Die Corona-Zeiten haben auch unerwartete Nebeneffekte. Einer davon: Dass ich seit Wochen auf Rezensionsexemplare aus Deutschland warte, die einfach nicht kommen, irgendwas mit dem Versand, der Post, und «Ministerium der Träume» von Hengameh Yaghoobifarah ist so ein Fall, und ich frage mich: Kann man ein Buch empfehlen, das man nicht gelesen hat? Und ja, in diesem Fall kann man das mit Sicherheit, denn eigentlich war der Anlass, so oder so über dieses Buch zu schreiben (abgesehen vom wunderbaren Titel), ein anderer, und der geht so.
Hengameh Yaghoobifarah, geboren 1991 in Kiel (das mir nur aus dieser bizarren aber legendären Spiegel-TV-Dokumentation über sogenannte Strassengangs bekannt ist), aufgewachsen in einem Akademikerhaushalt, schreibt Kolumnen unter anderem für das Missy Magazine und die TAZ. Vor zwei Jahren gab sie zusammen mit Fatma Aydemir das Sachbuch «Eure Heimat ist unser Albtraum» heraus, ein Manifest gegen einen als antisemitisch und rassistisch verstandenen deutschen Heimatbegriff.
Yaghoobifarah ist eine häufig wütende und manchmal auch sehr poetische Denkmaschine, und ab und zu versetzt sie ihr Land mit ihren Texten in helle Aufregung. Einmal besuchte sie das Technofestival Fusion und schrieb dann einen Text, dass bei dem Besuch ihr Herz geblutet habe ob all der «kulturellen Aneignung», also schlecht gewürzten «exotischen» Essensständen und Menschen mit Dreadlocks, und dass diese Aneignung quasi rassistisch sei, woraufhin ihr ebenfalls aus linken Kreisen vorgeworfen wurde, selbst quasi rassistisch zu sein: Sie habe ein hermetisches, rechtes Kulturverständnis, wo man Kultur als etwas Einheitliches und Begrenztes betrachte und kulturelle Vermischung als Problem. Aber das war rückblickend eine zwar sehr interessante, aber letztlich laue, quasi innerlinke Debatte verglichen mit dem Grossalarm, den Hengameh Yaghoobifarah in Deutschland im Juni 2020 im Nachgang zur Ermordung von George Floyd auslöste.
Und dieser Alarm war dann auch der Anlass, warum ich «Ministerium der Träume» kaum erwarten konnte (und leider immer noch warte). Nachdem George Floyd in Minneapolis von einem Polizisten ermordet worden war, schwappten die Black-Lives-Matter-Proteste auch nach Deutschland, und Yaghoobifarah schrieb in der TAZ eine Kolumne mit dem Titel «ACAB – All Cops Are Berufsunfähig», und was dann folgte ist gleichzeitig unglaublich und entlarvend.
In Deutschland werden im Wochentakt Nazichatgruppen enttarnt, die bis weit hinein in die Polizei reichen, und das im Land mit der Nazi-Vergangenheit, im Land mit regelmässigen mörderischen rassistischen Anschlägen, (und solche Anschläge im übrigen, nämlich die rassistischen Morde und Pogrome von Hoyerswerda und Rostock und Mölln Anfang der Neunziger, bilden laut Pressetext auch den Boden der Atmosphäre von «Ministerium der Träume»), in diesem Land also schrieb die Dreissigjährige diese Kolumne mit ebendiesem Titel, wo sie darüber nachdachte, wo Polizistinnen und Polizisten denn eigentlich arbeiten könnten, wenn die Polizei abgeschafft sei, wenn es keine Polizei mehr gäbe. Auf jeden Fall endete die Kolumne, eine kurze Kolumne, viel kürzer als dieser Text hier, mit den Zeilen: «Spontan fällt mir nur eine geeignete Option ein: die Mülldeponie. Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten.»
Ich weiss, dass ich gegluckst habe, dass ich die Kolumne witzig fand, Satire halt. Zudem fand ich diesen Gedanken, die ganze Polizei ganz undifferenziert auf den Müll zu kippen angesichts der Wochentaktmeldungen von Nazipolizist*innen mit Waffenlagern und Nazis, die Menschen totschlagen und der ehemalige Verfassungsschutzpräsident, der ein Rechtsextremer ist und all dieser Wahnsinn in diesem schrecklichen Land mit dieser schrecklichen Geschichte, ehrlich gesagt sehr angebracht. Die deutsche Polizei zusammengefasst als eine Organisation, die von innen krank ist.
Journalist*innen und Politiker*innen reagierten dann aber so, und das ist jetzt keine Satire: «Volksverhetzung», schrieb die NZZ, eine Zeitung, die selbstverständlich regelmässig blind auf allen Augen für die mordenden rechten Netzwerke in Deutschland ist. «Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit», kritisierte der «Deutschlandfunk». Und ja, wenn ihr euch spätestens jetzt fragt, warum all die Menschen sich überhaupt dazu bemüssigt fühlten, sich zu einer TAZ-Kolumne zu äussern, da kommt noch mehr: Die Deutsche Polizeigewerkschaft , deren Berliner Landeschef eine rechtsradikale Vergangenheit hat und die Gewerkschaft der Polizei in Berlin, kündigten Strafanzeigen gegen die TAZ an (die Zeitung hat ihren Sitz in Berlin). Weit gefasster Meinungsfreiheit und Pressefreiheit zum Trotz: Auch der deutsche Innenminister Horst Seehofer (unter dessen Ägide der Rechtsextremismus in der deutschen Polizei immer stärker wird), kündigte, kein Witz, ebenfalls eine Strafanzeige an, quasi die Krönung von Queen Yaghoobifarah, und Bundespräsident Frank Walter Steinmeier sagte dann auch noch irgendwas.
Ich glaube fast, wenig hat dieses rassistische Land mehr entlarvt als diese eine Kolumne, verfasst als Reaktion auf Morde durch die Polizei, in einem Land, wo der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) zehn Jahre lang Menschen ermorden konnte und der Verfassungsschutz wegschaute, wo Nazis immer noch morden, wo im Wochentakt Chatgruppen hochgehen mit Polizistinnen und Polizistin, die sich Adolf Hitler zurückwünschen. Und Saskia Hödl von der TAZ schrieb dann, die Kolumne sei genau das, eine «polemische und satirisch-groteske Kritik an einer Machtstruktur, an einem Gewaltmonopol und an einer Reihe von ungeklärten und unverhinderten Ermordungen in Deutschland».
Und natürlich kann man sich jetzt vorstellen, was passiert, wenn man als Frau in Deutschland mit dem Namen Yaghoobifarah einen solchen Sturm entfacht, wo eine ganze Parade von mächtigen Männern dann öffentlich auf einen einprügeln: Es folgte in den sozialen Medien eine nachweislich orchestrierte Hetzkampagne, und schon nur deshalb habe ich mich entschieden, ihr Buch zu lesen, um zu zeigen, dass ich das, was sie macht, unterstütze. Und weil ich die schlechte Eigenschaft habe, Bücher zu kaufen, deren Titel mir wahnsinnig gut gefallen, und «Ministerium der Träume», das wie eine poetische Variante von «1984» daherkommt, ist so ein Buch. Und das letzte Buch, das ich mir kürzlich nur wegen dem Titel kaufte, war «Nachthimmel mit Austrittswunden» von Ocean Vuong, ein wunderbares Buch, und mit der Kraft der Poesie von Vuong wurde Yaghoobifarahs Buch kürzlich irgendwo verglichen.
Die Rezensionen sind euphorisch. Die ARD schreibt vom «Abtauchen in eine Welt ohne Zugehörigkeiten», und die Süddeutsche Zeitung, dieses Sprachrohr deutscher Mehrheitsgesellschaft, schreibt, «Ministerium der Träume» sei ein «drastischer Diss» gegen ebendiese Mehrheitsgesellschaft, «eine politische Performance». Und Alice Hasters, die Autorin von «Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen», sie hat über «Ministerium der Träume» geschrieben, dieses «Debüt über den bedingungslosen Zusammenhalt von Geschwistern, das auch in die dunklen Ecken deutscher Gegenwart vordringt»: «Hengameh Yaghoobifarah packt den Kopf so voll mit Bildern und das Herz mit Gefühlen, dass man es kaum aushält. Ein oft genutzter Vergleich, aber hier ist er wirklich treffend: Diese Geschichte ist so aufregend, angsteinflössend, lustig und aufrüttelnd wie eine Achterbahnfahrt.»
Hengameh Yaghoobifarah. Ministerium der Träume. Roman. Erschienen 2021. Aufbau Verlag.
18. Februar 2021