Mit rostbrauner Blutspur am Ärmel steht sie in der Haustür. Aufgeschlagene Lippe; Spucke und feine Kieselsteine in den Locken. Weint nicht, spricht nicht. Spricht eigentlich nie. «Wer war das, Julia*?» Julia ist still. Schüchtern, schon immer lieber alleine. «War schon immer so», erzählt die Mutter. Im Kindergarten nur einen Freund. Wenn der krank ist, geht bei Julia fast nichts. Dann dreht sie um. Hockt und weint vor dem Block. Eingliedern ist für Julia von Anfang an Überwindung; Furcht runterschlucken. Versuch, zu versuchen. «Komm, trau dich», «Mach doch», «Wieso denn nicht?», drängt die Mutter. Die Tochter weiss nicht, sie will nicht. Wenn sie das Wort ergreift, dann um sich zu entschuldigen. Der Vater ist immer auf Arbeit. Bei anderen Frauen auch. Nimmt Julia mit. «Na komm, sag hallo. Sorry, sie ist ein wenig schüchtern.» Julia will weg. Nicht zur Mutter, aber auch nicht hierbleiben. Am liebsten irgendwo versinken. Julia, sieben.
Dann Streit daheim. Die Eltern schreien sich an. Türen, die zuknallen. Die Mutter, am Küchentisch, das Gesicht in den Händen. Julia ein paar Jahre älter als die Schwester. Alt genug, um fragend zu verstehen. Der Vater – «Lichtgestalt» – wird lauter, fordernder. «Zuckerbrot und Peitsche», verurteilt es die Mutter. «Du musst das und das, ich will dich so und so.» Julia zum ersten Mal abhängig. Zuneigung im fiesen Tausch für Leistung. Der Vater geht öfters fremd. Und dann fort. Julia, zwölf.
Auch in der Schule ist Julia nie jemand, die dabei ist. Die Gruppe funktioniert auch ohne sie. Julia besser ohne. Grund für böse Blicke, Schläge der anderen. «Die ist doch nicht normal» kreischen sie. «Komm, wir gehen. Julia brauchen wir nicht». Im Pausenhof immer abseits vom lauten Lachen, immer ein Gang an ruhigere Orte. Hinsetzen, zuschauen, «besser nicht auffallen». Julia in die Ecke gedrängt. Immer Gesprächsthema, nie im Gespräch. Ein «Na komm, Julia, versuch es mal» der Lehrerin. Ein leichter Schubs in die Mitte, offene Handfläche im Kreuz eines Kindes. Beim ersten Versuch gleich wieder dumme Sprüche, Blicke, die nur Julia sieht. Keine einzige Freundin, kein «Egal, lass sie reden». Das Glockenläuten ist oft Erlösung. Nachhauseweg; mal durchatmen zwischen zwei Schluchten.
Julia überlebt die Schulzeit. Einstieg Berufsleben. Erwachsenwerden. Beginnt ein Praktikum als Tiefpflegerin. «Mit Tieren konnte sie immer gut», erzählt die Mutter. Erster Tag, Mittagspause. «Und war es geil?» «Bester Orgasmus. Schwöre», schnaufen die beiden am Nebentisch. Julia wird rot, muss sich fast übergeben. Hofft, dass es morgen besser wird. Freut sich, wenn sie alleine arbeiten kann. «Echt, das schaff ich schon. Ich übernehme gerne.» Schrubbt – die wilden Locken zusammengebunden – durch die engen Käfige. Biedert sich an. «Alles erwartet, nichts erklärt.» Immer wieder beginnt sie plötzlich zu zittern. Kriegt keine Luft mehr. Herzklopfen beim «Guten Morgen». Tag überstehen, untertauchen. Bis es nicht mehr geht. Tagelange Nächte in ihrem Zimmer. Die Mutter kontaktiert einen Jugendcoach. «Was soll ich nur mit dir machen?» Der Psychologe übernimmt. Empfiehlt betreutes Wohnen. Julia, 14, versteht nicht. Schüchtern ist sie, aber krank? «Nein». «Nein», sagt auch die Mutter. Spricht von einer komplizierten Phase, «das vielleicht schon». Die Ärzte insistieren. Julia beginnt zu hyperventilieren, krallt sich am staubigen Stuhl fest. Schliesst die Augen. Raus hier. Zurück ins Auto, Motor an, Fenster runter, ein Windstoss wirbelt die hellen Locken auf. «Nur eine Phase», murmelt die Mutter – das Steuer in beiden Händen – auf dem Nachhauseweg.
Wochen daheim, stundenlang am Handy, Julia tritt zur Mutter: «Komme heute später, treffe mich mit einem Freund.» Die Mutter verwundert, nickt nur. Hofft, dass es hilft. «Jetzt geht es aufwärts.» Julia abends immer öfters weg, er hört zu. «Versteht.» Der erste Freund. «Irgendwie passiert.» Julia will, dass er, dass jemand sie gern hat. Eine Umarmung, ein Lachen, wenn sie etwas erzählt. Er will auch mehr, Julia nickt. «Na gut.» «Na gut» auch bei anderen Männern. Zärtlichkeiten, Fingerkuppen, die über Handgelenke streicheln. Sex dafür, für Julia ein Tausch, mit dem sie leben kann. Julia – in den engen Strassen und Gassen – schleichend in der nächsten engen Schublade: «Leicht zu haben». «Haha, ja die. Kenn ich», ein niederes Grinsen.
In dieser Zeit der Anruf. «Hoi Papi». Julia klopft an fremde Türen. Wieder ein «Wieder nicht geschafft», «Wieder spricht das ganze Dorf über dich». Zum ersten Mal ein «Ich weiss, dass es hart ist, die Wahrheit zu hören». Julia und seine Wunschvorstellungen von einem gutem Leben, einem guten Kind. Das sind zwei andere Dinge. Sie geht. Er auch. Endgültig. Julia noch viel kleiner als sonst.
Dann – berauschend – plötzlich höher als sonst. Sie schwebt zum ersten Mal über den Dingen. Spürt den Rausch. Ecstasy. Julia, 15. Bunte Pille, schlecht gefälschter Ausweis. Hochgefühl und immer mehr aus kleinen Plastiktüten. «Wann ist wieder Wochenende?» Zug. In die Grossstadt, nach Basel, nach Bern, nach Zürich. Ecstasy. Pille oder Kristall. Speed, Koks, Ketamin, Triptamin atmet sie ein. Leuchtende Augen, grosse Pupillen. «Mutter?» Als Julia – 16 – um 8 Uhr morgens in der Küche steht und nicht weiss, wo sie ist: kein Wort. Julia – einst süchtig nach Stille – sehnt sich nach einer Reaktion, einem Schrei.
Nächster Job. Gärtnerei. «Einen grünen Daumen hat sie, meine Julia», versichert die Mutter. Julia scharrt und stutzt. «Siehst du, die Dahlien, die müssen alle in einer Reihe stehen. Picobello, bitte, danke.» Julia reibt sich mit dem Ärmel den Schweiss von der Stirn. «Und das hier?! Alles raus. Das ist Unkraut, das gehört nicht in den Garten.» Julia versteht nicht. Auch Unkraut treibt schöne Blüten. «Das ist doch kein Garten», denkt sie. Trotzdem raus damit. «Tut mir Leid. Ehrlich», flüstert sie. Aus den Fugen kratzen. Julia, fast 17. Der nächste Knockout. Die Tür, die sich schliesst. Julia zittert fast ständig. Immer wieder bleibt ihr die Luft weg. Gekrümmter Rücken. Je öfter die Episoden, desto seltener sagt die Mutter etwas. «Du musst arbeiten, das ist halt so. Ich hab auch oft keinen Bock drauf.»
Julia reisst sich zusammen. «Nur nicht zerreissen.» Versicherungsunternehmen. Telefonarbeit. Vier Monate lang hängt sie am Hörer. «Guten Tag, ich hätte ein paar Fragen zu Ihrer Krankenkasse? Könnten Sie sich einen Moment Zeit für mich nehmen? Es geht ganz schnell, versprochen.» Dann Stille. Julia kann nicht mehr. Einen Monat lang liegt sie im Bett, duscht nicht. Kein Fenster offen, kein Blick rein oder raus. Julia will nicht mehr und wenn dann nur noch ein Küchenmesser gegen die weisse Haut pressen. Bis die erste Schicht reisst. Jetzt weint auch die Mutter, ruft den Notfall. Julia, gestützt, kommt in eine psychiatrische Einrichtung. Drei Wochen ist Julia dort. Weil das Mädchen gegenüber nur bei Licht schlafen kann, schläft Julia so gut wie gar nicht. Am Tag Sport, Essen, Beschäftigung, Gespräche mit Psychologen. «Abarbeiten nach Handbuch war das.» Julia beginnt zu meditieren. «Ich denke, Sie sind jetzt wieder stabil genug.» Julia stopft Jogginghose, Bluse, Zahnbürste, Ipod in die Tasche, alles gepackt. «Hoi Mami, ich darf wieder nach Hause. Freu mich mega.» Pause. «Julia, ich will dich nicht daheim. Ich halt das nicht aus.» Julia, 18, schläft bei «Freunden vom Feiern» auf der Couch.
Der nächste Job. Mitglieder anwerben für Pro Natura. Von Tür zu Tür, Bitten um ein paar Minuten. «Guten Tag, ich bin Julia von Pro Natura, ich weiss nicht, ob Sie schon von uns gehört haben, wir sind die grösste und älteste Naturschutzvereinigung in der Schweiz, haben über 360 geschützte Gebiete im Land.» Lächeln aufsetzen, Tür zu, weiter zur nächsten. Kurz durchatmen. Am Abend dann in eine fremde Wohnung, mit fremden Leuten, nie – so wichtig für Julia – mal alleine sein, reinhorchen. Knapp drei Jahre fährt sie dafür durchs ganze Land. Bekommt Provision für jeden verkauften Vertrag. Der Druck setzt ihr zu. 200 Türen öffnen und schliessen sich täglich. «Wenn du Pech hast und keiner auf dich eingeht, dann reicht es am Ende nicht.» Julia findet das Lächeln immer seltener. «So naiv», meint sie. «Die Leute glauben, sie täten genug für die Natur, weil sie einen eigenen Garten haben. Der aber ist perfekt getrimmt und kein einziges Viech darf dort leben.» Julia will bald nicht mehr. Sie zieht der Nacht wegen nach Zürich. Und geht dann wieder unter. Isst nicht mehr, wieder zittern, reisst das Küchenmesser nun tiefer in sich. «Ich will nicht mehr auf dieser Welt sein.» Denkt an Selbstmord und die Mutter. Ruft an. «Ich komme», heisst es an der anderen Leitung. Die Mutter an der Tür, versucht zu beruhigen. Julia wäscht sich, isst ein wenig. Vorwärtstasten. Julia – «Das musst du endlich akzeptieren» – braucht Zeit. Julia – «Das musst du verstehen» – braucht Hilfe. Die Mutter zerrt Julia, 22, ins Sozialamt. «Auffangnetz für Leute wie dich.» «Leute wie mich?» Julia wischt mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen, schämt sich.
Die Mutter stellt für die Tochter einen Antrag auf Arbeitslosenausgleichzahlung, Invalidenversicherung und Unterstützung vom Sozialamt. Julia zittert stärker, wenn sie auf die Formulare blickt. Bürokratie, Unterschriften, Termine, all das überfordert sie. Herzklopfen, wenn sie den Briefkasten öffnet. «Ich wurde zur Nummer im System.» Der Staat übernimmt. Julia darf regelmässig zum Psychologen, die Miete ist gedeckt, Julia schafft es bis zum Monatsende. «Natürlich ist man froh, dass es das gibt.» Julia spricht von Steinen, Hürden. Mehr Weinen als sonst. «Trotzdem, dennoch.» Eine Panikattacke nach der anderen. Nach vier Monaten eine Nachricht vom Sozialamt: Die Kosten der Psychologin könnten doch nicht übernommen werden, da hätte es einen Fehler gegeben. 4000 Franken muss Julia nachzahlen. Geld, das sie nicht hat. Julia – zitternd – mit dem Smartphone in der Hand. «Hoi Mami.» Mutter übernimmt. Julia bekommt einen neuen Psychologen zugeordnet. «Bist du sicher, dass du vielleicht nicht einfach deine Tage hast?» Julia geht dennoch weiter hin. Dann ein Brief vom Betreibungsamt: «Guten Tag, leider ist folgende Rechnung nach mehreren Mahnungen immer noch ausständig.» Julia versteht nicht. Die Rechnung ging in den Irrwegen des Sozialamts unter. Julia betrieben. Getrieben. Der nächste Psychologe übernimmt. Der zehnte in Julias Leben. Von ihm erhält sie die erste offizielle Diagnose. Posttraumatische Belastungsstörung, Angststörung, Depression, Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit. Julia streichelt durch Wikipedia-Einträge: Durch anhaltende Traumatisierung in der frühen Kindheit kommt es zur Aufteilung der Persönlichkeit, mit dem Ziel, das Überleben zu sichern und die Funktionsfähigkeit der Psyche zu erhalten. «Mal so und mal ganz anders», schildert es Julia. Mal umarmen, mal ist die Bettdecke am Morgen so schwer, dass sie ihr die Luft nimmt. Julia, 23.
Julia erhält eine Laufbahnberatung. Termine bei einem Jobcoach. «Eingliedern», heisst es. «Stabil werden» will sie. Seit zwei Jahren wartet sie auf eine Antwort: Invalidenversicherung ja oder nein. Tagelang sitzt sie in ihrem Zimmer, schlägt Zeit tot. Versucht sich zu beschäftigen an hellen Tagen. Versucht nichts an dunklen. Blickt nur in den Fernseher oder aus dem Fenster, Schotter, Innenhof, dreckige Fahrräder, Grasnarbenkranz. Immer wieder rappelt sie sich dann auf, sucht Struktur. Sport. Malen. «Ab und an darf ich den Nachbarshund Gassi führen.» Freut sich, wenn ihr etwas gelingt. Ein «Super, vielen Dank. Klasse.» Julia tastet sich an die Arbeitswelt heran, ein paar Nebenjobs. «Ein paar Franken schwarz.» Melden darf sie das nicht, es wäre ein Zeichen für die Arbeitsfähigkeit. Betrug. Gradwanderung. Wie viel bin ich dem Staat, den Menschen schuldig, die da einzahlen? «Wie viel mir?» Es geht aufwärts, meint sie. Würde gern wieder ein wenig arbeiten, Ordnung in die Tage bringen. «Damit ich nicht durchdrehe daheim. Aber nur nicht übertreiben, lass dir Zeit.» Beginnt mit einigen Stunden die Woche. Telefondienst, Fragen zu fremden Leben stellen. Sie meldet die neue Arbeit dem Amt. Die 1000 Franken, die sie verdient, werden ihr abgezogen. «Das nimmt einem natürlich die Motivation. Kein Wunder, dass viele da lieber gar nichts machen. Aber wenigstens hab ich ein paar Fixpunkte in meinen Tagen.» Julia wäre gern wieder frei, endlich frei. Traut sich nicht. «Was, wenn ich dann wieder einen Rückfall habe?» Keine Risiken mehr. «Ach, zwei Jahre im Sozialamt, das ist ja gar nix», meint die Frau am Schalter. Julia sieht das anders, ist anders, das weiss sie. «Ehrlich.» Wieder Blicke, Vorurteile. Julia in der nächsten Schublade: Sozialfall. Das schlimmste aller Wörter: schmarotzen. «Wir alle haben mal keine Lust auf Arbeit», «Krankheit? Ach, naja». Julia will unabhängig werden. «Ich will nicht, dass der Staat oder sonst wer für mich sorgen muss. Aber ich habe Angst.» «Angst wovor?» «Davor, dass ich – wenn es nochmal so hart kommt – nicht mehr da bin.»
Dann wieder kein Ausweg. «Nirgends.» Julia trennt sich von ihrem Freund. «Furcht, dass sie eine Beziehung nicht am Leben erhalten kann.» Keine Begabung zum Glück. In diesen Tag der Anruf. «Julia, hoi, es schaut zurzeit eher schlecht aus mit Arbeitsstunden. Wir melden uns, wenn es besser wird. Bleib gesund.» So dunkel wie nie. Schliesst die Tür hinter sich. Kann tagelang nicht aufstehen, immer wieder Zittern. Die Hände verkrampfen, Festkrallen an Kniescheiben, der Rücken nach vorne gekrümmt. Feine Blutkrusten an den Gelenken. Die Luft riecht nach Erbrochenem und Zigarettenrauch. Julia nicht mehr in der Lage, ein Leben zu erhalten. «Wieder beginnen? Ich kann einfach nicht mehr.» Julia, alleine, steigt die Treppen hoch, Dachterrasse, über der Stadt. Eine Zigarette lang braucht sie von hier zum Paradeplatz. Abgenagte Fingerkuppen streichen über das kalte Dachgeländer. «Ein Ruck würde reichen.» Julia, alle anderen lärmend unter sich, spitzt die Lippen und lässt einen kleinen Spucketropfen nach unten fallen. Julia zählt die Sekunden: «Eins, zwei, drei.»
*Name von der Redaktion geändert
13. Oktober 2022