Text von Gastautor Jonas Rippstein
Seit jeher erzählen sich Menschen Geschichten über unerklärliche Phänomene: flackernde Lichter, die Reisende vom Weg abbringen, Stimmen im Wind, Spuren im Sand, durch den niemand gelaufen sei. Diese Sagen und Mythen sind nicht nur blühende Fantasie. Sie sind immer sowohl ein Spiegel von Ängsten als auch von Hoffnungen, und sie sind eine Suche nach Erklärung und Sinn in einer komplexen Welt. In gewissen Kulturen gehört das Übernatürliche selbstverständlich zur Wirklichkeit dazu, wie im ländlichen Argentinien, dem sich der Film «El mundo al revés» (dt. Die Welt auf dem Kopf) mit einer erfrischenden Erzählweise annimmt.
Das «luz mala», eine verbreitete Sage über ein Licht, das Menschen von ihrem Weg abbringen soll, steht im Film sinnbildlich für existenzielle Verunsicherungen – das Verirren, das Verführtwerden, die Angst vor dem, was sich nicht erklären lässt. In «El mundo al revés» begegnet der alte Farmer Omar dieser Erscheinung auf eindrucksvolle Weise: Er sitzt nachts allein im Dunkeln, als ein grelles Licht seinen Körper verlässt und in den Himmel aufsteigt. Später berichtet er davon – seinem Arzt, der ihn beruhigen will, einem Freund, der nach rationalen Erklärungen sucht, und seiner Familie, die ihn nicht ernst nimmt. Die Reaktionen bewegen sich zwischen Zweifel, Ironie und echtem Interesse. Omar selbst bleibt ruhig – vielleicht ein wenig verwirrt, aber keineswegs erschüttert. Es bleibt eine Unklarheit, mit der er, so scheint es, leben kann.

In der zweiten Ebene des Films geht es um die Haushälterinnen, Rosana und Lily, die in einem Anwesen, das sie für eine Kundin putzen, auf eine Wand in einem Schrank stossen. Zunächst als Trivialität abgetan, entdecken die beiden die «spirituelle» Kraft der Backsteine: Sie beginnen, die Wand zu beschwören, mit dem Ziel, die Rückkehr der Hausbesitzer*innen so zu verzögern, dass sich die beiden Frauen im Anwesen einrichten können. Rosana und Lily lassen sich sinnbildlich für eine Form des weiblichen Widerstands lesen – ihr Versuch, sich ein fremdes Haus durch Rituale anzueignen, ist nicht nur humorvoll, sondern auch eine subtile Geste der Selbstermächtigung. Es ist ein Spiel mit Machtverhältnissen, mit Eigentum und Kontrolle, das auf leise Weise politisch wird. Ebenso lässt sich Omar als Figur «zwischen den Welten» lesen – alt, männlich, bäuerlich, aber mit einem offenen Zugang zum Irrationalen. Beide Erzählstränge berühren Fragen von Sichtbarkeit, Zugehörigkeit und der Kraft von Geschichten.
«El mundo al revés» zeigt seine grössten Stärken im Erzählen. Die Doppelstruktur der Narration überzeugt, und dies obschon augenscheinlich zunächst nur wenig Ähnlichkeit zwischen den Ebenen besteht. Die Dramaturgie des Filmes schlägt immer wieder neue Wellen der Spannung, die überzeugen. Schliesslich besteht auch ein Reiz in der Machart des Films: Zunächst aufgebaut wie ein Dokumentarfilm, läutet die Szene mit dem «luz mala» die fiktionale Seite des Films ein, die besonders deutlich in der Erzählebene der beiden Haushälterinnen zu erkennen ist, die Einstellung um Einstellung weiter in die Absurdität abdriftet.
«El mundo al revés» reiht sich ein in eine Reihe argentinischer Produktionen, die das Spannungsfeld zwischen Realität und Mythos ausloten. Werke wie «Zama» (2017) von Lucrecia Martel verfolgen ähnliche ästhetische Strategien: Sie zeigen die durchlässige Grenze zwischen äusserer Wahrnehmung und innerem Chaos, zwischen dem Sichtbaren und dem nur Geahnten. Was Agostina Di Luciano und Leon Schwitter jedoch unterscheidet, ist ihr Gespür für feinen Humor und ein dokumentarisch präziser Blick auf die Absurditäten des Alltags. Diese Mischung verleiht dem Film eine ganz eigene Handschrift – eine, die sowohl im magischen Realismus Lateinamerikas wurzelt als auch im zeitgenössischen hybriden Autor*innenfilm ihren Platz findet.
In «El mundo al revés» steht nicht nur die Welt Kopf – auch die Grenzen zwischen Erzählformen und Genredefinitionen geraten ins Wanken, besonders die des Dokumentarfilms. Doch dieses Auf-den-Kopf-Stellen ist kein Selbstzweck, sondern öffnet neue Perspektiven: Der Film lädt dazu ein, anders zu denken – ihn als einen Raum zu begreifen, in dem das Magische nicht als Fiktion, sondern als gelebte Realität Platz findet. Für viele Argentinier*innen ist diese Form des Übersinnlichen kein Märchen, sondern Alltag. Genau das bringt der Film mit überraschender Leichtigkeit und Konsequenz auf die Leinwand. Die filmische Übersetzung dieses Themas gelingt nicht nur formal, sondern auch emotional – und bietet sowohl den Filmschaffenden als auch dem Publikum eine bereichernde Erfahrung.
24. April 2025