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Kleines Sterben

Im Spätsommerurlaub auf Sizilien schwimmen in mir schwere Fragen nach dem Wert eines Lebens. Nach Tod, Wirken und Würde. Mit dabei: Hesse und Rilke, ein blutiger Gecko und ein amputierter Veteran, der über die Weltmeere segelt.

Von Lothar J. Lechner Bazzanella

«Und allen sind die Herkünfte gemeinsam, die Mütter, wir alle kommen aus demselben Schlunde; aber jeder strebt, ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziel zu.» Hermann Hesse

An diesem Morgen hatte ich dem Gecko mit der Kante des Aschenbechers den Kopf vom Leibe getrennt. Die dünnen Knochen knackten leise. Seine Beine und der olivgrüne Schwanz krümmten sich noch ein letztes Mal vornüber wie ein Skorpion, der zum Stich ansetzt. Ich fühlte ein Leben. Ich zitterte nicht und war behutsam.

Geckos sind zauberhafte Tiere. Sie sind weder giftig noch aggressiv, huschen leise über jede Wand. Vortreffliche Akrobaten. Unzählige winzige Härchen nutzen die Van-der-Waals-Kräfte (schwächste Anziehung zwischen Molekülen, die sich in milliardenfacher Summe stark genug für Haftung addieren); eine Technik, die schon die NASA studierte. Seit über 100 Millionen Jahren beleben die Krabbler diesen Planeten. In Asien gelten sie gerne als gutes Omen. In Japan nennt man sie Yamori, was so viel wie Berg-Hüter oder Haus-Beschützer heisst. Ihr Besuch verspricht Glück, sie zu töten, das Gegenteil.

Einer dieser Artgenossen hatte sich gestern Nacht in unser Hotelzimmer im sizilianischen Agrigento verirrt. Wir hatten wohl die hohe Tür zur Veranda zu lange offengelassen. Bevor wir das Licht löschten, sahen wir die kleinen Zehen noch hinter dem Vorhang verschwinden. Dann schliefen wir ein.

Als ich am nächsten Morgen in die Sonne treten wollte, musste der Gecko ganz unglücklich zwischen Tür und Boden geraten sein. Er schaffte noch ein paar Zentimeter, kam dann vor mir schwer verletzt und blutend zum Erliegen. Er war still. Sein Herz liess den weissen Unterkörper schnell an- und wieder abschwellen. Das hintere Bein war nur noch Splitter, am Hals hatte die schwere Schiebetür die Haut vom Muskel gerissen. Dieser trat nun rosa und glitschig hervor, der Schwanz bewegte sich nur noch langsam. Ich ging nervös ein paar Schritte auf und ab und fragte mich, was nun zu tun war.

Dann griff ich zu dem Aschenbecher mit sizilianischen Motiven – sattgrüne Kaktusfeigen und grelle Zitronen im Caltagirone-Stil –, legte dessen Kante auf den Nacken des Tieres und drückte nach unten, bis das glatte Terrakotta die blutige, nasse Diele der Veranda berührte. Ich fühlte mich schlecht und gut.

«Und darum will ich auch allen Hochmut weit von mir abtun, mich nicht heben über das allergeringste Tier und mich nicht herrlicher halten als einen Stein.» – Rainer Maria Rilke.

Am Abend sprach mein Stiefvater von einer hochschwangeren Patientin, die kurz vor unserem Urlaub noch unbedingt gesehen werden wollte. Sie hatte eine lange Flugreise vor sich und wollte wissen, ob das Kind in ihrem Bauch stark genug dafür sei. Sie plante, ihren Ehemann bei seiner Ankunft am anderen Ende der Welt zu überraschen. Als erster Dreifachamputierter würde er segelnd den Pazifik überqueren.

Der gebürtige Brite war kurz nach seinem 18. Geburtstag nach Afghanistan entsandt worden. Erst wenige Wochen in seiner Infanterieeinheit trat er während einer Routinepatrouille auf eine Sprengfalle. Weisses Licht, dann Stille. Die Wucht zerfetzte beide Beine und den linken Arm. Ein Schrapnell riss ihm das Gesicht auf. Nach zwei Wochen im Koma wachte er wie durch ein Wunder im Krankenhaus in der Heimat wieder auf. Heute, 15 Jahre später, wird er glücklich im japanischen Hiroshima ankommen. Am Hafen werden seine Frau und das ungeborene Kind auf ihn warten.

Als ich am Abend zurückkehre, die Tür zur Veranda öffne und auf den Boden blicke, den ein weisser Mond erhellt, ist nichts mehr zu sehen. Der kleine Körper fort. Ich schliesse die Tür und denke nicht mehr lange daran. Dann schlafen wir ein.

16. September 2025

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