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«Ich zeige unsere marginalisierte Szene in all ihren Formen und Farben» – Ernst van Hoek im Interview

Mit den feinfühligen Collagen seiner ersten Einzelausstellung repräsentiert der Künstler Ernst Van Hoek «Andersartigkeit» wie auch «Queerness» mit all ihren Komplexitäten, und schafft dabei ganz nebenbei ein queeres Utopia.

Von Joshua Amissah

Bestimmte Formen von Collagen, beziehungsweise sogenannten «Cut-Outs» gehen zwar auf die Erfindung des Papiers in China um 200 v. Chr. zurück, doch scheinen sie seit einigen Jahren eine neue Renaissance zu erleben. Seit dem Beginn der Pandemie im Jahre 2020 hat sich der niederländische Künstler, Illustrator und Grafikdesigner Ernst van Hoek für die Erkundung dieser Schaffungsweise entschieden. Nun – knapp zwei Jahre später – bespielt er der den Projektraum ORi Berlin, dessen Räumlichkeiten mit verschiedenartigen «Cut-Outs» eingekleidet wurden.

Das ORi Berlin versteht sich als eine Menge Dinge: Es ist Projektraum, Galerie, Kino, Bar, Atelier und Arbeitsraum zugleich, aber vor allem ist es ein Freiraum, in dem jemensch kreative Ideen verwirklichen, Menschen treffen und Kunst geniessen kann. Seit 14 Jahren arbeiten viele Menschen ehrenamtlich in Neukölln, um Kunst aller Art zu fördern. Der Künstler Ernst van Hoek scheint hier ein eingespieltes Team an Kreativschaffenden gefunden zu haben, die ihn nicht nur persönlich inspirieren, sondern auch als Katalysator für seine allererste Solo-Show dienten.

Der Titel der Ausstellung «CUT-OUT» kommt mit einer Nüchternheit daher, die sich im Innern des Projektraumes nicht wiederfinden lässt. Stattdessen begegnet dem Publikum ein sehr farbenfrohes Spektrum an ausgeklügelten Collagenarbeiten, die mal schwungvoll, mal kontemplativ daherkommen. Überzeugend ist die vielschichtige Repräsentation von verschiedenen Individuen, dessen genauen Geschlechterzuordnungen hier keine Rolle spielen. Eine breite Palette von Quellen, Fotografien und realen Objekten inspiriert seine Faszination für die zeitgenössische Darstellung von Körperlichkeit. Zwischen abstrahierten Portraitaufnahmen finden sich hier auch fabelhafte Wesen, die sich im Gewand aus Tinte und Gouache gerade in einer Metamorphose befinden. Die Verwandlung, die Transformation, wie auch die Vielschichtigkeit unserer Gesellschaft scheinen Van Hoek ungemein zu beschäftigen, und er bringt es mit unverblümten Mitteln auf den Punkt.

Wir haben uns mit dem Künstler Ernst van Hoek unterhalten:

Erst vor ein paar Wochen war ich bei der Vernissage deiner ersten Einzelausstellung im Kreativstudio und Offspace ORi Berlin, die ein grosser Erfolg war. Herzlichen Glückwunsch! Wie hast du dich bei diesem Meilenstein gefühlt?

Ernst: Nach zwei Jahren Arbeit und der Entdeckung der Welt der Cut-Outs war die Einzelausstellung eine gute Möglichkeit, meine eigene Arbeit zu reflektieren. Ein Rückblick, wenn man so will. Ich war stolz darauf, dass ich meine Arbeiten zusammenstellen und einem Publikum präsentieren durfte. Das öffentliche Ausstellen von Arbeiten ist immer auch mit einem gewissen Gefühl der Unsicherheit und Angst verbunden. Da es meine erste Einzelausstellung war, verstärkten sich diese Gefühle immens.

Es stellten sich Fragen wie: «Werden die Leute kommen und sich Zeit nehmen, um meine Arbeit zu sehen?», «Werden sie interessiert sein?», «Was werden sie zu den einzelnen Werken sagen?» Ich glaube, es ist ganz natürlich, diese Gefühle zu spüren. Vor allem, wenn es die erste Einzelausstellung ist. Und ich bin begeistert und stolz, dass ich das geschafft habe!

Wie äusserte sich das Feedback auf alle diese Fragen?

Ich habe viele grossartige Rückmeldungen erhalten, einige Werke verkauft und neue inspirierende Menschen kennengelernt. Die Gespräche, die ich während der Ausstellungseröffnung und nach der Veranstaltung geführt habe, waren faszinierend und wirklich informativ. Sie haben mir geholfen, meine eigene Praxis besser zu verstehen und auch meine eigene Weiterentwicklung wertzuschätzen.

In deiner Bachelorarbeit von 2016 hast du dich mit partizipatorischer Kunst und der Erweiterung dieses klassischen Begriffes auseinandergesetzt. Im Zentrum stand dabei die Frage, inwiefern Amateure das Kunstgeschehen auf dem digitalen Weg beeinflussen können. Ich würde meinen, dass der heutige Einfluss der sozialen Medien auf Künstler:innen – und umgekehrt – noch nie so präsent war. Wie beeinflussen die sozialen Medien deine eigene kreative Praxis?

Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass die sozialen Medien keinen Einfluss auf mich oder meine Praxis haben – sie haben Einfluss auf uns alle. Wie du in deiner Frage bereits erwähnt hast, sind wir alle mehr denn je miteinander verbunden. Man könnte sich fragen, ob das gut oder schlecht ist, aber es ist einfach so, wie es ist. Im Moment nutze ich vor allem Instagram, eine Plattform, auf der ich fast immer online bin und sie sowohl beruflich als auch privat nutze. Als Kreativer verschwimmen diese Grenzen auch manchmal: Ich werde sowohl von Freunden als auch von Fremden kontaktiert, wenn es um Arbeitsmöglichkeiten oder den Verkauf meiner Werke geht. Ich finde viel Inspiration auf Plattformen wie Instagram. Aber ich bin mir bewusst, wie diese Algorithmen unser Verhalten kopieren und uns in bestimmten Kreisen von «vorberechneten Inhalten» halten. Aus diesem Grund versuche ich, mich mehr auf Menschen in meinem Umfeld, Bücher, Musik und meine eigenen Erfahrungen zu konzentrieren. Soweit es mir möglich ist, versuche ich, die sozialen Medien zu «verlernen».

Kannst du uns etwas über den Entstehungsprozess deiner Werke erzählen?

Ich habe eigentlich keine bestimmte Art zu arbeiten. Ich bin ziemlich vielseitig, was das angeht. Egal ob on- oder offline: Ich sammle gerne Materialien, wo auch immer ich bin. Deshalb habe ich oft ein Notizbuch dabei, um zu schreiben oder zu zeichnen. Ebenso notiere ich mir Namen, Farben, Filme, Städte, Lieder oder einfach alles auf meiner endlosen To-Do-Liste auf meinem Handy. Diese Zeichnungen oder Notizen sind oft der Ausgangspunkt für neue Arbeiten und Entwürfe. Der zweite Schritt findet heutzutage meist in meinem Atelier statt.

Seit Januar dieses Jahres teile ich mir ein Atelier. Seitdem kann ich meine häuslichen Pflichten von meiner eigenen Praxis trennen. Ich bin sehr dankbar, dass ich in Berlin einen Raum zum Arbeiten habe. Das gibt mir die Möglichkeit, mehrere Projekte parallel zu entwickeln und mich mit anderen Kreativen zu vernetzen. Das neue Atelier spornt mich auch dazu an, mich von meiner Umgebung inspirieren zu lassen, und gibt mir eine Menge neuer Energie. Veränderung ist in meinen Augen immer eine wichtige Erfahrung.

Warum hat sich die Technik der «Cut-Outs» als Kernstück deiner Kreationen etabliert?

Mein Hintergrund liegt im Grafikdesign. Ich habe den Bachelor in Grafikdesign an der ArtEZ Academy in Arnheim abgeschlossen und arbeite seitdem als Freiberufler. Anfang 2020 wurde ich gebeten, ein Albumcover für eine norwegische Band zu gestalten. Nach einigen digitalen Skizzen habe ich meine Entwürfe in analoge Versionen umgesetzt. Die Band war sich über das Ergebnis nicht ganz sicher, aber ich fand es toll. Da sich Grafikdesign stark auf digitale und bildschirmbasierte Vorlagen stützt, gefiel es mir, in ein physisches Handwerk eintauchen zu können. Es war der meditative analoge Prozess, zu dem ich mich hingezogen fühlte, um in stundenlanger Kleinarbeit mit Skalpell und Papier ein Werk jenseits des Bildschirms zu schaffen. Der Rest folgte dann nach und nach.

Während des ersten Lockdowns, den wir hier in Berlin erlebten, hatte ich mehr Zeit und begann zu experimentieren und diese neue Art der Bildgestaltung zu erkunden. Die Reaktionen, die ich von meinen Freund:innen und Follower:innen auf Instagram erhielt, waren sehr motivierend; die Gespräche, die ich führte, waren äusserst inspirierend, und ich begann, mit grösserer Konzentration zu arbeiten. Schon sehr früh auf meiner Reise mit dem Cut-Out habe ich die vielen Chancen und Möglichkeiten dieser Technik erkannt. Es motiviert mich sehr, zu wissen, dass die Methode, die ich anwende, so vielseitig und leicht zu erkennen ist. Ich liebe die Idee, meine Ausschneidearbeiten als eine Sprache mit einer unendlichen Konstellation von Wörtern und Buchstaben zu sehen.

Du scheinst von der Darstellung queerer Körperformen in deiner Arbeit fasziniert zu sein. Wie schaffst du es, die Vielschichtigkeit dieses Themas in deinen Cut-Outs zu zeigen?

Ich bin selbst queer. Ich glaube, dass ich die grosse Chance habe, unsere immer noch marginalisierte Szene in all ihren Formen und Farben zu zeigen. Queer zu sein ist nicht nur eine Sache, ganz im Gegenteil. Es ist vielfältig, bunt, oft unverständlich, kraftvoll, manchmal verwirrend und – nach meiner Erfahrung – sehr befreiend. Ich kann nur hoffen, dass ich jemandem in meiner Arbeit einen Funken all dieser Schichten spüren lassen kann. Ich liebe es, unsere Menschheit in ständiger Bewegung zu sehen. Ständig im Fluss. Ständiger Formwandel. Die Körper, die ich in meiner Arbeit erschaffe, zeigen diese Transformationen; sie gehen über die Idee des Binären hinaus und stellen durch meinen Prozess des Ausschneidens die vielen komplizierten Schichten der queeren Gemeinschaft dar.

Würdest du sagen, dass Berlin als Stadt deine Wahrnehmung von Queerness beeinflusst hat?

Auf jeden Fall! Ich bin in Rotterdam in den Niederlanden aufgewachsen. In meiner Kindheit und Jugend gab es viel Verständnis für ein breites Spektrum an Sexualität, aber der Begriff «queer» war noch nicht so bekannt wie heute. Erst in Berlin lernte ich so viele andere wunderbare Mitglieder unserer schönen, vielfältigen Familie kennen. Das hat mir die Augen geöffnet und mein Leben verändert.

Wo liegt das Potenzial des Schaffens queerer Künstler:innen für die Gesellschaft als Ganzes?

Wie der Text des Liedes von «Gendered Dekonstruktion» sehr deutlich und wiederholend sagt: «The Future Is Non-Binary». Ich glaube, wir befinden uns in einer Zeit, in der immer mehr Menschen verstehen, dass Sexualität und Gender in einem Spektrum existieren, während unsere Gesellschaft weiterhin in konstruierten und zuschreibenden Identitätssystemen feststeckt. Diese Übergangsphase ist vielleicht nicht für jede Person leicht zu verstehen, aber ich glaube, dass die Kunst dabei eine grosse Hilfe sein kann!

Es ist das, was Künstler:innen schon immer getan haben: ihr Umfeld und ihren Kontext analysieren, Fragen stellen und Veränderungen fordern. Es sind die marginalisierten Kreise, die das Leid meist selbst miterlebt haben und direkt verstehen, wie wichtig es ist, dies einem grösseren Publikum zu vermitteln.

Und schliesslich: Wenn wir an dem Punkt angelangt sind, unsere heteronormative Gesellschaft mit all ihren verinnerlichten Binaritäten und Widersprüchen zu dekonstruieren: Wie sieht die queere Utopie für dich aus?

THE FUTURE IS NON-BINARY!

15. April 2022

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