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Fight the Power #8

Der Kampf von Journalist*innen wie Givara Budeiri und Mariam Bargouthi: Gegen die Straflosigkeit Israels und für Pressefreiheit in den Israelisch besetzten Gebieten.

Von Daniel Ryser

Sie trug eine Weste, auf der unübersehbar «Presse» stand. Und als ob das nicht genug gewesen wäre: Givara Budeiri ist eine journalistische Legende im Westjordanland, Reporterin von Al Jazeera, man kennt sie. Man wusste, wer sie war. Anfangs Juni, sie war dabei, die Vertreibungen palästinensischer Familien aus Ost-Jerusalem mit einem Kamerateam zu dokumentieren, wurde sie von israelischen Soldat*innen angegriffen, geschlagen, ihre Ausrüstung zerstört. Dann wurde sie verhaftet. «Sie kamen von überall. Ich weiss nicht, warum. Sie schlugen mich gegen eine Wand. Sie traten auf mich ein im Wagen, in den sie mich gebracht hatten. Sie traten auf mich ein von allen Seiten», sagte Budeiri später. Keine grosse News-Schlagzeile in unseren Breitengraden, obwohl ein paar Tage zuvor, bei der Bombardierung des Gazastreifen, einem von Israel seit 14 Jahren komplett blockierten Freiluftgefängnis, ganze Wohntürme von der israelischen Armee gezielt zerbombt wurden, weil sich dort die Redaktionsräume von Associated Press und Al Jazeera befanden: Menschenrechtsorganisationen warnten schon vor diesem offensichtlichen Kriegsverbrechen, dass Israel bewusst die Pressefreiheit ausschalte, damit über die Vertreibungen im Westjordanland nicht berichtet werden kann. Eine freie Presse, die auch in Gaza massiv unter Druck ist, seit durch die israelische Blockade in Gaza die Hamas schrittweise die Kontrolle übernommen hat. 

Wie frei ist die Presse denn überhaupt noch in den Israelisch besetzten Gebieten? Dort vertreibt Israel als Besatzungsmacht wider der vierten Genfer Konvention systematisch palästinensische Familien aus Ost-Jerusalem und attackiert dabei scheinbar, wie im Fall von Givara Budeiri, die Medien, die darüber berichten wollen. Die Vierte Genfer Konvention von 1949 besagt: «Die Besatzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.» Doch die Berichterstattung ist dünn, umso schockierender schien vermutlich deshalb in unseren Breitengraden die Erkenntnis eines ausführlichen Berichts der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, welchen diese am 27. April 2021 publizierte: «A Threshold Crossed: Israeli Authorities and the Crimes of Apartheid and Persecution». Der Bericht beschreibt aus rechtlicher Perspektive, wie Israel sich dem international definierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Apartheid, schuldig mache: Die Verfolgung von Zivilist*innen,  die Zerschlagung von Familien und die verhinderte Zusammenführung, Straffreiheit von Siedlern, welche Palästinenser*innen ermorden, ein Strassensystem, das nur einem Teil der Bevölkerung zugänglich sei – kurz: Eine komplette Aushebelung jeglichen Rechts für einen Teil der Bevölkerung.

Ich hatte für diese Kolumne eigentlich ein Interview mit der palästinensischen Journalistin Mariam Bargouthi geplant. Sie verschob es kurzfristig. Die Frage: Wie steht es um die Pressefreiheit in den Israelisch besetzten Gebieten? Können palästinensische Journalist*innen überhaupt arbeiten? Oder sind sie an Leib und Leben bedroht, etwa durch Siedler*innen, aber auch durch die israelischen Sicherheitsbehörden?

Bargouthi hatte im Mai auf Twitter regelrechte Hilferufe gesendet. Zu einer Zeit, als zum Beispiel der 23-jährige Poet Mohammed El-Kurd, dessen Familie derzeit aus Sheik Jarrah in Ost-Jerusalem vertrieben wird, direkt nach einem TV-Interview mit Democracy Now! Verhaftet worden war, weil er in jenem Interview Israel als «Apartheidsstaat» und die systematischen Vertreibungen von Palästinenser*innen als «Siedler-Kolonialismus» bezeichnet hatte. 

Angst, Vertreibung und Schrecken im Westjordanland – und der Tod der Pressefreiheit? Statt dem geplanten Interview hier Bargouthis Twitter-O-Ton von Ende Mai 2021. Botschaften zum Zustand der Pressefreiheit. Zur Situation in Ost-Jerusalem, wo Siedler*innen Schritt für Schritt die Häuser von palästinensischen Familien übernehmen und letzteren nur die Flucht bleibt: «Ich bin nicht überrascht, dass bei der Berichterstattung über Palästina der Begriff Ethnische Säuberung nirgendwo auftaucht. Wie kann man ein Verbrechen eingestehen, wenn man selber Teil davon ist? Einige der Wohnungen und Büros, die derzeit von der New York Times und anderen genutzt werden, gehörten Palästinensern, die 1948 vertrieben wurden.»

Dann, während in Gaza hunderte Zivilist*innen und Medien bombardiert werden: «Ich höre von Redaktoren, die Stories aus Gaza zurückweisen mit der Begründung, das sei doch immer dasselbe, oder es passe nicht zur eigenen Leserschaft. Diese Journalisten hier schreiben, während sie bombardiert werden. Geht es um dokumentierende Berichterstattung oder um schöne Aufhänger?»

Und weiter, an die Leserschaft ausserhalb des Westjordanlands gerichtet: «Kontextualisiert, was berichtet wird. Wir können das nicht. Die Situation hier vor Ort ist so unsicher, und niemand weiss, was als nächstes passiert. Wir beobachten, wie israelische Soldaten und Polizisten sich als Zivilisten verkleiden und dann Seite an Seite mit Siedlern Gewalt ausüben, um nicht als Soldaten oder Polizisten zur Rechenschaft gezogen werden zu können.»

An Joe Biden gerichtet twitterte die Ramallah lebende amerikanisch-palästinensische Journalistin und Forscherin, während die Vertreibungen voranschritten und Gaza seinen vierten Krieg in wenigen Jahren erlebte: Man habe sich von ihm Wandel erhofft, statt dass er das Vermächtnis von Donald Trump beschütze und die Straflosigkeit Israels weiter stütze (die USA unterstützen das israelische Militär mit 3,8 Milliarden US-Dollar pro Jahr): «Das ist der Grund, warum man mehr palästinensische Analysten und Autoren in internationalen Medien sieht, als palästinensische Reporter vor Ort. Und ebenso mehr Videojournalisten, weil Bilder härter zu widerlegen sind. Unsere journalistische Integrität wurde vom israelischen Ministerium für internationale Beziehungen völlig kompromittiert. Es ist entsetzlich.»

Und schliesslich witterte Mariam Bargouthi: «Ich kenne viele palästinensische Journalist*innen, mich eingeschlossen, welche aufgegeben haben, Berichte zu verfassen oder mit News-Organisationen zusammenzuarbeiten, und zwar weil wir so heftig zensiert werden. Die Redaktor*innen waren so voller Angst, dass es ihre eigenen Positionen gefährden könnte, wenn Palästinenser*innen als Journalist*innen die Gewalt im Westjordanland beschreiben. Man hat uns konstant im Stich gelassen.»

PS. Givara Budeiri, die Al-Jazeera-Reporterin mit der «Presse»-Weste, wurde, nachdem sie am 6. Juni zusammengeschlagen und ihre Ausrüstung zerstört worden war, nach einigen Stunden aus israelischer Haft entlassen – aber mit einem Rayonverbot von fünfzehn Tagen belegt für Ost-Jerusalem, also jenem Ort, von welchem sie über die systematischen Vertreibungen berichtet hatte.

PPS. Nachdem die eigenen Redaktionsräume in Gaza von israelischen Raketen getroffen worden waren – ein Kriegsverbrechen – verfasste der Direktor der Asscoiated Press eine Art Protestnote in Richtung israelischer Regierung. Weiterer grösserer Protest blieb aus. Ein paar Tage später entliess AP hingegen ihre 22-jährige Journalistin Emily Wilder fristlos. Rechte Gruppen hatten in den Sozialen Medien massiv Stimmung gegen die Journalistin gemacht, weil die junge Frau jüdischen Glaubens während ihres Studiums in Stanford zwei pro-palästinenischen Gruppen angehört hatte. Wilder schrieb in einer Stellungnahme, sie sei «Opfer einer asymmetrischen Durchsetzung von Regeln in Bezug auf Objektivität». AP erklärte die fristlose Kündigung trotz massivem Protest nicht.

PPPS. Auch wenn die sogenannte «Cancel Culture» ein Lieblingsthema der Medien ist, fand der Fall von Emily Wilder im deutschsprachigen Raum keine Beachtung, und auch der Angriff auf die Journalistin Givara Budeiri wurde kaum thematisiert.

15. Juni 2021

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