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Gianna Roveres «Episoden von Alltagselefanten»

Die Elefantinnen in unserem Raum – über Gianna Roveres literarisches Debüt «Episoden von Alltagselefanten» zwischen Körper, Sprache und Solidarität.

Von Norma Eggenberger

Manchmal muss man gar nicht weit reisen, um Elefanten zu begegnen. Als Kind sass ich auf dem Rücken eines Elefanten im Zirkus Knie – auf einem hölzernen Podest, geschnallt auf das Tier, wie man es sonst von Bildern aus Thailand kennt. Nur eben mitten in Rapperswil.

Doch Elefanten begegnen uns nicht nur im Zoo oder in der Wildnis, sondern auch im Alltag: als Sprachbilder, als Gefühle, als Urteile über unsere Körper, als Blicke im Spiegel, als sprichwörtliches Tier im Porzellanladen. Manchmal flüstern sie uns Sätze zu, die wir längst vergessen glaubten, aber tief in uns gespeichert sind. Worte, die wir als Kinder gehört haben, Urteile über Aussehen, Verhalten, Dasein. Diese leisen, schwergewichtigen Alltagselefanten stehen im Zentrum von Gianna Roveres literarischem Debüt. In ihrem blauen Buch versammelt sie Geschichten über Elefantinnen – mal melancholisch, mal ironisch, mal zart und nachdenklich, immer tiefgründig.

Roveres Elefantinnen bewegen sich nicht durch ferne Savannen, sondern durch unsere Gegenwart. Sie sitzen im Tram, balancieren auf Zwetschgenbäumen, scrollen durch Handys, werden wegen ihrer Brüste oder Beine beurteilt oder liegen wie ein Gewicht auf der Brust, wenn Selbstzweifel laut werden. Elefanten sind laut, ungestüm, trampeln und trompeten, und doch treten ihre gepolsterten Füsse nahezu lautlos auf. In ähnlicher Weise schreibt Rovere: scharf beobachtend, mit feinem Gespür für Zwischentöne. Ihre Geschichten aus dem Alltag zeigen, wie sich gesellschaftliche Normen und Urteile fast unbemerkt in unser Denken einschleichen. Gerade deshalb wirken sie universell, und wer lange genug in ihnen blättert, findet sich womöglich selbst darin wieder. Dadurch sind Roveres Elefantinnen keine reinen Metaphern, sondern stehen für gesellschaftliche Figuren, die zeigen, wie relevant das Alltägliche für unser Denken ist. Wie es sich in scheinbar belanglosen Szenen und beiläufigen Sätzen zeigt. Ihre Elefantinnen machen sich Gedanken über Körperbilder, über Sichtbarkeit und darüber, wie viel Raum man sich nehmen darf oder eben nicht.

Schon früh hat Rovere mit dem Sammeln begonnen. Bevor es Elefantengeschichten waren, sammelte sie Einkaufslisten. Im gemeinsamen Gespräch erzählt sie, wie gross ihre Fantasie damals bereits war – aus Zucker, Eiern und Mehl spann sie ganze Leben. Ein Geburtstagskuchen? Für wen? Wer hat das gekauft? Diese spielerische Offenheit zieht sich auch durch ihre literarischen Episoden. Neugierig, humorvoll und sensibel entdeckt sie die Stadt, den Alltag, die Menschen und öffnet durch ihre Texte auch unseren Blick auf das vermeintlich Vertraute neu. Im Gespräch erzählt Rovere auch vom Matriarchat der Elefanten: Weibliche Tiere führen die Herde, treffen Entscheidungen, kümmern sich umeinander. Sie sind stark, fürsorglich, solidarisch. Mutter-Tochter-Beziehungen bestehen oft ein Leben lang, bis der Tod sie trennt. Diese kollektive Dimension durchzieht auch das Buch, das blau und schmal in meiner Hand liegt und mit Elefantenbildern übersät ist. Wer genau hinschaut, beginnt sie überall zu sehen.

Was «Episoden von Alltagselefanten» besonders macht, ist genau diese kollektive Dimension. Rovere hat nicht nur eigene Erfahrungen literarisiert, sondern Eindrücke, Erzählungen und Sätze von Freundinnen und Bekannten. Manchmal wurde ihr ein Gefühl geschildert, manchmal ein Satz, aus dem ganze Texte entstanden, die mehrstimmig klingen. Die Elefantinnen stehen damit nicht nur für das Einzelne, sondern für eine geteilte Erfahrung: von weiblicher Körperlichkeit, von gesellschaftlicher Zuschreibung, von Solidarität.

Diese Idee eines literarischen Kollektivs findet auch in der Veröffentlichung ihren Ausdruck. Roveres Buch erschien am 22. April im Verlag «sechsundzwanzig», einem jungen feministischen Verlag, der sich auf das Erbe von Ruth Mayer bezieht – jener Verlegerin, die mit dem Verlag «edition R+F» weibliche Literatur in der Schweiz sichtbar machte. «sechsundzwanzig» steht für Bücher mit Haltung: solidarisch, feministisch und raumeinnehmend. Roveres Debüt und ihre Elefantinnen fügen sich nahtlos in dieses Selbstverständnis ein.

Auch formal überzeugt das Buch. Manche Texte sind nur wenige Sätze lang – Miniaturen, in denen ganze Welten aufscheinen. Roveres Sprache ist präzise und poetisch, nie pathetisch. Sie spielt mit Bildern, öffnet Räume, wechselt Perspektiven. Oft bleibt etwas unausgesprochen – und gerade darin liegt ihr Potenzial. Ein leichtes Heben des Rüssels genügt, und man steckt mitten in einer Geschichte, die im Nachhall immer grösser wird. Jeder Text erhält seinen Raum – auch typografisch, durch variierende Schriftgrössen, die jedem Beitrag seinen rechtmässigen Platz sichern.

«Episoden von Alltagselefanten» ist kein lautes Buch. Aber es bleibt. Wie ein Elefant, der lange unbeachtet im Raum stand und sich nun endlich zu Wort meldet. Gianna Rovere ist ein feinfühliges, kluges und politisches Debüt gelungen. Es erinnert uns daran, dass vieles, was wir für individuelle Erfahrung halten, in Wirklichkeit strukturell ist. Und dass Literatur eine Form von Solidarität sein kann – durch Sprache, durch Zuhören, durch Teilen.

Episoden von Alltagselefanten könnt ihr hier beim Verlag «sechsundzwanzig» bestellen. Am 27. Juni habt ihr zudem die Gelegenheit, Gianna Rovere bei ihrer Buchvernissage im «Karl der Grosse» zuzuhören, wenn sie ausgewählte Geschichten vorträgt.

02. Juni 2025

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