Triggerwarnung: Sexueller Missbrauch, Abtreibung
Nach einigen erfolglosen Anfragen und einem verschobenen Termin habe ich dreissig Minuten Zeit, um mit Laia Abril über Zoom über ihre Arbeit zu reden. Nicht erstaunlich, die 37-Jährige ist eine der gefragtesten Künstler:innen unserer Zeit. Die Katalanin lebt, wie sie es selbst sagt, gerade überall und nirgends – unter anderem eben auch in der Schweiz, wo sie seit einem Jahr an der Hochschule Luzern im Studiengang Camera Arts unterrichtet. 30 Minuten Zeit also – oder bis sie ihre Stimme verliert, wie sie ankündigt – um mit Abril über Postfotografie, Trauma und Misogynie zu sprechen.
Mit der Schweiz habe sie eine sehr gute Beziehung, so Abril. Schon oft hat sie hier ausgestellt – zuletzt etwa im Musée d’Elysee in Lausanne oder im L’Appartement in Vevey. Während in Lausanne «On Mass Hysteria» gezeigt wurde, war in Vevey «Menstruation Myths» zu sehen. Auch der Durchbruch gelang Abril mit Projekten, die sich mit feministischen Themen auseinandersetzen: Erst nahm sie sich mit «The Epilogue» Essstörungen an, um dann mit «On Abortion» und «On Rape» die individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Abtreibung und Vergewaltigung zu untersuchen. Letztere beide Projekte fasst sie als Kapitel eins und zwei des grösseren Projektes «On Misogyny» zusammen.
Ihre Werke, die oft sowohl als Ausstellung wie auch als Buch zu sehen sind, sind keine leichte Kost. Für «On Rape» hat sie beispielsweise die Kleidungsstücke fotografiert, die von Vergewaltigungsopfern getragen wurden – zugleich eine geschickte Form der Anonymisierung und eine Kritik des Victim-Blamings, bei dem sexuelle Gewalt oft in Zusammenhang mit der angeblich freizügigen Kleidung des Opfers gebracht wird. Dies hat sowohl auf ihre Arbeitsweise wie auch auf die Präsentationsform Auswirkungen. «Ich denke viel über Raum nach, was mich von Dokumentarfotograf:innen unterscheidet», sagt Abril und nimmt einen Schluck Tee. «Raum ermöglicht es, schwere Themen anders zu verarbeiten», führt sie aus. Man könne sich bewegen, während man mit traumatischen Bildern konfrontiert wird und sei im öffentlichen Raum Teil eines grossen Ganzen, werde sich seiner Stellung in der Gesellschaft bewusst. Während Fotobücher eher Liebhabersache seien, könne man mit Ausstellungen zudem mehr Menschen erreichen. «Du kannst durchaus per Zufall in einem Museum landen, weil du einfach mit jemandem mitgehst», sagt sie.
Doch was hat eine internationale Künstlerin, die unter anderem einen Magnum Foundation Grant, ein Honorary Fellowship der britischen Royal Photographic Society und – als jüngste Frau überhaupt – den Nationalen Fotopreis Spaniens erhalten hat, in Luzern zu suchen? «Ich mag den Zugang der Hochschule zur Fotografie», erklärt Abril. «Der Studiengang ist sogar post-fotografischer als ich es bin», sagt sie lachend. Die HSLU ist nämlich, entgegen vielen reiner Fotografie-Studiengängen, sogar künstlicher Intelligenz gegenüber offen eingestellt. «Das hält mich auf Trab».
Sie, die keine Dokumentarfotografin ist oder sein will – ihre Arbeiten seien nicht dokumentarisch, aber basierten auf der Realität – unterrichtet ihre recherchebasierte und multidisziplinäre Methodologie denn auch in Luzern, etwa im Modul Visual Narratives. So war sie kürzlich mit einer Gruppe Studentinnen auf einer Exkursion in Georgien, wo sie sich mit mittelalterlichen Manuskripten auseinandersetzten. Auch das kann zum schwammigen Begriff des postfotografischen gezählt werden: In ihren eigenen Arbeiten bindet Abril Archivmaterial mit ein, so etwa historische Abtreibungsmethoden in «On Abortion» – illustriert mit Fotos aus Museen oder nachgestellter Szenen.
Die studierte Journalistin verbindet in ihren Büchern zudem Text und Bild. So wechseln sich Expert:innen-Interviews mit Archivmaterial, Testimonials und Fotos ab, was einen unvergleichbar differenzierten und vielschichtigen Zugang zu einer komplexen Thematik gewährt. «Eigentlich verbringe ich nur 15 bis 20 Prozent meiner Zeit mit Fotografieren», sagt Abril. «Für mich machen die Recherche und das Editieren den grössten Teil der Arbeit aus». Als Editor arbeitet sie übrigens auch immer wieder für andere Fotograf:innen – so etwa für die spanische Fotografin und derzeitige Magnum-Präsidentin Cristina de Middel. «Es geht weniger um das Einzelbild als darum, was man damit macht.» Dies werte aber die Fotografie nicht ab, im Gegenteil. «Der Prozess des Fotografierens wird so viel achtsamer», sagt sie. Dadurch, dass sie so viel Zeit mit der Vorbereitung aufwende, werde der Moment des Fotografierens sehr wertvoll. Als Beispiel nennt sie den Moment, als sie für «On Rape» das Kleidungsstück eines von der Lehrperson sexuell missbrauchten fünfjährigen Kindes fotografieren konnte. «Für mich ist es eine heilige Sache, ein Foto zu machen», betont sie. Deswegen nimmt sie, anders als viele andere renommierte Fotograf:innen, auch keine kommerziellen Aufträge mehr an.
Die nun in ihrer Knappheit und Dichte kostbar anmutenden dreissig Minuten sind viel zu schnell um. Abril muss weiter, das nächste Meeting wartet. Wer Abrils Ausstellungen in der Schweiz verpasst hat, der oder dem seien ihre Bücher empfohlen – nicht nur diejenigen mit ihren eigenen Arbeiten, sondern etwa auch «[After]care», die dreizehnte Ausgabe des Magazins «The Eyes», das sie zum Thema des Post-traumatischen gestaltet hat. Im Januar werden «On Rape» zudem im C/O Berlin und «On Mass Hysteria» im Finnish Museum of Photography zu sehen sein. Und: man darf gespannt sein, welches Kapitel der Misogynie sie sich als nächstes vornimmt.
03. November 2023