In ihrem Debütbuch «Was ich dir nicht sage» verbindet Anja Nunyola Glover auf eindrucksvolle Weise autobiografische Erlebnisse mit einer scharfsinnigen gesellschaftskritischen Analyse. Während sie sich von einer Rückenverletzung erholt, öffnet sie nicht nur den Raum für eine persönliche Reflexion über den emotionalen Schmerz, den diese körperliche Verletzung ausgelöst hat, sondern spricht vor allem auch über die systematischen Wunden, die Rassismus in einem aktivistischen Leben zu hinterlassen vermag.
![](https://akutmag.ch/wp-content/uploads/2025/01/Buchvorschau_Cover.png)
Das Buch ist ein mutiger Versuch, tabuisierte Themen zu brechen und die tiefgreifenden Strukturen von Diskriminierung in der Schweiz und darüber hinaus sichtbar zu machen. In unserem Interview mit der Soziologin und Rassismus- Expertin sprechen wir darüber, wie ihre vielen Rollen miteinander verwoben sind und wie sie den Heilungsprozess in einer Welt, die von Ungleichheit durchzogen ist, begreift. Was bedeutet Heilung für ein Individuum? Was bedeuten Räume, in denen man einfach sein darf? Und wie gelang es der Autorin innerhalb eines Werkes, Brücken zu direkt Betroffenen und nicht Betroffenen zu schlagen? Ein kleiner Einblick in die verflochtene Arbeit von Anja Nunyola Glover.
Anja, in deinem Buch beleuchtest du die Strukturen von Rassismus und verwebst sie gekonnt mit deinen autobiografischen Erfahrungen. Es gibt hierzulande nicht viele Bücher dieser Art. Wie fühlt es sich an, in diesem spezifischen Kontext deine Erstpublikation zu veröffentlichen?
Anja: An diesem Buch gab es für mich persönlich irgendwie keinen Weg vorbei. Ich schreibe, seit ich denken kann, und diese Geschichte ist so fest Teil von mir selbst wie das Schreiben. Sie ist auch fest Teil dieser Welt. Ich habe mit diesem Buch viel riskiert – nicht nur emotional, sondern auch in Bezug auf die Reaktionen und die Herausforderungen, es zu veröffentlichen. Aber die Dinge nicht zu sagen, sie nicht zu beschreiben, wäre für mich und meine Heilung ein viel grösseres Risiko gewesen.
Ich habe das Privileg, die Dinge zu benennen, die viele nicht benennen können oder dürfen. Wege zu finden, ein Buch zu publizieren, auch wenn Verlage es nicht wollten, war eine Herausforderung, aber auch eine Möglichkeit, dieses Privileg zu nutzen und sichtbar zu machen.
Dein Buch fordert Leser:innen dazu auf, ihre eigenen Denkmuster kritisch zu hinterfragen. Nun frage ich mich wie unterschiedlich betroffene und nicht betroffene Leser:innen auf deine Worte reagieren könnten. Wie schlägst du hier die Brücke zwischen diesen beiden Zielgruppen?
Ich wollte eine Sprache finden, die sowohl direkt-betroffene als auch nicht betroffene Menschen anspricht, ohne die Erfahrungen der einen oder die Verantwortung der anderen zu relativieren. Für direkt-betroffene Leser:innen hoffe ich, dass sie sich in meinen Erfahrungen wiederfinden und sich darin bestärkt fühlen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Nicht betroffene Leser:innen fordere ich heraus, zuzuhören und Verantwortung zu übernehmen, ohne in Schuldgefühle zu verfallen. Die Brücke entsteht durch Authentizität – ich spreche aus meiner Perspektive, aber mit dem Wunsch, Dialoge zu eröffnen und zu verbinden.
![](https://akutmag.ch/wp-content/uploads/2025/01/AnjaGlover_kluka_27-1-683x1024.jpg)
Auch als Soziologin, Autorin, Moderatorin, Podcasterin, Rassismus-Expertin und Social Entrepreneurin trägst du viele Hüte gleichzeitig. Inwiefern bereichern und beeinflussen sich diese verschiedenen Rollen gegenseitig?
Sie funktionieren alle in der Vernetzung zueinander: Meine Arbeit als Soziologin prägt mein Verständnis von Systemen und Strukturen, was wiederum in meine Autorinnenschaft einfliesst. Das Schreiben hilft mir, komplexe Themen greifbarer zu machen, was meine Moderationen und Workshops bereichert. Mein Podcast ermöglicht es mir, Perspektiven anderer einzufangen und sie mit meiner Arbeit zu verweben. Entrepreneurship hilft mir theoretische Konzepte auch in einer Welt zu verstehen, die von Kapitalismus durchdrungen ist. Jede Rolle ist eine Facette meines Engagements für Veränderung, und zusammen bilden sie eine Einheit, die meine Botschaften stärkt.
Besonders spannend finde ich, wie du im Kapitel «Verletzung» aufzeigst, wie sich «Racial Trauma» im Körper manifestieren kann. Was bedeutet Heilung für dich persönlich?
Heilung bedeutet für mich, die Verbindung zu meinem Körper, meinen Gefühlen, meinen Vorfahr:innen und zu anderen Menschen wiederherzustellen. Es ist ein Prozess des Wiederfindens, des Erkennens und des Loslassens. Besonders wichtig ist es, den Schmerz, der durch Rassismus entsteht, nicht zu internalisieren, sondern ihn in einem sicheren Raum auszudrücken. Für mich persönlich bedeutet Heilung auch Gemeinschaft: sich getragen zu fühlen, aber gleichzeitig die Kraft in sich selbst zu finden.
Wie lässt sich ein solcher Heilungsprozess in einer Welt fortsetzen, die systematisch Diskriminierung reproduziert?
Heilung in einer diskriminierenden Welt ist ein Akt des Widerstands. Es bedeutet, sich Räume zu schaffen, in denen man sein kann, ohne sich erklären zu müssen. Es bedeutet, Strukturen der Unterdrückung zu erkennen, aber sie nicht das eigene Leben definieren zu lassen. Für mich ist dieser Prozess nie abgeschlossen – er ist dynamisch. Gleichzeitig ist es wichtig, auf kollektive Heilung hinzuarbeiten und unsere Verletzlichkeit zu zeigen. Nur gemeinsam können wir Systeme verändern, und das beginnt mit der Bereitschaft, sich gegenseitig zu stärken.
09. Januar 2025