Ein junger Mann sitzt in oranger Häftlingsmontur auf einem Stuhl, als das Publikum an diesem Sonntagabend langsam in den Pfauen tröpfelt. Nachdenklich starrt er in die Luft. Im Hintergrund sitzen fünf weitere Darsteller*innen auf Stühlen. Das dunkle, karg gehaltene Bühnenbild und die ruhigen Figuren deuten so gar nicht auf die dichte, visuell und auditiv ausufernde Vorstellung hin, die gleich losgehen wird.
«Es war einmal ein Staatsanwalt», ertönt eine Stimme aus dem Off – und ebenjener tritt auf die Bühne (Tomas Wodianka). Adrett gekleidet, ganz in Grau, ein erprobter Hüter des Gesetzes, der zu verstehen versucht, warum ein unauffälliger, angepasster Bankangestellter (gespielt von Henri Mertens) scheinbar ohne jedes Motiv einen Hauswart mit einer Axt erschlagen hat. Bereits hier, zu Beginn des Stücks, verzerrt sich die Realität: Die Schauspieler*innen verfallen urplötzlich in verlangsamte, roboterhafte Bewegungen, wiederholen ihre Sätze mehrfach – wie ein Sprung in der Schallplatte, ein Glitch im Computerspiel. Ein Motiv, das sich durchs ganze Stück zieht.
Als Vorwegnahme, ein Hinweis auf die Persönlichkeitsveränderung des Protagonisten: Der Staatsanwalt, der anfangs noch fest in seiner Rolle als Verteidiger der Ordnung steht, verwandelt sich im Laufe des Stücks in die mythisch aufgeladene Figur des «Graf Öderland mit der Axt in der Hand». Je intensiver er dem fehlenden Motiv des Angeklagten nachgeht, desto tiefer versinkt er in Grübeleien – über die Enge gesellschaftlicher Normen, die Leere des Alltags und die Grenzen eines Systems, das für ihn zunehmend absurd und sinnlos erscheint. Denn was, wenn der Mörder gar nicht krank ist – sondern gesund in einer kranken Welt? Ist der Wunsch nach Ausbruch – selbst in Form von Gewalt – nicht etwa Ausdruck von Wahnsinn, sondern vielmehr von radikaler Klarheit? Und wer trägt die Verantwortung in einem System, das zwar Sicherheit verspricht, aber existenzielle Entfremdung produziert?
Schliesslich bricht der zweifelnde Staatsanwalt radikal mit seinem bürgerlichen Leben, beginnt selbst, als Axtmörder durchs Land zu ziehen, und schart mit seinen populistischen Reden – von Regie und Schauspiel ad absurdum gespielt – eine gewaltsame Oppositionsbewegung um sich. Die Axt wird zum Zeichen des «Widerstands», ein Verkaufsboom setzt ein. Denn wie der Graf so treffend konstatiert: «Wo käme man heutzutage hin ohne Axt?»

Für die Wiederaufnahme des 1951 erschienenen Theaterstücks holt Bossard so einige Kniffe aus dem Theaterlager: Die 25 Figuren aus Frischs Vorlage teilt sie auf nur sieben Darsteller*innen auf. Bis auf Tomas Wodianka, der durchgehend Staatsanwalt/Graf Öderland bleibt, wechseln die übrigen sechs permanent ihre Rollen. Das tun sie mit Bravour. Dennoch: Wer das Stück nicht kennt, wird hier stellenweise gefordert – aber gerade diese Fragmentierung verstärkt die entfremdende Wirkung, das Gefühl der Entgleisung.
Ebenso überzeugend: das Bühnenbild von Romy Springsguth. Während nicht immer alle Schauspielenden physisch auf der Bühne sind, erscheinen sie immer wieder per Live-Videoübertragung aus anderen Räumen des Pfauens. Die überdimensionale Leinwand und die kleinen Fernsehbildschirme, gespickt mit flackernden Überwachungsbildern, erzeugen ein Gefühl ständiger Kontrolle und Multiplikation des Individuums – fast, als hätte man selbst Stimmen im Kopf.
Claudia Bossard greift die von Max Frisch aufgeworfenen Fragen nach individueller und kollektiver Verantwortung auf und rückt sie zugespitzt in eine Schweizer Gegenwart – etwa, wenn fröhlich ein Apéro-Plättli durch die Zuschauer*innen gereicht wird, während auf der Bühne Menschen ermordet werden. Oder wenn das Publikum direkt gefragt wird: «Wie rechtfertigen Sie Ihren Reichtum?»
Ihre Inszenierung ist keine leichte Kost. Die multimediale Reizüberflutung und die inhaltlich überladenen Längen verlangen dem Publikum einiges ab. Doch gerade in dieser Vielschichtigkeit und Evokation des Überforderungsgefühls liegt auch die Stärke des Abends. «Graf Öderland» ist eine kluge, schonungslos direkte Auseinandersetzung mit der Frage, wie stabil unser sogenannter Normalzustand wirklich ist. Ein Stück, das in seiner Aktualität fast erschreckend ist. Das uns radikal daran erinnert: Systeme sind immer menschengemacht. Und damit veränderbar – in jede Richtung.
Noch zu sehen bis am 4. Dezember 2025 im Pfauen, Schauspielhaus Zürich.
«Graf Öderland – eine Moritat in zwölf Bildern» von Max Frisch
Regie: Claudia Bossard, Bühne und Kostüme: Romy Springsguth, Musik und Video: Jacob Suske, Licht: Christoph Kunz, Dramaturgie: Nina Rühmeier.
Mit: Lukas Darnstädt, Henri Mertens, Laina Schwarz, Steven Adjei Sowah, Thomas Wodianka, Louis Rüegger (ZHDK) und Jaël Saier (ZHDK).
Premiere am 25. September 2025
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
19. Oktober 2025