Das Stichwort wirkt wie die Zwölf-Uhr-Glocke in einem Spaghetti-Western: Insta! Doch wo die Cowboys jetzt ihre Colts gezogen hätten, flutschen hier die Smartphones aus den Hüfttaschen. Lucky bietet so-und-so-viele Follower. Simsalabim – Peng peng! – kontert mit einem Werbevertrag. Damit schiesst er den Rivalen eiskalt ab.
Nein, hier sind wir nicht bei Sergio Leone. Sondern auf einer Dachterrasse in der aussenstädtischen Peripherie zwischen Industrie und Gentrifizierung. Weder Lucky noch Simsalabim heissen tatsächlich so, die Decknamen prangen auf den Buttons im Stil von Sheriffsternen, welche ihnen die am Eingang postierte Glücksfee an die Brust gepinnt hat. Schiessen (und bitte auch treffen!) soll an diesem goldenen Spätsommerabend aber vor allem einer: Amor. Denn hier lädt «Noii», ein regional ausgerichtetes Dating-Portal, das vor einem Jahr live ging und bis dato rund 15‘000 Accounts verbucht, zu seiner monatlichen Single-Fete ein.
Für Spätgeborene und Pandemiegeschädigte: Das heisst, statt Bumble-Tinder-Handybilder durchzuswipen, geht mann und frau (LGBTQ-Quote: 10%) wirklich hin. In Fleisch und Blut. Aufgebrezelt von der Hutkrempe bis zum Stiefelabsatz. «Wir möchten das Online-Kennenlernen baldmöglichst ins echte Leben verlagern», erklärt eine Mitgründerin des Startups ihr Konzept. Ein angenehmer Nebeneffekt: Was sich auf fotogefilterten Selfies als grosses Los anpreist, entpuppt sich in real life zuweilen als Mogelpackung. Hier hingegen gilt: What you see is what you get!
Klar, das gab es schon mal. Damals, als wir noch festnetztelefonierten und VHS-Kassetten in die Videorecorder schoben. Spätestens mit der Jahrtausendwende ging es den Kuppel-Partys dann an den Kragen. Nun blüht ihnen eine Renaissance, wie die Datingportal-Co-Gründerin prophezeit: Jenseits des Ärmelkanals sowie in den USA seien Single-Events so unverzichtbar für die Ausgehszene wie die Mundharmonika in «Spiel mir das Lied vom Tod».
Eine nach der anderen tröpfeln sie herein, die buttonbestückten, suchenden Seelen. Einige gehen gar im Doppelpack auf die Pirsch, herausgeputzt und gestriegelt. Das Spektrum der vertretenen Charakterstereotypen ist so breit, dass jeder Diversity-Behörde das Augenwasser käme. Von der kürzlich vom Japan-Semester heimgekehrten Politologiestudentin mit Goldküsten-Stammbaum (Zollywood Hills, Baby!), über den Wanderer, der mit Willkommens-Bierflasche im Anschlag rastlos seine Runden dreht, bis zum Muscle-Pumper mit Skorpion-Tattoo am Hals und Army-Cut vom 25-Franken-Coiffeur. Von der von schwangerschaftstechnischen Torschlusspanik befallenen Endzwanzigerin über den Retorten-Rocker in fabrikneuer Abgefuckt-von-der-Stange-Designerjeansjacke zum Grossraumbüro-Saubermann, der sich um einen Eyecatcher bemüht die Fingernägel schwarz lackiert hat. Dazu Expats von Fernost bis Wildwest.
Und ein Gorilla. Wirklich! In einer der sonnenbeschirmten Lounges stellt der Kerl entblössten Oberkörpers sein Brusthaar zur Schau und grunzt dazu ziemlich affig. Beim genaueren Betrachten stellen wir fest, dass die archaische Gestik weniger mit Testosteronüberschuss zu tun hat als mit einem Gesellschaftsspiel. Solche dienen als Eisbrecher, um unsere ur-helvetische Hemmschwelle zu überwinden. «Auf einen festen Ablauf verzichten wir bewusst, der Abend soll sich offen anfühlen», kommentiert die Co-Gründerin. «Wir probieren, eine Mischung aus simplen und spezielleren Spielen zu finden.»
Jenen beispielsweise, die inmitten der rege anwachsenden Masse ihr Button-Pendant erspähen, winkt ein Gratis-Shot als Belohnung. Wir könnten unsere Treffsicherheit auch beim Fear-Pong unter Beweis stellen oder à la Russisch Roulette am Glücksrad drehen. Unser Glück versuchen wir derweil lieber, indem wir uns zu einem spielfreien Grüppchen gesellen. Als sei es, um das oben angrissene Klischee-Dropping abzuschliessen, tanzen da zwei Soon-to-be-Influencerinnen herbei, lassen Flyer vom abendroten Himmel schneien und möchten wissen, ob wir unseren neuen Lieblingspodcast schon entdeckt hätten. Unter den von ihnen produzierten nota bene. Dating, Sex, Style, das sei ihr Geschäft und wenn wir die Cojones hätten, könnten wir uns JETZT! von ihnen mit Fragen perforieren lassen. Womit der Gorilla zu hüpfen kommt, die Chance, sich aus dem Spieltreiben zu verabschieden, mit seinen Affenpranken ergreifend, bevor die allein für den Eintritt hingeblätterten 35 Franken endgültig in den Sand gesetzt sind.
Etwas günstiger ist unser Vis-à-vis – Butterfly – davongekommen, weil: Premium-Membership! 50 Stutz Jahresgebühr. In seinem Bauch, wo eigentlich Schmetterlinge flattern sollten, knurrt es gerade kampfhundemässig. Also checkt Butterfly das kulinarische Angebot. Er entscheidet sich für einen Früchteteller als Entrée und Pommes als Hauptgang, sie kommen mit Oktoberfest-Serviette als Beilage. Die Preise sind gesalzen. Die Pommes nicht.
«Wir gestalten die Preise so, dass sich unser Aufwand auch lohnt», erklärt die Mitorganisatorin. «Einerseits orientieren wir uns am üblichen hiesigen Niveau, Clubs verlangen auch 25 bis 35 Franken Eintritt. Anderseits steckt reichlich Organisation hinter den Anlässen: Werbung, Drucksachen, die Zusammenstellung der richtigen Publikumsmischung…» Übrigens böten sie im Vorfeld ein Kontingent an günstigerer Earlybird-Tickets an. In Sachen fester Kost begnügen wir uns schliesslich mit 50-Prozent-Sushi vom Tankstellen-Shop. Verräterisch grinst uns die Verkäuferin beim Zahlen zu. Hm. Vielleicht hätten wir den Namensbutton für den externen Besorgungsgang besser entfernt…
Bis wir getränketechnisch nachladen und uns den Reis aus den Zahnzwischenräumen spülen können, fliesst einiges an Wasser den Colorado River hinunter: Fast bis in den Nachbarskanton zieht sich die Schlange jener, die sich Mut anzutrinken gedenken. Da plötzlich, Heureka!, kreuzt unser weibliches Namensbutton-Äquivalent unseren Weg. Optisch nicht mein Typ, aber egal, Gratis-Shot Feuer frei! Pro Kehle gibt es ein halb mit Berliner, halb mit urbaner Schweizer Luft gefülltes Wegwerf-Becherchen. Im Plastik erhalten wir später auch den Weisswein, ungefragt mit Eiswürfeln garniert.
Neue Chance, neue Jagdgründe, wir entdecken: zwei Ladys, einen Gentleman. The good, the bad & the ugly? In einer Ecke: Gänseblümchen (Chrüsimüsi-Dialekt mit Innerschweizer Einschlag) plus Beachbunny (ihre an Berliner Luft gewöhnte, da am Brandenburger Tor aufgewachsene, BFF). In der anderen Ecke: Herzblatt (männlich) aus Baden. Also genauer gesagt Wettingen. Genau, Aargau. Er saugt an seinem Vaporizer, haucht eine Popcorn-Bourbon-Dampfwolke in die Runde. Als hätten sie die Whiskey-Lounge des Doler Grand in ein Multiplex-Kino verlegt. Sitzen wir hier im falschen Film?
Gänseblümchen schwärmt von der City – «‘sch ja sooooo geil! All die Restaurants, woooow!» Gastro sei ihre Passion und früher sogar ihr Beruf gewesen. Inzwischen bezieht sie den Zahltag von einem Kosmetik-Konzern. Rezeptionistin. Herzblatt (männlich) fällt da ein, dass er die Parkuhr füttern sollte. Kaum weg, besetzt Twilight (männlich) den freien Platz und nestelt an seinem Rucksack. Er müsse bald auf den Zug. Long long way home. Wo sein «home» denn sei, erkundigt sich Gänseblümchen und Twilight antwortet: Innerschweiz, Hinterwiesendingsbums. «Oh my god! Oh my god!», quiekt Gänseblümchen, sie komme aus Vorderwiesendingsbums. «Kännsch sicher de Toni, d Nadja und de Fränk!» «Nääää», näselt Twilight, ob sie den Tobi Wyrsch kenne, und «Oh my god!, Oh my god!», keucht Gänseblümchen, das sei der Cousin vom Neffen ihres Grossonkels! Als sie ihr Alle-meine-Schulfreunde-Buch durchexerziert haben, konsultiert Twilight den SBB-Fahrplan, uiuiui, sein Stündchen hat geschlagen, so long and good bye.
Die Uhr tickt genauso für alle anderen. Bald ist Zapfenstreich, eine messerscharfe Mondsichel funkelt zwischen den Schleierwolken hervor. Vermutlich duckt sich Amor dahinter und verzweifelt beinahe, weil er beim besten Willen kein geeignetes Ziel findet. Durch die gelichteten Reihen auf der inzwischen künstlich beleuchteten Terrasse streunen wie hungrige Kojoten die Einzelgänger, nach einem Gratis-Shot lechzend ihrem Buttonmatch auf der Spur. Auf einmal taucht Herzblatt (weiblich) auf, setzt sich exakt dorthin, wo zuvor Herzblatt (männlich) an seinem Vape saugte – dummerweise nur hat er sich längst in Berliner Luft aufgelöst.
Die Veranstalter:innen geben an, dass rund 60% der Small-Talks an ihren Feten auf einen Nummerntausch hinausliefen und/oder auf ein gemeinsames Weiterziehen am selben Abend. Unser Adlerauge findet dies – mindestens bei dieser Gelegenheit – eine optimistische Schätzung. So allein, wie wir gekommen sind, schwingen wir uns in den Sattel. Am Einkaufszentrum gegenüber glimmen Leuchtreklamen. Eine davon wurde entfernt, der Schriftzug ist bloss noch in vagen Umrissen an der Fassade angedeutet. Es stand dort einmal: «Vögele».