Die Weihnachtszeit, mit all ihren blinkenden Lichtern, ist bereits dem neuen Jahr gewichen. Ich passiere die Badenerstrasse, beobachte das Treiben des wiederaufgenommenen Stadtalltags, und mache mich auf den Nachhauseweg. Ich entscheide mich für eine etwas längere Route, vorbei am Schulhaus an der Feldstrasse, wo fleissig wieder «tschutet» wird. Auch die Skiferien sind vorbei. In der Welt passiert gerade viel. Deswegen fällt es mir leicht, mich im Zuschauen der dargebotenen Fussballpartie zu verlieren und den Weltsorgen für einen kurzen Moment den Rücken zuzukehren. Erst das Schallen des Schulgongs reisst mich aus meinem Bann und erinnert mich an den konstanten Fluss der Zeit. Zuhause angekommen, sticht mir eine DVD ins Auge, die wohl aus dem Regal gefallen sein muss. Oder hat mein Mitbewohner die geschaut?
«Only God Forgives» von Nicolas Winding Refn, ein dänisch-französischer Thriller mit Ryan Gosling, der in Thailand spielt und mehrheitlich auch dort (co-) produziert wurde. Es ist Jahre her, als ich den Film zuletzt gesehen habe. Das Internet findet ihn nicht sonderlich gut, das ergibt zumindest meine kurze Google-Suche. Da ich gerade nichts Besseres zu tun habe, mache ich mir einen Tee und lege den Film in den DVD-Player. Das Seh-Erlebnis entpuppt sich als wahnsinnig emotional und ich bekomme Lust auf eine kleine Pseudo-Filmanalyse. Aus der Perspektive eines angehenden Filmwissenschaftlers, Filmschaffenden und Cineasten.
Nicolas Windign Refn begleitet mich schon mein ganzes Leben. Seine «Pusher»-Trilogie hat meine frühe Jugend sehr geprägt. Die meisten seiner Filme haben einen gemeinsamen Nenner: kriminelle Gewalt, oft unangenehm grafisch dargestellt. Auch den Umgang damit, den Einfluss, den die Gewalt auf das Umfeld hat, macht Winding Refn in seinen Filmen gern zum Thema.
Die Gewalt zeigt sich im Schauspiel, den Special-Effects, in der Kameraführung, der Mise-en-Scene und vor allem auch in der Lichtsetzung. Er kennt die Wichtigkeit eines harmonischen Zusammenspiels und der filmischen Arbeitsteilung, um ein grösseres Ganzes erzeugen zu können. Was auffällt: die Absenz langer Dialoge. Das Bild spricht. Für sich. Seine Filme leben von einem «Stil».
Dieser Gedanke an die Gewaltdarstellung in Refns Filmen genügt mir, um «Only God Forgives» zu meinem Filmtipp im Monat Januar zu machen. Wir kennen den Palästina-Konflikt und den Ukraine-Krieg, der uns diesen Winter eine eskalierte Form von totaler Gewalt und gnadenloser Auslöschung aufgezeigt hat. Auch der öffentliche Diskurs über dieser Konflikte mündet in der westlichen Welt in eine Klassifizierung von Gut und Böse; und plötzlich spricht man darüber, wann und wie Vergeltung gerechtfertigt sein könnte. Diejenigen, die akute Gewalt erleben, kommen zu kurz. Wer wem wie was und warum angetan hat, wird nebensächlich. Der «Sieg» über die anderen wird zum erklärten Ziel.
In Refns Filmen wird Gewalt gar nicht erst verhandelt, sie existiert. Neben der Gewaltthematik lässt sich eine weitere Konstante in Refns Filmen erkennen. Man kann sie sich mehrere Male anschauen. Sodass man wieder etwas Neues entdeckt. Darstellungen hinterfragt, die gesamthafte Geschichte und die dargestellten Charakterentwicklungen der Protagonist:innen immer wieder neu auslegt und interpretiert.
Only God forgives
Julian (Ryan Gosling), ein lakonischer, beinahe stummer Boxpromoter aus Bangkok, betreibt ein Fitnessstudio und Dojo, welches als Fassade für seine dubiosen Machenschaften und das kriminelle Unternehmen seiner Familie dient. Sein Bruder Billy (Tom Burke) ist eine tickende Zeitbombe, ein drogensüchtiger Gauner. Als Billy im Vollrausch eine minderjährige Prostituierte ermordet und daraufhin von deren Vater unter der Aufsicht des geisterhaften lokalen Polizeichefs Chang (Vithaya Pansringarm) getötet wird, fliegt die Matriarchin Crystal (Kristin Scott Thomas) nach Thailand, um die Rache am Tod ihres Sohnes zu planen und zu überwachen. Eine Gewaltspirale wird in Gang gesetzt und schon bald macht sich Chang die Ausrottung von Julians Familie zur Mission. Julian findet sich zwischen zwei Fronten wieder und muss sich im Kampf zwischen Gut und Böse mit eigenen Ängsten und Lastern auseinandersetzen. Die Zuschauer:innen werden mit einem erst nicht ganz ersichtlichen Happy End belohnt. Julian verliert seine gesamte Familie und seine Hände, gewinnt dabei aber seine Freiheit zurück.
In seiner Beschreibung klingt «Only God Forgives» wie ein ziemlich geradliniger Kriminalfilm mit Schiessereien, Schlägereien, Mord und Gerechtigkeitsgedanken. Aber die Art und Weise, wie Refn seine Bildsprache gestaltet, schafft ein wahrhaft halluzinogenes, bizarres Seh-Erlebnis. Mit schrecklicher Gewalt, auffälligen Farben, persönlichen Perversionen und makellosen Kameraeinstellungen dringt er tief in die Sümpfe des Unterbewussten ein.
Einmal gut, einmal böse
Der Polizist Chang wird von seinen Kollegen auf eine ungreifbare Art und Weise verehrt. Als Billy die junge Prostituierte tötet, darf ihr Vater unter der Aufsicht von Chang brutale Vergeltung üben. Der Vater wird danach nach draussen eskortiert und bittet mit ausgestrecktem Arm um Gnade, als die Klinge von Chang zu Boden geht und den Arm abtrennt. Ein Leben für ein Leben, und ein Arm für Gerechtigkeit (und die feine Art). Unmittelbar danach, in einer stimmungsvollen Karaoke-Bar, singt Chang im Scheinwerferlicht Popsongs, während das örtliche Polizeirevier in stiller, statischer Ehrfurcht dasitzt.
Die Vergöttlichung von Chang ist in «Only God Forgives» wörtlich zu nehmen. Er ist ein Gott, die Gerechtigkeit in Person. Der Film spielt in Thailand, wo die Philosophie verschiedener Gottheiten gepflegt wird. In den östlichen Religionen gibt es Dutzende, manchmal Hunderte von Gottheiten, die jeweils unterschiedlichen Zwecken dienen. Chang ist ein Gott der Vergeltung und der Gerechtigkeit. Sein Sinn für Gerechtigkeit steht über dem Gesetz. Die Methoden zur Durchsetzung sind barbarisch und unverhältnismässig.
Für Changs gerechten Weg wird schnell eine Gegenspielerin gefunden. Julians Mutter Crystal, die Matriarchin, die mit ihrer skrupellosen Art die Versuchung des Bösen verkörpert. Ist man Crystal ein Dorn im Auge, wird man schnell zu einer Erinnerung. Sie ist manipulativ, beleidigt ihr Umfeld und entschuldigt sich im gleichen Satz. Sie weiss es, ihre Stellung als Mutter eines ermordeten Sohnes für Sympathiepunkte bei Julian zu nutzen.
Schnell wird klar, dass die Beziehung von Julian zu seiner Mutter eine ungesunde ist. Billy wird von seiner Mutter für seine Unfähigkeit, den Bruder zu beschützen und zu rächen, beschimpft und erniedrigt. Dass der tote Billy eine minderjährige Prostituierte ermordet hat, will sie nicht hören. In Julians Beziehung zu Crystal dringen einige unglaublich beunruhigende ödipale Traumas an die Oberfläche. Angesichts ihrer Boshaftigkeit sehnt Julian sich danach, es ihr recht zu machen, was ihm in mehr als einer Hinsicht misslingt.
Julian sehnt sich nach Autonomie und Freiheit, während Crystal mehr als nur einen Weg findet, ihm diese Gedanken auszutreiben. Immer wieder fragt sie ihn, woher das Geld komme, von dem Julian lebt. Und zeigt ihm auf sehr seltsame Art und Weise auch körperlich, wie fest ihre Bindung zueinander sein müsse. Als Julian im Verlaufe des Films die Thailänderin Mei zum Essen mit Crystal mitbringt, werden die beiden von ihr zur Schnecke gemacht. Autonome romantische Beziehungen soll es für Julian gar nicht geben.
Neben Chang und Crystal als kosmische Mächte der Moral (Gut und Böse), bleibt Julian der Menschliche. Der Sterbliche, der gegen Kräfte kämpft, die sich seiner Kontrolle entziehen, und der nach einem Weg sucht, die aufgrund des familiären Drucks getroffenen unmoralischen Entscheidungen zu vergessen. Er strebt nach Kontrolle über sein eigenes Leben und sehnt sich darin nach der Möglichkeit, eigene Beziehungen aufbauen zu können. Beziehungen, die nicht von Ansprüchen geprägt sind.
Der Rachefeldzug eskaliert: Eine Seite muss nachgeben. Julian ist in einem Konflikt gefangen, befeuert ihn aber gleichzeitig als Teilnehmer. Nicht, weil er will. Weil er es nicht anders kennt. Crystal und Chang glauben beide, im Recht zu sein. Trotz der Ungleichheit ihrer Motivation, gleicht sich die Wahl ihrer Mittel: Gewalt. Die Gewaltspirale wirkt auch auf Julian extrem und sinnlos. Er versteht, warum sein Bruder ermordet wurde, hält aber lange am verschobenen Loyalitätsgedanken seiner Mutter fest und sieht sich gezwungen, selbst Gewalt auszuüben.
Nachdem Julian von Chang brutal verprügelt wurde, ist Julian, Crystals letzte Verteidigungslinie, gebrochen. Mit der buchstäblichen Angst vor Gott versucht Crystal, aus Bangkok zu fliehen, wird aber in ihrem Penthouse von Chang selbst konfrontiert und ermordet.
Gerade jetzt gewinnt diese fast schon kitschige Darstellung von Gut und Böse wieder an Bedeutung. Julian übernimmt die Rolle des gezwungenen Bürgers eines Landes, das sich in einem immer weiter eskalierenden Gewaltkonflikt befindet. Die Fraktionen sind definiert. Bürger:innen haben oft keine Wahl, instrumentalisiert oder nicht. Auch sie beteiligen sich, den eigenen Bedürfnissen zuwider.
Die Darstellung von Crystal und Chang zeigt auch, wie die Intentionen in einem Wertesystem eingeordnet und klassifiziert werden, beide gehen diskurslos über Leichen, und nehmen viel Leid in Kauf, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
Mit Händen
«Only God Forgives» setzt Symbole und Motive ein, um sowohl Geschichte als auch Kernaussagen zu betonen. Schön früh erhaschen wir ein Bild des traurigen Julians, der auf seine ausgestreckten Hände starrt. Die Hände stehen sinnbildlich für die «Handlung». Viele Einstellungen können durch die stilistische Gestaltung weder der Realität noch inneren Vorgängen Julians zugeordnet werden. Konstant bleiben die Bilder von Händen, mit denen die Figuren ihre Handlungen ausführen.
Hände, als ausführende Kraft des menschlichen Körpers, sind ebenso der Instrumentalisierung durch Andere unterworfen, wie Gedanken und Worte. Mit dieser Argumentation soll nicht entschuldigt werden. Julian ist ebenso erleichtert, weil er sehr genau weiss, wie viel Leid seine Hände in seine Welt gebracht haben. Aus welchen Beweggründen auch immer.
Stil erzählt
Nach der Linearität und erzählerischen Einfachheit von «Drive» wurde die dröhnende Atmosphäre von «Only God Forgives» harsch kritisiert. Der Film wurde sogar als «unansehnlich» bezeichnet, er berücksichtige nur seinen eigenen Stil und verliere dabei an Substanz.
Meiner Meinung nach ist der Stil eines Films von Natur aus etwas Substanzielles. Ein tonaler Film ist ebenso wertvoll wie eine gute Erzählung. Bilder zu kreieren, die Schrecken, Ungewissheit und Verständnis heraufbeschwören können, ohne dabei Sprache zu verwenden, ist eine grosse Leistung.
Auf rein technischer Ebene ist «Only God Forgives» ein Meisterwerk. Die Kameraarbeit von Larry Smith ist sehr symmetrisch, glatt und konsistent. Lange, langsame Kamerafahrten schleichen sich durch sorgfältig ausgewählte Bildauschnitte und visualisieren in klassischer «Kästchenmanier» die verschiedenen Welten beider Fraktionen. Die Sets sind knallig ausgeleuchtet, oft auch einfarbig. Die wilde Unterwelt Bangkoks wird durch Neonstreifen und Sodium-Strassenlicht in ein schillerndes Meer von Lichtern verwandelt, in dem die Protagonist:innen förmlich zu schwimmen scheinen. Es regnet viel, man spürt beim Zuschauen die Hitze und die Feuchtigkeit.
Die Handlung von «Only God Forgives» ist nicht linear gehalten, ein genaues Erzählmuster lässt sich nicht erkennen. Vielmehr spielt der Film mit Rhythmus. Gewaltvolle, schnelle, brutale Handlungen folgen auf langsame szenische Einstellungen, die uns die inneren Vorgänge der Protagonist:innen näherbringen wollen. Diesen ambivalenten Wechsel zwischen Ruhe und Gewalt ertragen die wenigsten.
Refn wird vorgeworfen, die Gewalt zur eigenen Belustigung so grafisch darzustellen. Gore weil Gore. Und ja: Uns Menschen fasziniert Brutalität. Schnelle Brutalität. Und bitte viel davon. Ich halte diesen Vorwurf für substanzlos. Refn nimmt im Gegensatz zu Filmemacher:innen von Actionfilmen mit mehr, aber dafür weniger brutal dargestellter Gewalt, kein Blatt vor den Mund und verwendet erschreckende Detailgenauigkeit, um die Gewalt so zu zeigen, wie sie ist. Nämlich brutal, unangenehm und sinnlos schmerzhaft.
Refn orientiert sich in «Only God Forgives» stark an stoischen italienischen Western und den asiatischen Gangsterfilmen der 80er-Jahre. Er spickt seinen Film mit Symbolik und Metaphern und kreiert einen wunderbaren Genremix voller Überraschungen. Das ungewöhnliche Pacing im Schnitt wirkt weder «langsam» noch «langweilig». Auch die Absenz langer Dialoge stört nicht. Diskutiert wird in der Bildsprache, in der Mimik der Protagonist:innen und eben auch: in ihrem Handeln. Denn Refns Film ist nicht nur thematisch tiefgründig, er ist auch reiner Ausdruck der Liebe zum Medium Kino.
Wir sehen Bilder und Farben, die so kanalisiert und kombiniert werden, dass sie dem Körper des Zuschauers physische Reaktionen entlocken. Wir hören einen unglaublich feinfühligen Soundtrack, der den szenischen Bildern Leben einhaucht. In einem Moment geniesst man die Ruhe, im anderen schiesst einem das Adrenalin in den Kopf und der Magen dreht sich um. Die Zuschauer:innen verspüren Mitgefühl, Ekel, Unverständnis, Hass und Liebe zugleich. «Only God Forgives» kann als ein Werk gewürdigt werden, bei dem der Stil die Geschichte zum Leben erweckt.
30. Januar 2024