Fight the Power. Wie zum Beispiel Sanija Ameti.
Die Dystopie ist ihr Metier. Zum Treffen trägt sie einen Hoodie mit der Aufschrift «Neuromancer», dem Cyberpunk-Meisterwerk von William Gibson, in dem der Begriff der «Matrix» geprägt wurde. Für eine Instagram-Story über eine Podiumsdiskussion zu Künstlicher Intelligenz setzt sie den Hashtag «Skynet» – die Firma, die der Welt den Terminator beschert und dann darüber die Kontrolle verliert. An jener Podiumsdiskussion zur Frage, was es bedeutet, dass Künstliche Intelligenz immer mehr Einfluss auf unser Leben nimmt, hat sie selbst teilgenommen: Sanija Ameti, Doktorandin am Institut für öffentliches Recht an der Universität Bern. Ihr Fokus: Cybersecurity.
Sie doktoriert zur Frage, was es bedeutet, wenn Staaten im Bereich der «Cyber Defence» Aktivitäten an private Sicherheitsfirmen auslagern, weil sie selbst gar nicht die Kapazitäten hätten und regelecht auf Private angewiesen seien bei der Frage von «Cyber Power», wie sie es nennt.
Die Fragen, die die Juristin beschäftigen: Was muss eigentlich rechtlich vorausgesetzt sein, dass diese Auslagerung überhaupt funktioniert? Und wie müssen sich die Staaten absichern, dass sie bei dieser Auslagerung staatlicher Gewalt die Entscheidungsmacht nicht verlieren? Und wer ist eigentlich dafür verantwortlich – das zur Anwendung kommende Völkerrecht, gilt schliesslich nur für Staaten – wenn dabei etwas schief geht?
Willkommen in der Zukunft. Willkommen in der Gegenwart.
Der immer grössere Einfluss Künstlicher Intelligenz auf unseren Alltag habe einerseits positive Auswirkungen, gleichzeitig bringe er uns auf eine schiefe Ebene, sagt Sanija Ameti, wenn sie zum Beispiel beobachte, wie Social-Media-Algorithmen in den USA das politische Klima mit Fake News derart vergiftet hätten, dass man sich am Schluss nicht mehr sicher gewesen sei, ob die Präsidentschaftswahlen in einem Bürgerkrieg enden. «Wie beim Plutonium gibt es bei der Künstlichen Intelligenz ein Dual-Use-Dilemma», sagt die Juristin. «Richtig eingesetzt, ist es von Nutzen. Falsch eingesetzt, führt Plutonium zum Atomkrieg, und die Künstliche Intelligenz in der Form von Algorithmen zum Beispiel zu einer Vergiftung des politischen Klimas. Dabei explodiert zwar keine Bombe, stattdessen geraten wir schleichend und fast unmerklich auf eine immer schiefere Ebene.»
Das Anti-Terrorgesetz, kurz PMT, führe die Schweiz auf eine ähnliche Art auf eine schiefe Ebene. Deswegen habe sie als Teil des Komitees «Nein zum Willkürparagraph», dem der Chaos Computer Club, die Jungen Grünliberalen, die Juso, die Jungen Grünen, Sektionen der Jungfreisinnigen und die Piraten-Partei angehören, das Referendum ergriffen.
Das Gesetz, welches das Parlament im Herbst verabschiedet hat, soll der Polizei in gewissen Bereichen unkontrollierte Macht geben. Wo es früher einen Richter brauchte, kann die Polizei nun mittels eigener Entscheidung Zwangsmassnahmen gegen sogenannte «terroristische Gefährder» veranlassen. Das sind Menschen, welche das Bundesamt für Polizei für gefährlich hält, die aber faktisch unschuldig sind. Die möglichen Zwangsmassnahmen: Meldepflicht, Ein- und Ausgrenzung, Ausreiseverbot, monatelang Hausarrest (dies nur mit richterlichem Beschluss).
Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International befürchten, das Gesetz fördere Willkür statt Sicherheit und könne, so wie es schwammig formuliert sei, auch gegen politische Oppositionsgruppen eingesetzt werden, zum Beispiel gegen die Klimajugend.
«Algorithmen werden das Internet nach bestimmten Kategorien nach gefährlichen Personen absuchen. Kategorien, die wir nicht kennen, gefüttert mit Statistiken von gefährlichen Personen, die mit Sicherheit einen Bias aufweisen: Man wird, geht es um Terrorismus, primär nach Männern in einem bestimmten Alter suchen, mit bestimmten Namen, diese Männer werden nicht Hans Huber heissen, und der Algorithmus wird fündig werden und Personen ausspucken. Und diese Personen haben dann ein Problem, ob schuldig oder nicht, denn getan haben sie so oder so noch nichts, weil es bei diesen Zwangsmassnahmen nicht darum geht, jemanden für eine Tat zu bestrafen, sondern zu verhindern, dass etwas passieren könnte, irgendwann», sagt die Juristin.
Mit ihrer Kritik steht die 27-Jährige Zürcherin nicht allein: Als das Gesetz im Nationalrat beschlossen wurde, ein Gesetz, das auch schon auf Kinder zielt – «wir wissen, das selbst 12-Jährige sich radikalisieren können», verteidigte die verantwortliche Bundesrätin Karin Keller-Sutter diesen Punkt während der Ratsdebatte – hagelte es internationale Kritik. Mehrere UNO-Sonderberichterstatter verurteilten die Pläne der Schweizer Regierung in scharfem Ton.
Das Gesetz verändere die Definition von Terrorismus, sagte etwa Fionnuala Ní Aoláin, UNO-Sonderberichterstatterin für den Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten bei der Terrorismusbekämpfung. Bisher sei es internationaler Konsens gewesen, dass für «Terrorismus» eine schwere Straftat vorausgesetzt sein müsse. Die Schweiz schaffe das ab, in dem sie von «potentiellen Terroristen» spreche und damit juristisch völlig vag werde, was dem Missbrauch Tür und Tor öffne. Solche «Terrorismus»-Definitionen gebe es bisher nur in autoritären Staaten, wo der Begriff dann gegen Oppositionelle und Journalistinnen und Journalisten benutzt werde.
Dass zudem das «Gefährlichkeitspotenzial» nicht von einem Gericht, sondern von der Polizei beurteilt werde, obwohl diese Beurteilung an administrative Massnahmen wie etwa ein Ausreiseverbot gekoppelt sei (und dazu auch schon Kinder treffen könne), sei mit Sicherheit eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, sagte die UNO-Sonderberichterstatterin.
Dem Schweizer Parlament war das alles ziemlich egal. Eine Mehrheit aus SVP, FDP und CVP winkte die Gesetze, auf dem Papier weltweit eines der schärfsten Gesetze in diesem Bereich, einfach durch.
Sanija Ameti war es nicht egal. Inzwischen hat sich auch die gut vernetzte Operation Libero ins Referendum eingeklinkt mit einem Online-Argumentarium (findest du hier) und dem Aufruf zum Unterschreiben, das «Tagi-Magi» hat ebenfalls berichtet.
Ameti interessiert sich vornehmlich für Sicherheitspolitik, und ich frage sie, ob denn solche Gesetze uns nicht sicherer machen würden, wie der Bundesrat es behaupte, und sie sagt, dass das Gegenteil der Fall sei (und Amnesty International und andere Menschenrechtsgruppen pflichten ihr da bei). Man sehe es zum Beispiel in Frankreich, sagt sie: Immer noch schärfere Anti-Terror-Gesetze, trotzdem wieder Anschläge, dann der Ruf nach neuen, noch schärferen Gesetzen, noch mehr Symptombekämpfung, noch mehr Symbolpolitik, den Leuten das Gefühl geben, die Politik mache was, man sei nicht hilflos, und am Ende habe man für die Illusion einer totalen Sicherheit die eigene Freiheit geopfert. Inzwischen träume man in Frankreich von Echtzeit-Gesichtserkennung im öffentlichen Raum.
Die Messerattacke in Lugano sei ein Beispiel dafür, wohin das alles führe, und warum noch mehr Gesetze nichts bringen würden: Die Täterin, eine Schweizerin, trat eine Reise nach Syrien an, sei den Behörden bekannt gewesen, aber man habe sie nicht weiter beobachten wollen. «Warum war das so? Weil sie einen Schweizer Namen hatte? Was bringen Gesetze und noch mehr Überwachung, wenn die Polizei ihre Arbeit nicht macht, ihre Instrumente nicht nutzt?», fragt die Juristin. Und dann sagt sie, dass die beiden als Terrorhandlungen proklamierten Taten in der Schweiz von diesem Jahr beide von Menschen ausgeführt worden seien, denen man anschliessend eine psychische Störung attestiert habe.
Dieselbe Ursache, einmal spricht man von «Terror», ein andermal von «Amok», wie kürzlich in Trier in Deutschland, wo ein Mann mehrere Menschen totfuhr.
«Wird man in Zukunft irgendwann mit den neuen Schweizer Gesetzen die Algorithmen mit Profilen von Menschen speisen, die psychisch instabil oder labil sind und deswegen womöglich potentiell gefährlich sind?», fragt sie und langsam nähern wir uns ihrem Metier an, der Dystopie einer relativ sicheren Schweizer Gesellschaft, die bereit ist, für die Illusion einer totalen Sicherheit ihre Freiheit und Rechtssicherheit aufzugeben.
«Kürzlich fragte mich jemand, warum mir dieses Polizeigesetz mehr Angst mache als beispielsweise der Klimawandel», sagt sie. «Meine Eltern sind aus einem Land geflüchtet, wo die Polizei in der Nacht in unser Haus eingebrochen ist und meinen Vater mitgenommen hat. Und zwar einfach deswegen, weil er als oppositioneller Politiker unliebsam war. Wenige Jahre später, 1995, gab es in diesem Land dann einen Genozid. Mitten in Europa.»
Das Referendum zum PMT läuft noch bis zum 14. Januar. Unterschreiben kann man hier, danach ausdrucken und abschicken.
16. Dezember 2020