Text von Gastautor Marco Rüegg
Heiligabend. Eigentlich zwar, drei in der Früh, der «Abend» ist längst vorbei. Und wenn irgendwas heilig ist hier in Dubai, dann allenfalls der Gebetsruf, der bald von den Minaretten scheppert. Sowie aus Lautsprechern im von aalglatten Pisten umgebene Glaskomplexe mit Flughafencode DXB vor den Toren der Glitzerstadt. Dort liegt DXB christo-mässig eingepackt. In Nebel, ähnlich dicht wie die Menschentraube, inmitten derer ich mich einem Schalter entgegen dränge. Hinter diesem hacken zwei Emirates-Hostessen auf Tastaturen ein und versichern, sie hätten alles im Griff. Haben sie aber nicht: Schlechte, im Prinzip sogar fehlende Sicht zieht dem weltweit grössten Flug-Hub den Stecker. Verspätungen, Ausfälle, verpasste Anschlüsse a gogo, just während des weihnächtlichen Hochbetriebs. Alle paar Minuten rufen die zwei Damen willkürlich Destinationen aus. Irgendwer nach New York? Paris? São Paulo? Wer hat noch nicht, wer will nochmal. Es ist zum Verzweifeln.
Dass ich es nicht tue, hat mit meinem Zustand zu tun. Während der Reise über Nacht, ticken die Uhren, ticken wir Reisenden überhaupt irgendwie anders.
Erstmals erfahre ich das bereits in meiner Kindheit auf der Rückbank eines BMW 350. Diese verwandeln meine Eltern Jahr für Jahr in der Abenddämmerung eines Oktoberfreitags mit Kissen, Decken und Schlafsäcken in ein Kuschelkönigreich für meinen Bruder und mich. Papa dreht den Zündschlüssel, 15 Stunden, einige Pinkelpausen an hygienisch höchst zweifelhaften Raststätten-Pissoirs und das eine oder andere in Alufolie gewickelte Schinken-Essiggurken-Brötchen später blinzeln wir – als hätten wir uns hingeträumt – in den mediterranen Morgen. Einzig noch eine Barriere trennt uns vom Camping, der als Sinnbild meiner heilen Familienferienwelt steht.
Bald wird der BMW zu eng, das Elternhaus sowieso. Ich ziehe aus, ziehe weiter, Nachtzug nach Prag, Amsterdam, Zagreb. Erste Übersee-Trips, die US-Westküste, Südamerika, später Südostasien, Indien, Westafrika… Das Fliegen, vor allem Flughäfen verlieren allmählich ihre Faszination. Charles-de-Gaulle, Heathrow oder LAX, sämtliche sterile, auf Einheitstemperatur konditionierte, quasi-autonome Satelliten in der Peripherie ihrer Metropole. Wo bruchgelandete Backpacker-Madonnas mit Kronen aus verknoteten Haarbüscheln auf Massageliegen powernappen. Wo französisch geduschte Trainerhosen-Gigolos überteuerten Prêt-à-porter-Astronauten-Food runterspülen mit einer als «Cappucino» angepriesenen Milchsuppe. Aus den Bechern mit diesen unmöglichen Schnabeldeckeln… Nicht zuletzt wird das Flugzeug vor dem Hintergrund angestrebter CO2-Reduktion zum sündigen Fortbewegungsmittel non-grata gestempelt, weswegen Nachtbusse und -züge aktuell boomen. Neben der Umweltverträglichkeit sprechen ganz pragmatische Gründe dafür, längere Etappen über Nacht zurückzulegen: Spart das Hotel, freie Autobahnen bedeuten freie Fahrt für den Bus…
Über allem aber steht die nocturale Magie. «What was normal in the moonlight / by the morning seems insane.» Die Nacht nudelt unser Zeit- und Realitätsempfinden durcheinander. Miteinander zu schlafen ist schliesslich – wenn auch «nur» im gleichen Bus – etwas äusserst Intimes. Das stundenlange Dahingleiten im Dunkel verschmelzt die Passagiere so zu Schicksalsgemeinschaften, innerhalb derer sich Skepsis oder vornehme Zurückhaltung auflösen wie Instant-Kaffee im siedenden Wasser. Flüchtige Bekanntschaften eine ganz besondere Qualität.
Abikanksha begegne ich am Bahnhof des nordindischen Jaipur. Tief in der Nacht. Hinter mir liegen 2000 Kilometer, ein Temperatursturz von 25 Grad und mein Anschluss geht erst in vier Stunden. Vielleicht. Bei Linien, welche den halben Subkontinent durchschneiden, sind Abfahrtszeiten eine vage Angelegenheit. Zwischen unter Wolldecken begrabenen Menschenhäufchen auf den Perrons scheinen Abikanksha und ich die einzigen aufrecht gehenden Lebewesen. Sie sei auf Heimatbesuch, lebt sonst in Bangkok. Sie sagt, in Indien sei ein heisser Chai ist immer irgendwo zu haben. Und behält recht. Wie viele davon sie mir spendiert, weiss der indische Nachthimmel. Als ich schliesslich in annähernd alle meine Kleider gekuschelt in Richtung der «blue City» fahre, habe ich so etwas wie eine neue Blutsschwester.
Während mich der Transsibirien-Express nie reizte, bekenne ich mich als Fan der Indien Railway Company. Die Wagons? Eine stählerne Parallelwelt, wo das Tschagatang-tschagatang der Räder in der Magengrube vibriert, die Ventilatoren brummen wie hyperaktive Zikaden und verblüffend, wo sich ganze Grossfamilien auf winzigen Holzpritschen häuslich einrichten. Hängematten für Babys, ganze Wochenrationen an Dahl und Chapati in fettfleckiges Zeitungspapier gewickelt oder in Chromstahlbehälter abgefüllt.
Ständiger Begleiter während der Stunden auf Stahlschienen: Prinz Valium. Die Pillen gehen in unterschiedlichen Stärkegraden rezeptfrei über die Theken der Apotheken, kosten ein müdes Lächeln – und funktionieren! Katapultieren einen wohlig ins Land der Träume, wir schweben wie auf Wolken, bis uns der «Chai-Masala-Dosai-Bred-Omlett»-Ohrwurm des Frühstückverkäufers aufweckt, der samt Thermostank und Knistersäcken voller Linsenmehl-Pancakes durch den Mittelgang stolpert, während draussen im Osten das Morgenrot wie Buschfeuer über Palmenhainen lodert.
Wo Bahnhöfe fehlen, kommen Langstreckenbusse zum Einsatz. Rollende Rumpelkisten sind das Blut in den Adern des Balkans. Von Zagreb nach Sarajevo, von Skopje nach Tirana, über den Bosporus auf einen anderen Erdteil. Auf den mehrspurigen (zuletzt teils unter chinesischer Regie aalglatt asphaltierten) Verkehrsadern Südostasiens dienen discomässig ausgeleuchtete, auf arktische Temperaturen heruntergekühlte Doppeldecker als Universalinstrument zur nächtlichen Fortbewegung. Bangkok, Phuket, Kuala Lumpur, Singapur; wer beim Takeoff im tropisch-feuchten Vorabend den Kapuzenpulli im Rollkoffer vergisst, hat den Aircon-Schnupfen auf Sicher.
Kosmopolitisch omnipräsent: die Flixbus-Armada. Fastfood zum Einsteigen. Was den giftgrünen Gefährten an Charakter fehlt, machen sie durch ein Liniennetz wett, das sich weit über Europa hinaus spinnt. Unter anderem hat der deutsche Konzern 2021 die US-Greyhounds geschluckt, welche es in den 110 Jahren (!!!) ihres Bestehens auf praktisch jeden Freeway und in so manche Songzeile geschafft haben: «You may bury my body / Down by the highway side / So my old evil spirit / Can get a Greyhound bus and ride». Robert Johnson, anno 1938. Und irgendwie haben es die blechernen Flohsäcke in so ziemlich jeder Stadt zwischen Seattle und New Jersey fertiggebracht, ihr Terminal an die abgefuckteste aller Ecken hinzupflanzen. Belagert von bettelnden Junkies, vor Kartonschildern kauernden Obdachlosen, zotteligen Gestalten, die über dem Feuer in ausgedienten Öltonnen die vernarbten Finger wärmen.
Szenewechsel zum anderen, unvorstellbar weitläufigen Ende des Doppelkontinents. Inlandflüge in Patagonien? Wohlstandsspeck! Wirklich dort war nur, wer sich während einer, zwei, drei Nächten den Arsch in einem Doppeldecker plattgesessen hat. Möglichst am Stück. Vor sich hin gedöst hat, bis die Bordlautsprecher das nächste Cumbia-Feuerwerk zünden.
Nun haben Busse einen entscheidenden Nachteil. Er erschliesst sich im Moment des Aufwachens, wenn die Natur des Stoffwechsels mehr oder weniger AKUT ihren Tribut fordert. Und folglich das Warten bis zur nächsten hell erleuchteten Überland-Raststätte, die scheinbar willkürlich aus dem Dunkel auftauchen wie bruchgelandete UFOs, zur Höllenqual wird. Gelegentlich versagt auch einmal ein Motor, platzt ein Reifen – was zuverlässig zum Startschuss einer Real-Life-Komödie gerät, welche das eine Psychoanalyse von Personal wie Passagieren ermöglicht. Wer lehnt sich in buddhamässiger Entspanntheit zurück, wer zieht nervös an der Zigarette, wer malträtiert hysterisch mit den Fingerspitzen das Handydisplay?
Es war einmal im Isaan, dem touristisch wenig frequentierten Nordosten Thailands. Plötzlich verlangsamt der Bus nach Bangkok, rollt auf den Pannenstreifen aus. An einem Ort, an dem dies offensichtlich nicht vorgesehen wäre. Da platzt das Nervenkostüm unserer*m uniformierten Host*esse. «Penlei!, Penlei!», schreit sie. «Penlei» heisst «Problem».
Sie tauscht ihre High-Heels gegen Badelatschen und wetzt im Mittelgang hin und her, bis sie alle Mitfahrenden ins Freie gescheucht hat. Dort waschen Schweissbäche ihr*ihm Makeup von den Schläfen, während die beiden Fahrer das himmelblaue Hemd abstreifen und die Unterseite des Gefährts inspizieren. Eine erste Herzmassage bleibt ohne Effekt. Einige gaffen dabei zu, andere suchen in der dunklen Pampa ein einsames Gebüsch – und werden während der Pipipause fast von kläffenden Streunern gefressen.
Ein, zwei, drei andere Busse rauschen vorbei. Hupen, verblassen in der Nacht. Endlich stoppt ein Pickup. Einer der ölverschmierten Chauffeure steigt ein. 15 Minuten später kehrt er mit einer Zündkerze zurück, während die*der Host*ess in ihrer*seiner Verzweiflung längst einen Marathon rund um den darniederliegenden Bus abgespult hat. Als der Morgen graut auf jeden Fall, schleichen wir trotz allem durch den Stossverkehr von der hauptstädtischen Aussenquartiere zum Mo-Chit-Terminal.
Nach Luft und Land stechen wir in See! Die Fähre gehört mindestens erwähnt (und deutlich getrennt vom Kreuzfahrt-Koloss). Sie schippern Wanderarbeiter in ihre nordafrikanische Heimat, Nordlicht-Pilger nach Skandinavien, Flugverweigerer nach Island. Und sie lohnen sich. Erstens wegen dem so verruchten wie verlockenden Charme vieler Hafenstädte. Marseille, Hamburg, Genua, Tanger… Zweitens – Wind im Haar, Meersalz in der Nase, die untergehende Sonne auf den Wangen, während der Bug durch die Wellen pflügt, wie sonst fühlt sich Freiheit an? Schliesslich hätte ich wohl nie sonst das, ähem, «Vergnügen» gehabt, auf einem Haufen Kokosnüsse ruhend in acht Stunden vom thailändischen Ko Tao ans Festland zu gelangen (weil der normalerweise dafür zuständige High-Speed-Katamaran, der nur zwei Stunden bräuchte, wegen Sturm ausfiel). Oder auf einer Couch zwischen betrunkenen griechischen Offiziers-Aspiranten von Samos nach Athen zu schwimmen.
So ungemütlich einige geschilderte Situationen im Moment des Erlebens, so unauslöschlich brennen sie sich in die Erinnerung. Wie oft dienten sie als Räubergeschichten am Bartresen, als Anekdoten in Storys wie dieser. Und als Lektionen fürs Leben. Lektionen in Demut, die es lehren, die eigene Machtlosigkeit zu akzeptieren, sich den Geschehnissen oder wildfremden Menschen anzuvertrauen. Im Vertrauen in das Gute in allem und allen. Ohne eine Sekunde des Zögerns würde ich jedem Menschen, der eines Nachts meinen Rucksack bewacht, meinen Chai bezahlt oder den Tuktuk-Fahrer auf die Hälfte des angesagten Tarifs heruntergehandelt hat, meine Haustür öffnen.