aufenthalt nicht besser kommen können.
Ich habe die Zeit hier auch genutzt, um London zu erkunden und zu sehen, ob diese Stadt ein Ort für meine Arbeit und mich sein könnte.
Ich habe begonnen, neue Ideen für Arbeiten zu entwickeln. Ich fühle mich viel sicherer, wenn eine Idee auf Papier festgehalten wird, da ich sonst Angst habe, diese Gedanken zu verlieren. Durch das Anfertigen von Skizzen kann ich in meinem Kopf etwas Platz schaffen, da ich diese Ideen auf einfachen weißen A4-Seiten Papier speichern kann.
Selfridges ist ja eine britische Kaufhauskette im höheren Preissegment; gibt es da auch Chancen für eine langfristige Zusammenarbeit und würde Sie dies überhaupt interessieren?
Ich habe mich mehrmals mit der Kreativabteilung von Selfridges getroffen und wir haben über die Möglichkeiten einer zukünftigen Zusammenarbeit gesprochen.
Einige ihrer Schaufenster werden zu Räumen, in denen Künstler:innen ihre Arbeiten präsentieren können, was ich wirklich toll finde. Ich mag Schaufenster, weil sie ein sehr demokratischer Raum sind. Es ist ein offener und auch ein öffentlicher Raum. Gewissermassen ist er ein Teil der Strasse, und alle vorbeigehenden Passant:innen können sich mit dem Schaufenster beschäftigen.
Manchmal verbindet Ihr kreatives Schaffen skulpturale Arbeiten mit zweidimensionalen Fotografien, und Sie nutzen die Kamera auch als Werkzeug, um Ihre dreidimensionalen Arbeiten zu erfassen. Entsteht durch die fotografische Dokumentation Ihrer Arbeit ein neues Kunstwerk?
Das ist etwas, das ich bei meinen Arbeiten immer wieder versuche herauszufinden. Oft ist eine Installation oder ein Werk schwer zu transportieren und auch die Lagerung ist kompliziert. Daher interessiert mich der Gedanke, dass eine Skulptur auf einem Foto festgehalten werden kann und trotzdem die Fähigkeit behält, ihre Erzählung zu enthalten.
Ich denke, dass bei manchen Arbeiten die fotografische Dokumentation tatsächlich zum Werk wird. Vor allem, wenn es sich um die Dokumentation einer Skulptur, einer Installation oder einer Intervention handelt, die nur kurzzeitig existierte. Ich habe zum Beispiel diese bedruckten Stoffbahnen in Räumen in Antwerpen aufgehängt, als ich noch dort lebte. Sie enthielten einen schwarz auf weiss gedruckten Text, und die Fotografie selbst wurde zum Werk, da das Werk nur so lange existierte, bis ich diesen Eingriff in den öffentlichen Raum aus Stoffen entfernte. Es war eine temporäre Botschaft, die in der Stadt aufgehängt wurde.
Würden Sie sich selbst also auch als Fotograf bezeichnen?
Ich betrachte mich allerdings nicht als Fotograf. Die digitale Arbeitsweise ist für mich eher eine Belastung, und die technische Seite interessiert mich nicht. Das steht im Widerspruch zu meiner Arbeit, denn ich mag die Körperlichkeit der Bildhauerei, dass man seine Hände benutzt und sie schmutzig macht. Aber es gibt Ideen, die nach einer anderen Methode verlangen, und das sind die Momente, in denen eine Kamera interessant sein kann.
Wenn Sie sich selbst nicht als Fotograf bezeichnen: Welche Rolle spielt denn die Fotografie als Medium für Sie?
Ich betrachte sie nur als eines von mehreren Medien, die ich verwende. Es ist das Medium, mit dem ich mich immer noch am wenigsten wohl fühle. Aber wenn ich es in seiner grundlegendsten Form verwende, funktioniert es für mich. Einige der Fotos, die ich in meiner Arbeit verwende, habe ich mit meinem sehr alten iPhone aufgenommen, und das funktioniert, um einige meiner Gedanken zusammenzufassen. Es hat mir auch sehr viel Spass gemacht, Bilder für Modepublikationen zu machen. Für Numero Homme Berlin habe ich zum ersten Mal selbst eine Geschichte fotografiert, und auch das war eine grossartige Sache.
Die vielleicht wichtigste Aufgabe ist die Verwendung meiner Handykamera, wenn ich unterwegs bin. Viele Ideen für Arbeiten entstehen aus Dingen, die ich auf der Strasse gesehen habe.
Oft wird gesagt, dass man Installationen und Kunst im Allgemeinen im realen Leben erleben muss. Wir leben jetzt in einer Ära der digitalen Flüsse, die es leicht machen, Kunst nur über den Bildschirm zu konsumieren. Was ist Ihre persönliche Haltung zu dieser Entwicklung?
Meiner Meinung nach gibt es keine einheitliche Art und Weise, wie man Kunst erleben sollte. Ja, wir werden mit Bildern überflutet, aber vielleicht ist es teils auch eine gute Sache, dass ein Kunstwerk jetzt auch im privaten, häuslichen Umfeld zu sehen ist. Man muss nur seinen Laptop aufklappen und schon kann man mit bestimmten Kunstwerken in Kontakt kommen. Ich denke nicht, dass das eine schlechte Sache ist.
Aber es sollte nicht die einzige Art des Sehens sein. Wenn man etwas auf einem Bildschirm sieht, sieht man ein Bild dieses Werks, projiziert, aus Pixeln bestehend, auf dem Bildschirm. Um die Textur und das Licht auf einem Werk zu sehen, sollte man es natürlich in echt sehen. Ausserdem kann man sich nicht in einem Werk bewegen, wenn man es nur durch ein Bild sieht. Ich denke, dass dies sehr wichtig ist, um das volle Potenzial zu verstehen.
In Ihren Skulpturen und Installationen findet sich eine breite Palette von Materialien, die eine recht eklektische Mischung von Konnotationen und Symbolik in sich tragen. Ich habe mich gefragt, ob das ein Überbleibsel aus Ihrer Zeit als Modedesignerin ist oder ob Sie heute einen völlig neuen Blick auf Stoff als Material und Medium haben.
Ich glaube, mein Interesse an Stoffen, an Textilien als Material, ist schon sehr lange vorhanden. Ich erinnere mich daran, dass ich mich schon als kleines Kind darauf geachtet habe, wie sich Stoffe um den Körper herumbewegen können. Ich mag die Ehrlichkeit des Materials, seine direkte Körperlichkeit. Man kann es falten, rollen, leicht schneiden, dehnen. Es hat viele Qualitäten, die wir als selbstverständlich ansehen. Für mich ist es eines der direktesten Materialien, und das fasziniert mich.
Die Art und Weise, wie ein Stoff reisst und den Einfluss von Zeit, Schäden und Wetter auf seiner Oberfläche speichern kann, finde ich sehr faszinierend.
Ich fühle mich weder durch meinen BA-Abschluss und meine Erfahrungen in der Modebranche noch durch meinen MA-Abschluss in Bildender Kunst speziell mit Stoff als Material verbunden. Es begleitet mich schon viel länger und ich kann nicht wirklich zurückverfolgen, woher es kommt. Ich nehme an, es ist einfach eine sehr alte Verbindung zu unserer Vergangenheit als Menschen. Wir verwenden schon seit langem Stoffschichten, um unseren Körper und unsere Haut zu schützen, also ist es irgendwo ein Teil davon geworden, wie wir der Welt begegnen.
Das ist eine sehr spannende Auseinandersetzung mit den Eigenschaften von Stoffen. Gab es hier – trotz der längeren Auseinandersetzung – in letzter Zeit auch neue Erkenntnisse?
In jüngster Zeit interessiere ich mich dafür, wie Stoff zu einem Träger menschlicher Gefühle werden kann. Indem ich immer wieder vergessene, beschädigte Textilien in der städtischen Umgebung betrachtete, begann ich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen meinen eigenen Emotionen und den Emotionen zu sehen, die von diesem leblosen Stück Textil getragen zu werden schienen, das seinen Weg in einen Baum, einen Zaun, einen Stacheldraht oder hinter ein Fenster gefunden hatte. Ich denke, es ist diese Ähnlichkeit, die ich in meinen Arbeiten erforschen möchte.
Sie arbeiten gerade auch an einem persönlichen Projekt, bei dem Sie männliche Duo fotografieren, die sich gegenseitig halten, heben und stützen. Ich war davon wirklich fasziniert, weil ich die Verbindung zu Ihren Skulpturen sofort erkannte. Ist dieser Akt des «Haltens, Hebens und Stützens» nicht auch genau das, was die Stoffe und Gewänder auch in Ihren spannungsgeladenen Installationen tun?
Ja. Die Fotografien sind nur ein weiterer Versuch, diesem Interesse näher zu kommen, oder zumindest ein Versuch, diesem Interesse auf andere Weise näher zu kommen, als es eine Skulptur tun kann.
All diese verschiedenen Arten des Haltens und der Unterstützung haben damit zu tun, was passiert, wenn die Unterstützung brüchig ist und wenn sie nicht mehr vorhanden ist. Was passiert mit einer Struktur, wenn ein Teil gelockert wird? Was passiert, wenn ein Stück Gewand zerschnitten wird, ein Stoffknoten gelöst wird? Wenn eine Skulptur zerbrechlich wird, scheint sie viel mehr zu mir in Beziehung treten zu können. Ihre Zerbrechlichkeit ist real und wird für mich zu einer klaren Metapher. Sie versucht, über das menschliche Leben zu sprechen, über menschliche Erfahrungen, die oft auch zerbrechlich sind. Leben bedeutet, sich zu stellen und der ständigen Möglichkeit des Zusammenbruchs und Verfalls ausgesetzt zu sein.
In einer kürzlich entstandenen Installation mit dem Titel «Falling Failling» habe ich Metall- und Plexiglasrohre mit grossen, weiss genähten Bändern an Metallstrukturen befestigt. Diese Bänder waren die sichtbare Verbindung, mit der die Struktur zusammengehalten wurde. Für mich wurden diese Textilien fast zu Bandagen, die die Elemente zusammenhielten. Einige grosse Bänder waren mit weissem Text bestickt.
Auch bei der Arbeit an einem Werk mit dem Titel «Empathy» habe ich viel über den möglichen Zusammenbruch nachgedacht. Diese Skulptur besteht aus 10 rechteckigen Gipsblöcken. Jeder dieser Blöcke hat eine andere Struktur aus Stoff in sich, die vor dem Giessen des Gipses in die Formen konstruiert wurde. Danach habe ich an und mit diesen Blöcken herumgeschnitzt, geschlagen und zerschlagen, um diese Gewebestruktur freizulegen, die sich in dem erstarrten Gips verfangen hatte.
Irgendwie wollte ich wieder freilegen, was darin war. Die freigelegte Gewebekonstruktion diente als Ausgangspunkt, um diese einzelnen Blöcke in einer grösseren Konstellation miteinander zu verbinden. Wenn ein Seil oder ein Knoten gelöst oder durchgeschnitten wird, beginnt die Skulptur auseinanderzufallen, so dass im Grunde jedes Teil sehr stark von einem anderen abhängig ist und buchstäblich von einer gemeinsamen Verbindung gehalten wird.
Da Ihr Aufenthalt in den Picton Studios bald zu Ende geht: Worauf freuen Sie sich im nächsten Jahr?
Es gibt einige Projekte, auf die ich mich sehr freue. Ich nehme an einer Forschungsgruppe namens «Forms Of Life» teil, und mit dieser Gruppe arbeiten wir an der Möglichkeit einer Gruppenausstellung oder eines Kurzzeitaufenthalts im Kulturzentrum «Bridderhaus» bei Luxemburg. Anfang 2023 besteht wahrscheinlich auch die Möglichkeit, einige meiner Arbeiten in den Schaufenstern von Selfridges zu installieren.
Im Moment ist das Atelier, in dem ich arbeite, ein ziemlich sauberer Raum. Das hat meine Arbeit sehr verändert, was auch interessant ist, aber ich freue mich schon sehr darauf, wenn ich in einem Raum arbeiten kann, der dazu einlädt, auch mit Material und Größe zu experimentieren.
Dieses Interview wurde von Englisch auf Deutsch übersetzt.
04. November 2022