Das zeitgenössische Theater kann manchmal irritieren, manchmal aufwühlen, meistens aber anregen – zum Denken, zum Hinterfragen und zum Perspektivenwechsel. All das, was in der Schnelllebigkeit des Alltags wenig bis gar keinen Platz mehr findet. Besonders für junge Menschen scheint die Überwindung für einen Theaterbesuch dennoch gross zu sein. Zu intellektuell die Stücke, zu hochstehend der Inhalt, zu chic die Besuchenden. So die Vorurteile, nicht aber die Wahrheit. Auf der Bühne des Schauspielhauses Zürich leisten sich Tradition und Zukunft ein Battle der Extraklasse. Die Digitalisierung und der kulturelle Wandel prägen die Theaterschaffenden und damit auch ihre Inszenierungen. So werden Klassiker zu hochaktuellem Stoff und hochaktueller Stoff zu beeindruckenden Werken.
Für viel Gesprächsstoff wiederum sorgten in den vergangenen Jahren die Inszenierungen des jungen Regisseurs Christopher Rüping. Er landete mit seiner Inszenierung, der von Necati Öziri «korrigierten» Version, von Wagners umstrittenen Klassiker «Der Ring des Nibelungen» einen vollen Erfolg. Ein weiterer Erfolg für Rüping: «Einfach das Ende der Welt» nach Jean-Luc Lagarce. Nachdem es am 3. Dezember 2020 in der Schiffbau-Halle Premiere feierte, war bereits nach ein paar wenigen Vorstellungen, pandemiebedingt, Schluss – zumindest auf der Bühne; digital wurde weitergemacht und zwar erfolgreich: Es folgte die Einladung ans Berliner Theatertreffen 2021; Auszeichnung als beste Inszenierung des Jahres 2021 und die Ensemble-Mitglieder des Schauspielhauses Maja Beckmann und Benjamin Lillie wurden für ihre Darstellungen zur Schauspielerin und zum Schauspieler des Jahres gewählt.
«Einfach das Ende der Welt» nach dem französischen Dramatiker Jean-Luc Lagarce erzählt die Geschichte von einem jungen Künstler, der nach zwölf Jahren zu seiner Familie zurückkehrt, nachdem er sich all die Jahre nicht gemeldet hat, um ihnen mitzuteilen, dass er bald sterben wird. Emotional hat er sich aber bereits weit von seiner Familie entfernt. Christopher Rüping stürzt sich, gemeinsam mit den Schauspieler:innen Maja Beckmann, Nils Kahnwald, Ulrike Krumbiegel, Benjamin Lillie und Wiebke Mollenhauer in das Drama der Familie und stellt sich den Fragen; ob Begegnung und Nähe nach Jahren der Kontaktlosigkeit möglich sind; ob Distanz das Urteil übereinander milder oder härter macht; ob die gemeinsamen Jahre schwerer wiegen als jene der Entfernung voneinander.
Gleich zu Beginn wird man als Zuschauer:in von Hauptdarsteller Benjamin Lillie in das Stück reingerissen, ob man will oder nicht. Es wird mit eigenen Erinnerungen gespielt, längst vergessenen Gefühlen und Vertrautheit. Die Identifikation mit den Figuren ist unumgänglich. So kann man auch nur schwer dem Schmerz, der Wut und der Verzweiflung entkommen, die einem während dem Stück entgegen geballert werden. Das Zuschauen und Mitfühlen ist ebenso anstrengend wie faszinierend.
Wer sich das bewegende Stück gerne noch in der Schiffbau-Halle anschauen möchte, hat am 23., 24., 27., 29. Mai sowie am 6. und 8. Juni die Gelegenheit dazu.
«Einfach das Ende der Welt» ist der erste Teil der Familientrilogie von Christopher Rüping. Der zweite Teil, «Brüste und Eier» nach Mieko Kawakami, feierte am 30. April 2022 am Thalia Theater in Hamburg Premiere. Gemeinsam mit seinem jeweiligen Ensemble hinterfragt der Regisseur in drei voneinander unabhängigen Arbeiten das Konstrukt der Familie im 21. Jahrhundert. Bei «Einfach das Ende der Welt» wird die Rückkehr des verlorenen Sohns und der verzweifelten Versuch, der eigenen Herkunft zu entkommen thematisiert. Bei «Brüste und Eier» wiederum, wird der Frage nach Mutterschaft und der Abkehr vom konventionellen Familienbild der vergangenen Jahrzehnte nachgegangen.
21. Mai 2022