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Ich geh dann mal fremd

Das Reisen gehört zu den schönsten menschlichen Erfahrungen. Doch warum überhaupt? Die Reise in eine fremde Welt zerstört sicher geglaubte Tatsachen in der eigenen. «So open your mind, get up off the couch, move.»

Von Lothar J. Lechner Bazzanella

Kein Text über das Reisen und die Fremde sollte entstehen, ohne dass die Schreiberin oder der Schreiber irgendwann und irgendwo an Anthony Bourdain denkt. Der Spitzenkoch und Autor, der sich vor einigen Jahren das Leben nahm, schrieb so klar und so intim wie nur wenige über die Welt da draussen. 

Man könnte dutzende seiner Zitate über das Fortgehen und Wiederkommen blind aneinanderreihen und es würde ein harmonisches, wahrheitstriefendes Ganzes dastehen. 

In den letzten Wochen war ich in der Fremde, weit weg von den Zürcher Sorgen und eingebildeten Dilemmata, der hausgemachten Hektik und den falschen Werten. Man möge es mir also nicht übel nehmen, wenn ich über meine Reise – das Reisen an sich – schreibe. Und man darf mir nicht übel nehmen, dass ich mir hierfür zuerst und vor allem Bourdain – auch das Englische sei mir gegönnt – zum Vorbild nehme. Dieser sagte einmal: «If I’m an advocate for anything, it’s to move. As far as you can, as much as you can.» Egal wohin, einfach weiter. Keine Uni-Vorlesung, kein Elevator-Pitch und kein Rumhobeln am CV berge so viel Weisheit wie das einfache Irgendwo-Anders-Sein. Der französische Autor Alphonse de Lamartine schrieb einmal: «Es gibt keinen vollständigeren Menschen als den, der gereist ist, der zwanzig Mal die Form seines Denkens und seines Lebens verändert hat.»

Spielend leicht fängt man in der Fremde an zu hinterfragen, was im gemütlichen Nest daheim Alltag und normal ist. Die ach so klaren Normen und Dogmen… ein paar Flugstunden weiter, eine Autofahrt, ein Bahnticket und schon bröckelt es. Dieses Bröckeln beobachten zu dürfen, schafft Freiraum, Platz für neue Ideen, für Kritik und Aufbruch. Die Relativität und Nichtigkeit des Seins zu begreifen, macht auf paradoxe Weise hoffnungsvoll. «So open your mind, get up off the couch, move.» 

Je mehr Orte man sieht und erlebt, desto grösser scheint einem die Welt. Je mehr man wahrnimmt, desto mehr wird bewusst, wie relativ wenig man doch weiss, wie viel es noch zu erkunden, zu lernen gibt. «Maybe that’s enlightenment enough – to know that there is no final resting place of the mind, no moment of smug clarity. Perhaps wisdom, at least for me, means realizing how small I am, and unwise, and how far I have yet to go», schreibt Bourdain.

In einem meiner italienischen Lieblingsgedichte von Gio Evan heisst es: «Viaggiate. Che se non viaggiate poi non vi si fortificano i pensieri, non vi riempite di idee, vi nascono sogni con le gambe fragili.» Zu Deutsch: «Reist. Denn wenn ihr nicht fortgeht, festigt ihr eure Gedanken nicht, füllt ihr euren Geist nicht mit neuen Ideen, schafft ihr nur Träume mit zerbrechlichen Beinen.»

Auf meiner Reise erklärte einer der einheimischen Führer, dass es dort und für die nächsten paar Tage keine Zeit gäbe. Kein Abarbeiten nach Plan. «Wir essen, wenn das Essen fertig ist. Wenn es regnet, regnet es. Und wenn der Wind passt, dann segeln wir weiter». Keine Zeit? Ein brutaler Gedanke für jemanden, der wie ich Wochen im Voraus Tage durchtaktet, penible Listen und Pläne anlegt. Unzufrieden, wenn alles geschafft am Abend, da die Liste offenbar doch zu kurz war. Unzufrieden, wenn was auf der Strecke bleibt. Reisen, das Reisen nach Bourdain, macht mit solchen Marotten kurzen Prozess. «Go with the flow.»

Und selbst wenn es nur wenige Tage Ausbruch aus dem Wahnsinn sind. Reisen helfe zu akzeptieren, dass Perfektion nicht erreichbar sei. Das beruhige, es nimmt das Last. «Letting the happy accident happen is what a lot of vacation itineraries miss, I think, and I’m always trying to push people to allow those things to happen rather than stick to some rigid plan.» Man kann gar nicht anders als Bourdains Worte als Metapher für das Leben zu nehmen. 

Auch für den französischen Philosophen Albert Camus war das Reisen und der Ausbruch aus dem Alltag, aus dem behüteten Daheim und der Komfortzone essenziell. Er schrieb einst: «What gives value to travel is fear. It is the fact that, at a certain moment, when we are so far from our own country, we are seized by a vague fear, and an instinctive desire to go back to the protection of old habits.» Im Original: «Le voyage, qui est comme une plus grande et plus grave science, nous y ramène.» Das Reisen bringe einen zurück zu sich selbst. 

Vielleicht ist es also gar nicht das Fremde, was man in der Fremde sucht, sondern nur das eigene Ich, das wieder einmal Luft zu atmen braucht. Das wieder einmal freigeschaufelt werden muss vom langweiligen und monotonen Alltag. Und dabei – wie von Zauberhand – neu geformt wird. So besteht laut der kanadischen Dichterin und Philosophin Anne Carson die einzige Reiseregel darin, nicht so zurückzukehren, wie man gegangen ist. «Komm anders zurück.» 

Um hier standesgemäss mit Bourdain zu enden: «The journey changes you; it should change you. It leaves marks on your memory, on your consciousness, on your heart, and on your body. You take something with you. Hopefully, you leave something good behind.»

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