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Einer, der ankam

Nach 54 turbulenten Jahren in der Schweiz soll Manu in ein Land ausgeschafft werden, in dem er nichts, ausser seinen Wurzeln hat. Doch das Schicksal hat andere Pläne.

Von Leila Alder

«Das Tropfen des geschmolzenen Plastiks faszinierte mich irgendwie. Ich beobachtete es und zündete den Müllsack immer mehr an. Irgendwann brannte dann die ganze Molkerei.» Adliswil, 1974. Manu war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt und gerade zum ersten Mal kriminell geworden. Seine Tatwaffe; eine bunte Streichholzschachtel, die er im Kindergarten für den Muttertag gebastelt hatte.

Ich lernte Manu vor einigen Jahren – durch seinen Neffen – als einen sensiblen, schwer drogenabhängigen Menschen kennen. Sein Wesen und sein Blick auf die Welt faszinierten mich. Oft konnte ich mich zwar nicht wirklich mit ihm unterhalten, weil er high war, verstanden haben wir uns aber trotzdem.

An diesem Herbstnachmittag, als ich ihn wiedertreffe, wirkt er anwesender, cleaner. Er lebt seit einigen Monaten mit insgesamt 19 anderen Menschen im Freihof Küsnacht, einer sozialen Einrichtung für Suchtkranke an der Zürcher Goldküste. Ein altes Bauernhaus, darin viel Holz und grosse Fenster, durch die das Licht besonders abends schön hereinfällt. Drumherum ein grosser Garten mit Sitzplatz und Pavillon. Eine Kulisse wie aus Rosamunde-Pilcher-Filmen. Nur die Sachbücher in den Regalen und zahlreiche Listen an den Wänden, auf denen Regeln für die Bewohner:innen stehen, geben Hinweis darauf, wo wir uns befinden: «Verzicht auf Lebensmittel, welche Alkohol oder alkoholartige Aromen beinhalten oder alkoholähnlich sind» oder: «Einmal wöchentlich nimmst du an der Gruppentherapie teil.» Es ist ruhig im Haus. Ab und zu kommen andere Bewohner:innen vorbei, grüssen zurückhaltend, lächeln.

In die Innenstadt darf Manu momentan nicht, denn es sei Gras in seinem Zimmer gefunden worden. Er habe es noch nicht einmal geraucht, aber es war da – für Notfälle – und das reicht für eine Bestrafung. «Jetzt musst du halt jeweils zu mir kommen», erklärt er mir. Aber es sei ja recht schön da, und sie hätten es auch wirklich gut hier. Er trägt ein Sweatshirt mit einer kleinen Sonne drauf und Ringe mit grossen, eingefassten Steinen. Auf seinem Unterarm ein verblasstes Tattoo. Sein Blick ist wach, seine Laune gut, er lacht viel – meistens aus Verlegenheit, während er mir von seinem Leben erzählt. Nur wenn er über die bevorstehende Ausschaffung spricht, zeichnen sich Angst und Ratlosigkeit in seinem Gesicht ab.

Die Ausschaffung schwebt seit Jahren wie das Damoklesschwert über ihm. Bereits vier Mal hat man ihm mit einem Landesverweis gedroht, doch dieses Mal wurde er am 26. August 2021 vor dem Obergericht Zürich, trotz Härtefall, ausgesprochen. Gemäss diesem Urteil soll Manu nach seiner zweijährigen Therapie im Freihof in ein Land ausgeschafft werden, in dem er noch nie gelebt hat, in dem er weder Freund:innen noch Familie hat und mit dem er sich auch sonst eher schwertut. «Meine Wurzeln sind nicht in Spanien. Also irgendwie schon, aber meine eigenen Wurzeln sind hier. Das ist ja das Verflixte. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, die Schweiz jemals verlassen zu müssen.» Wenn, dann würde er nach Sitges wollen, eine Gemeinde in der Nähe von Barcelona. Da waren sie früher manchmal in den Ferien. Lieber aber nach Südamerika. Da kennt er sich besser aus. Zudem wäre er da wirklich gezwungen, sauber zu bleiben. In einen südamerikanischen Knast will niemand.

Über seine ungewisse Zukunft spricht Manu nicht gerne. Meine Fragen blockt er ab. Er klammert sich am letzten Funken Hoffnung fest, dass er doch noch bleiben kann. Das Urteil über sein Schicksal hat er angefochten, obwohl die Chancen schlecht stehen, und zieht den Fall ans Bundesgericht weiter. Für die anfallenden Gerichtsgebühren wird Manu, mit Unterstützung seiner Schwester, selbst aufkommen müssen. Insgesamt belaufen sich seine Gerichtsschulden auf circa 100’000 Schweizer Franken.

Dieses Mal will er doch wirklich alles besser machen. Einen Schrebergarten hätte er gerne und eine Werkstatt, wo er mit Holz arbeiten kann, so wie er es jetzt hier im Freihof tut. Kleine Elefäntchen hat er gefertigt und eine Seifenschale für seine grosse Schwester. Richtig arbeiten werde er aber nicht können. Die langjährige Abhängigkeit hat Spuren hinterlassen. Er klagt über Krämpfe, einen Bandscheibenvorfall hat er auch.

Manu wurde 1969 als zweites Kind spanischer Migrant:innen in Adliswil, einer Zürcher Agglo-Gemeinde, die von der Sihl entzwei geteilt wird, geboren. Die Mutter Schneiderin, der Vater Taxifahrer. «Unser Vater war nicht sonderlich an Integration interessiert. Zuhause sprachen wir Spanisch. Er konnte gerade so viel Deutsch, dass es zum Taxifahren reichte. Unsere Mutter arbeitete viel und engagierte sich in der Schulpflege und so. Dadurch waren wir bereits sehr früh oft alleine.» Manus grosse Schwester war schon damals «schlau, ruhig und anständig – total anders als ich», findet Manu. Deshalb hätten sie im Kindesalter auch nicht viel miteinander anfangen können. Er war ein hübsches Kind. Dunkle Haare, grosse Augen, dichte Wimpern. Pilot wollte er werden, damit er die ganze Welt sehen und ganz viel Geld verdienen kann. Die beiden Kinder wurden streng erzogen, denn zu gross war die Angst der Mutter, negativ aufzufallen. Die Vier lebten in einer grossen Überbauung auf der linken Sihlseite. «Es gab zwei Banden. In der einen waren Kinder von der linken Sihlseite, in der anderen jene von der rechten. Der grösste Teil dieser Bande waren Geschwister einer Grossfamilie», erzählt Manu. Eine Romafamilie, die aus einer Mutter, mehreren abwesenden Vätern und sieben Kindern, alle älter als Manu, bestand. Sie beeindruckten ihn, er wollte einer von ihnen sein, und das gelang ihm auch. Durch eine Mutprobe: «Sie setzten mich in eine Kartonkiste und zündeten sie an.» Manu war furchtlos und verharrte so lange in der brennenden Kiste, wie er nur konnte. Er bestand und verbrachte von da an die meiste Zeit bei der Grossfamilie. Zu den Lieblingsbeschäftigungen der kleinen Bande gehörten das Klauen, Beschädigen und Anzünden von Gegenständen und Einbrüche in fremde Häuser.

Als Konsequenz seiner Taten griffen 1979 die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Der damals Zehnjährige wurde seiner Familie entrissen und in ein Heim eingewiesen. Gegen seinen und den Willen seiner Eltern, die weder mit der deutschen Sprache noch mit dem Schweizer Recht genügend vertraut waren, um sich wehren zu können. Abgesehen davon habe man sich für den auffälligen Sohn geschämt, der nicht so funktionieren wollte, wie er sollte. Es wurde ADHS diagnostiziert, jedoch nie behandelt. Manu haute aus dem Heim ab. Immer und immer wieder fand er den Weg zurück zu seinen Eltern. Manchmal begab er sich auch an den Hauptbahnhof Zürich, wo er nach Freiern Ausschau hielt, um Geld zu verdienen. Allgemein war er besessen davon, Geld zu haben. Geld bedeutete Freiheit. Alles schien ihm erträglicher als der Alltag im Heim. «Ich wollte einfach nur frei sein», sagt Manu. Sein Sprechtempo verschnellert sich, wenn er von der Prostitution spricht. So als ob er es mir nicht wirklich erzählen, aber trotzdem loswerden möchte. Seine Fluchtversuche scheiterten ausnahmslos – immer und immer wieder holten sie ihn zurück. Mit jedem Mal wurde es unerträglicher und mit jedem Mal brachten sie ihn in ein Heim, noch weiter weg vom Elternhaus.

Mit 15 stand Manu das erste Mal vor Gericht – insgesamt 57 Anzeigen. Unter anderem wegen wiederholtem und fortgesetztem Diebstahl,  wiederholtem Betrug, wiederholter und fortgesetzter Sachbeschädigung, wiederholtem Führen eines Mofas ohne den erforderlichen Führerausweis und der wiederholten vorsätzlichen Brandstiftung – an einem Tag zündete Manu insgesamt drei Gebäude an. Warum er das getan hat, weiss er nicht mehr genau. Aber er sei wohl frustriert und wütend gewesen. Nach der Verhandlung wurde er 1984 in die Jugendanstalt Tessenberg Prêles eingewiesen. Ein Erziehungsheim für verhaltensauffällige, normalbegabte junge Männer im Alter bis zu 22 Jahren. Ziel war es, die jungen Männer zu resozialisieren und ihnen den «richtigen Weg» zu weisen. Manu resignierte.

Er hat Mühe, über seine Zeit in der Anstalt Tessenberg zu sprechen. An Details kann oder will er sich nicht erinnern. «Ich war auch da wieder der Jüngste. Ich wurde oft verprügelt und geplagt. Einer musste ja den Kopf hinhalten.» Er zuckt mit den Schultern.

Manu absolvierte im Jugendheim seine Anlehre als Topfpflanzengärtner. Eigentlich hätte er lieber etwas mit Tieren gemacht. Dies sei im Tessenberg aber nicht möglich gewesen. «Ich wollte einfach mit etwas Lebendigem arbeiten. Ich kümmere mich gerne um andere», erzählt er mir. Deshalb geht er heute auch oft Gassi mit dem Hund einer Betreuerin vom Freihof. Das bereite ihm Freude. Manu zog seine Anlehre durch und wurde mit 18 Jahren endlich entlassen.

Er kehrte zurück ins Elternhaus, fand einen Job, verkaufte ab und zu ein bisschen Gras und traf seine erste grosse Liebe Irene. «Ich sah sie das erste Mal vor dem Migros. Sie verteilte Flyer für eine Hausbesetzung und lud mich ein. Sie gefiel mir, aber ich hatte durch die lange Zeit im Heim noch gar keine Erfahrung mit Frauen und war nervös.» Trotzdem ging Manu zu der Besetzung, mit zwei gestohlenen Flaschen Tequila im Gepäck. Am Lagerfeuer sassen sie sich gegenüber, lächelten einander an. Irene willigte ein, dass er sie mit dem Mofa nach Hause bringen dürfe. Manu fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Kurz darauf zog er bei Irene ein. In eine kleine Wohnung neben den Bahngleisen in Adliswil. Dort konsumierten sie gemeinsam zum ersten Mal Kokain, das sie von einem Freund bekommen hatten. Gerne hätte er auch dieses verkauft, durfte jedoch nicht; Irene hatte ihn daran gehindert. Manu und Irene schmiedeten Zukunftspläne. Kinder wären schön gewesen, aber alle Versuche scheiterten. Rückblickend ist Manu froh darüber. «Ich hätte wirklich gerne Kinder gehabt. Aber ganz ehrlich: Bei so einem Verhalten, wie ich es an den Tag gelegt habe, sollte man keine Kinder haben dürfen. Das war dann wohl auch der Grund, warum es trotz mehrerer Versuche nicht geklappt hat.»

Ob er noch Kontakt hat zu Irene, will ich wissen. Ich erinnere mich, dass ich sie auf der Beerdigung von Manus Mutter vor einigen Jahren kennengelernt habe. Manu war an diesem Tag kaum ansprechbar. «Ja, sie meldet sich immer wieder. Letztens waren wir gleich da um die Ecke essen. Auch wenn ich wieder im Gefängnis sass, schrieb sie mir Briefe», Manu lächelt und fügt hinzu: «Weisst du, Irene ist eine richtig Gute. Eine, die man nicht gehen lassen sollte.» Nach der Trennung von Manu hat Irene von einem Tag auf den anderen mit den Drogen aufgehört.

Manu wechselte den Job, begann als Lagerist in einem Familienunternehmen. Es sei der beste Job gewesen, den er je hatte. Die Atmosphäre war locker, die Leute nett und offen. Ab und zu rauchte Manu ein bisschen Gras während der Arbeit. Einmal zog er auf einem Lagergestell eine Line und vergass, dass er Feierabend machen sollte. Es war diese Energie, die er nicht mehr missen wollte, die ihm dann zum Verhängnis wurde. «Mein Vorgesetzter bezeichnete mich vor versammelter Mannschaft als ‹scheiss Junkie›, obwohl ich meine Arbeit noch immer sehr gewissenhaft und zu vollster Zufriedenheit erledigte.» Der Vorfall traf eine wunde Stelle. Manu fühlte sich nicht mehr wohl und reichte die Kündigung ein. Er hielt sich mit Temporärjobs über Wasser, vertickte nebenbei Hasch. Gutes Hasch, alle Sorten von Hasch direkt aus Amsterdam, von einem Bekannten, der mehrere Modegeschäfte an der Zürcher Badenerstrasse führte: Oli, ein Businessmann und einer seiner besten Kund:innen. Durch eine andere Bekanntschaft, einen Skinhead mit einem Auto, bis oben hin gefüllt mit Säcken voller Pillen, kam Manu schliesslich in Berührung mit Amphetamin, Speed, Ecstasy und LSD. Er begann, es zu verkaufen. Machte damit Geld, viel Geld. Sie verkauften das Zeug teuer, aber günstiger als die anderen. Die Kund:innen gehörten Manu – sie liebten ihn. So sehr, dass er sich mit dem Geld endlich eine Auszeit gönnen konnte: sechs Monate Thailand. Den Kopf wollte er leerkriegen. «Man sollte dann aufhören, wenn’s am schönsten ist. Das wäre dieser Punkt gewesen», sagt Manu und blickt über mich hinweg ins Leere.

Ein Kollege sollte Manus Kund:innen während dieser Zeit übernehmen. «Kein Zeugs auf Gummi rausgeben» – zuerst Geld, dann die Ware. Die ersten zwei Monate liefen gut. Manu bekam sein Geld regelmässig per Post geschickt. Dann kam irgendwann keins mehr, dafür einen Anruf. «Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich stieg ins nächste Flugzeug und kehrte zurück.» 30’000 Franken fehlten. Weder Geld noch Drogen waren da. Manu schaffte es, alles gerade zu biegen. Schliesslich kannte er sein Business, seine Szene. Er war gut. Besser als die anderen. Immer fair zu seinen Kund:innen, immer loyal zu seinen Hinterleuten und seinen Kolleg:innen. Kurz darauf verreiste Manu erneut. Diesmal nach Kolumbien. Gescheiter wollte er sein und übergab sein Geschäft seinem besten Kunden Oli. Als er zurückkehrte, hing dieser an der Nadel. «Er schreckte all meine Kund:innen ab. Manchmal öffnete Oli die Tür mit der Nadel im Arm. Da bekamen doch alle Schiss». Doch nicht nur bei Oli hatte sich etwas verändert; bei Irene zu Hause wirkte alles ein bisschen «italienisch». Ein neuer Mann war da. Manu packte seine Sachen und zog aus. Irene war nicht mehr bei ihm und nichts hielt ihn nun noch vom Kokainverkauf ab. Er hatte seine Quellen, kaufte auf Kommission ein. An der Langstrasse kannten sie ihn alle. Überall kam er gratis rein. Der Grund dafür war ihm natürlich bekannt. Manu liebte Partys und ganz besonders Goa-Partys, weil da alles so familiär und friedlich sei. «Ich liebe es, zu tanzen. Einfach loslassen und sich von allem befreien!»

Die hochwertigen Substanzen, die er durchgehend auch selbst testete und konsumierte – «Wenn du mit Heroin und Kokain dealst, bist du entweder süchtig oder ein Jugo» – öffneten Manu aber nicht nur Club-Türen, sondern brachten ihm auch die schönsten Frauen der Szene ein. Tanja zum Beispiel: «Bildhübsch, aber voll drauf». Sie wurden ein Paar, bis Manu das erste Mal ins Gefängnis musste wegen 1,6 Kilogramm Kokain. «Ich wollte in einem Asylheim in Affoltern etwas einkaufen. Auf dem Rückweg wurde ich von der Polizei gestoppt. Ich wusste, dass sie mich suchten. Zu dieser Zeit war ich mal wieder Sans Papier, da ich keinen festen Wohnsitz hatte und meinen Ausländerausweis nicht erneuern konnte. Als die Polizist:innen kurz abgelenkt waren, rannte ich los.» Manu rannte und rannte über ein Feld durch die Dunkelheit, die Polizist:innen dicht hinter ihm. Irgendwann erreichte er ein Gitter. Manu sprang daran hoch und spürte, wie ein fester Griff sein Bein umfasste. Sekunden später lag er mit dem Gesicht im Dreck, ein Knie in sein Kreuz gedrückt und beide Hände in Handschellen. 26 Monate bekam er. 18 Monate sass er ab, acht Monate waren bedingt. Tanja besuchte ihn nie und war anscheinend schon mit dem nächsten Dealer zusammen.

Auf die Frage, wie das für ihn gewesen sei, zuckt Manu einmal mehr mit den Schultern: «Das ist halt so, man kann ihnen nicht böse sein. Schliesslich sind sie süchtig und müssen ja irgendwie an ihren Stoff kommen.»

Zürich, 2005. Tag der Entlassung im Gefängnis Regensdorf. Manu wartete darauf, abgeholt zu werden. Sie hatten es ihm versprochen – seine Freund:innen. Eine Limousine fuhr vor. «Komm, steig ein!», riefen sie und winkten ihm wild zu. Er habe bereits in diesem Moment gewusst, dass das nicht gut ausgehen würde. Das Ziel der Limousinenfahrt: die Chakra Bar bei der Hardbrücke. Manus Rückkehr musste schliesslich gefeiert werden mit möglichst vielen Drogen. Mindestens eine Woche lang schlief Manu wegen des exzessiven Konsums nicht. Er war wieder mittendrin. Tiefer als je zuvor. Keine Chance zum Entkommen. Keine Chance für einen Neuanfang.

Während Manu scharf darüber nachdenkt, wo er nach seiner Entlassung überall gelebt hat, kommt ihm eine Geschichte in den Sinn, die er mir unbedingt noch erzählen will.

Gleich über der Vasco’s Bar an der Bäckerstrasse in Zürich lag Manus neue Wohnung. Er konnte sie von einer befreundeten Piercerin übernehmen. «Ich ging nicht oft nach draussen. Schliesslich war mir die Polizei 24/7 auf den Fersen. Sie wollten vor allem meine Hinterleute. Ich verriet sie jedoch nie, auch wenn mir das einiges erspart hätte», erzählt Manu. Doch plötzlich sah er sich mit einem sehr viel grösseren Problem konfrontiert. Er habe von den Drogen einige Male Paranoia gehabt: «Das ist normal, wenn man es übertreibt.» Aber in dieser Wohnung sei es ihm kalt den Rücken runtergelaufen. Er hörte Stöhnen, eines, das sich nicht nach Spass anhörte. Auch Schreie hörte er, jedoch so gedämpft, dass sie aus isolierten Räumen kommen mussten. Er sah komische Dinge; junge Mädchen, weit unter 18, die nicht gesund aussahen, und andere Menschen, die nicht in dieses Haus gehörten. «Ich war mir sicher, dass es sich um irgendeinen geheimen Ring handeln musste, der Menschenhandel betrieb. Nichts hasse ich mehr, als wenn Frauen zu irgendetwas gezwungen werden.» Manu verschloss einige Male die Augen vor Tatsachen, die er nicht wahrhaben wollte. Doch in diesem Moment sei für ihn selbstloses Handeln das einzig Richtige gewesen. Er ging zum ersten Mal freiwillig auf den Polizeiposten und zum ersten Mal hatte er es mit der Kripo, statt mit der Drogenfahndung zu tun. Dort schilderte er die Szenen, die sich in seinem Haus ereigneten. Er hatte Angst, dass sie ihm nicht glauben würden. Er war schliesslich ein Junkie. Manu bat sie darum, zwei möglichst unauffällige Polizist:innen vorbeizuschicken, die sich von seiner Wohnung aus alles anhören und anschauen können. «Sie schickten mir dann natürlich die grössten zwei Bünzli-Bullen, die sie finden konnten, aber wenigsten kamen sie.» Manu hatte sich nicht geirrt, es war keine Paranoia – was er sah und hörte, war echt. Das Haus wurde geräumt. 

Die Geschichte nahm Manu so mit, dass er die Wohnung verliess und zurück in die Nähe von Adliswil zog, für eine relativ kurze Zeit. «Man sollte ja aus seinen Fehlern lernen. Aber insgesamt wurde ich aus mindestens 13 Wohnungen geschmissen. Der Grund war immer derselbe.»

Dazwischen sass er immer wieder im Knast oder im Asylheim mit «Ausländer:innen» – er habe sich da jeweils ein bisschen fehl am Platz gefühlt. Einen gültigen Ausweis besass er selten. Seine Eltern hätten es damals vermasselt mit dem Schweizerpass, und danach wollte man ihm keinen mehr geben. In der Schweiz war es damals im europaweiten Vergleich nach Zypern am schwersten, eingebürgert zu werden. Für einen Fall wie Manu, mit einer Justizakte wie der seinen, ein Ding der Unmöglichkeit.

«Meine Schwester hat einen Schweizerpass – obwohl sie ihn weniger nötig hat als ich. Sie würde niemals etwas tun, was sie nicht darf», sagt Manu und lacht. Er hält viel von seiner Schwester, die Beziehung zu ihr und ihrer Familie ist ihm wichtig und er pflegt sie, so gut er kann. Jedes Weihnachten auf freiem Fuss feiert er gemeinsam mit ihnen. Seinem Neffen und seiner Nichte bringt er jedes Jahr ein Geschenk mit. Auch an Geburtstagen gingen sie nie leer aus. Selbst wenn es nur ein Lösli war, um Geld zu gewinnen.

Bei der Kreuzung Langstrasse/Militärstrasse lernte Manu seine letzte Freundin durch einen lukrativen Kokain-Deal kennen. Sie arbeitete bei einer Pensionskasse als Abteilungsleiterin. «Das war ein richtig guter Job. Sie hat nie blaugemacht. Ich weiss nicht, wie sie das angestellt hat. Sie rauchte Sugar vor der Arbeit, in der Mittagspause und nach der Arbeit.» Die Lichtschalter in ihrer Wohnung, die Wände, das Geschirr – alles war schwarz von ihren Händen, vom Folien rauchen. Eine weitere Drogenbeziehung, wie Manu sie nennt. Seit Irene habe er nur noch solche gehabt. Nach einigen Jahren ging auch diese Beziehung in die Brüche. Ein «Freund» funkte dazwischen, Manu wurde betrogen.

Manus Zuhause waren erneut Asylheime und Couches von Freund:innen, was jedoch nur Nachteile gehabt hätte, denn man müsse immer auf sein Zeug aufpassen. Am liebsten lebte er in Hotels, am allerliebsten im Flemings in Zürich an der Brandschenkenstrasse. Das Geschäft lief gut. Von Junkies über Banker bis hin zu seinem Hausarzt vertrauten sie ihm alle. Er wurde geschätzt für seine Zuverlässigkeit, die er, trotz seiner Abhängigkeit, nie verlor. Manu arbeitete hart und gab jeden Tag sein Bestes in dem, was er eben tat: Drogen verkaufen. Pro Jahr machte er rund drei bis vier Millionen Franken Umsatz, mit einem Reingewinn von ungefähr 40’000 Franken pro Monat, von dem heute nichts mehr übrig ist. Sparen sei nichts für Manu und sowieso sei es schwierig, Schwarzgeld aufzubewahren.

Die Polizeiprotokolle häuften sich weiter, die Sucht wurde grösser. Besonders mit dem Heroin angefangen zu haben, bereut Manu. Sieben Verhaftungen in einem Jahr. Während eines laufenden Verfahrens wurde er erneut beim Dealen erwischt. 70 Gramm Weisses, 30 Gramm Braunes. Wieder führte sein Weg in den Knast. Wie er so leichtsinnig sein konnte? Es höre sich vielleicht blöd an, aber diese Szene sei sein Zuhause gewesen. Irgendwann verliere man das Bewusstsein, alles werde normal. Ein eigener, kleiner Kosmos. «Ich hatte und konnte ja sonst nichts. Im Dealen war ich gut, wirklich gut, weisst du?! Ich war der Mittelpunkt. Alle wollen etwas von dir. Guten Stoff zu haben in dieser Szene bedeutet mehr Macht als alles Geld der Welt. Wieso weg davon? Das war meine Bestimmung.» Als Manu zuletzt im Gefängnis sass, bekam er sogar ein Päckli von Ex-Kolleg:innen aus der Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige, kurz K&A, in Zürich. Darin waren Zigaretten und Briefe. Manus Augen glänzen, als er mir davon erzählt. Er habe sich wirklich sehr darüber gefreut, denn normalerweise interessiere sich keine:r mehr für einen, wenn man weg vom Fenster ist.

Wenn ich Manu zuhöre, vergesse ich, dass er selbst den grössten Teil seines Lebens schwer abhängig war. Sein Verstand ist scharf, seine Erinnerungen klar. Die Art und Weise, wie er über Abhängige und Drogen spricht, scheint distanziert, reflektiert, als habe er ihnen etwas voraus.

Gemeinsam mit Manu und seiner Schwester sitze ich drei Wochen nach dem ersten Wiedersehen an ihrem Küchentisch. Er darf mittlerweile wieder raus und hat mir etwas mitgebracht. Ein A4-Blatt, auf dem er einen für ihn sehr wichtigen Kommentar niedergeschrieben hat: «Viele Menschen sagen, dass ich die letzten 25 Jahre arbeitslos war, was ja ganz und gar nicht korrekt ist. Es war nur nicht legal, was ich tat, aber trotzdem habe ich Schwerstarbeit geleistet. Man stelle sich vor: Psychologe, Buchhalter, Logistiker, Einkäufer, Verkäufer und Suchtkranker zugleich. Ich arbeitete im Schnitt 18 Stunden täglich.» Immer wieder betont er, dass er stets korrekt und loyal war, was er von vielen Menschen, die er kennenlernte – vor allem von Kund:innen, die in der Gesellschaft wunderbar funktionierten und akzeptiert wurden – nicht behaupten könne. Wir trinken Rotwein, Manu nicht, und essen Oliven. Der Coq au Vin köchelt auf der Herdplatte vor sich hin. Sie erzählen mir Geschichten von früher, von ihren Eltern, dass Manu öfter mal Schläge kassierte, dass sich sein Vater für ihn schämte. Dass Manu selbst zwar viel Scheisse baute, jedoch nie aggressiv wurde oder jemandem ein Haar krümmte, obschon er, seit er denken kann, immer und immer wieder Opfer von Gewalt wurde.

Warum er so besessen war vom Geld, dass er sich sogar prostituierte, will seine Schwester wissen. Das habe sie nie verstanden, er sei doch noch ein Kind gewesen. Manu findet keine Antwort. Auf vieles, was in seiner Justizakte von der Jugendanwaltschaft steht, findet er keine Antwort. Die Originalpapiere von 1984 stecken in einem bemalten Schulmäppchen seiner Nichte. Alle Drei beugen wir uns darüber. Die Dokumente von der ersten Heimeinweisung fehlen, bemerke ich. «Stimmt». Ob ich an die rankomme, will Manu wissen. «Ich bin dem nie auf den Grund gegangen. Ich habe vieles verdrängt, was da passiert ist. Ich glaube, ich wollte gar nicht so genau erinnert werden». Vom «Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981», welches das Unrecht, das die Opfer durch fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Zeit vor 1981 erleiden mussten, wieder gutmachen soll, hat er bisher noch nichts gehört. Aber der Staat habe ihm bis heute sowieso noch nie etwas geschenkt. Das werde sich wohl auch künftig und verständlicherweise nicht ändern. Ich werde versuchen, an die Akten zu kommen, verspreche ich ihm.

Durch einen meiner ZHdK-Dozenten erhalte ich den Kontakt einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin vom Staatsarchiv des Kantons Zürich. Bereits nach kürzester Zeit finden wir Manus umfangreiche Akten, die die Familie bisher noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Einige Tage später erhalte ich einen Anruf: «Manu hat mich soeben weinend angerufen. Er hat die definitive Landesverweisung erhalten. Die Härtefallklausel wurde ignoriert.» Die Stimme von Manus Schwester zittert. Die Härtefallregelung stellt eine Ausnahmeregelung dar. Sie tritt dann in Kraft, wenn die betroffene Person in einer persönlichen Notlage steckt, was bedeutet, dass ihre Lebens- und Daseinsbedingungen im Vergleich zum durchschnittlichen Schicksal ausländischer Personen in zunehmendem Masse infrage gestellt werden. Und die Verweigerung der Aufenthaltsbewilligung ernsthafte Nachteile für die betroffene Person mit sich bringt.

Wir sollten nichts unversucht lassen. Ich leite die Akten via Manus Schwester an seinen Anwalt weiter. Sie will noch nicht aufgeben. Nimmt Kontakt mit der WOZ auf, denkt über ein Crowdfunding nach, um allfällige Gerichtskosten bezahlen zu können. Doch irgendwann resigniert auch sie.

Nach einem langen Kampf gegen das System und nach Abwägen, ob sich der Weg an den Europäischen Gerichtshof lohnt und Manus Kraft dafür reicht, will Manu sein Schicksal annehmen. «Es ist ein Scheiss. Vor allem mit diesen Löchern in meinen Füssen. Aber ich muss das jetzt akzeptieren. Kommst du mich mal im Unispital besuchen? Bin bestimmt noch eine Woche da», schreibt mir Manu via WhatsApp.

Seit einigen Wochen kämpft Manu mit gesundheitlichen Problemen. Auch diese wurden beim Ausschaffungsentscheid nicht berücksichtigt. Ein offenes Bein macht ihm zu schaffen. Dies ist häufig die Folge von Durchblutungsstörungen der Venen und/oder Arterien – eine sogenannte chronische Wunde am Unterschenkel oder am Fuss, die trotz korrekter Wundbehandlung nicht heilt.

Manu ermuntert seine Familie trotz allem zum Vorwärtsschauen. Die in greifbare Nähe rückende Freiheit scheint ein freudiges Gefühl in ihm auszulösen. Die letzten Monate im Freihof waren alles andere als einfach für Manu. Immer wieder eckte er mit dem Personal an, fühlte sich zu sehr bevormundet und ungerecht behandelt. Die Vorstellung, nach langer Zeit in Einrichtungen, seien es Gefängnisse oder Heime, wieder autonom leben zu können, muss für ihn überwältigend sein. 

Manu blüht regelrecht auf. Meldet sich in einem Jassclub in Oerlikon an. Verbringt viel Zeit mit alten und neuen Freund:innen. Informiert sich über Jobs, die er im Sitzen ausführen kann, und sozialen Anschluss in Spanien. Ebenso denkt er darüber nach, sich einen Hund zuzulegen und einen Sprachkurs zu machen, da sein Spanisch lediglich für Smalltalk ausreicht. Nur sein Körper zwingt ihn ab und zu in die Knie. 

Manus Schwester sorgt sich trotz seiner Vorfreude um seine Zukunft. Auf dem Konsulat kriegt sie nur wenig Auskunft bezüglich Sozialhilfe in Spanien. «Ich habe zwei Stunden mit denen gesprochen und wusste danach weniger als vorher», erzählt sie. Das Einzige, was man ihr mitteilt: 400 Euro Sozialgeld soll Manu künftig in Spanien pro Monat erhalten. Dies jedoch erst, nachdem er ein Jahr dort gelebt hat. Wie er davon eine Miete bezahlen und leben soll, ist für alle ein Rätsel. Manus Schwester und ihre Familie entscheiden, dass sie ihm ein kleines Studio kaufen wollen. Bei einer Spanienreise werden sie in der Nähe von Sitges fündig. Manus Freude ist gross, als seine Schwester ihm die Neuigkeiten eröffnet. Ein schlechtes Gewissen schwingt jedoch mit. «In vier Jahren seid ihr mich eh los, dann könnt ihr die Wohnung ja verkaufen», meint Manu. Seine Lungenärztin habe ihm das gesagt.

Kurz vor Ostern verschlechtert sich Manus gesundheitlicher Zustand. Er teilt per Anruf mit, dass er im Spital sei. Er habe einen starken Husten, von dem er sogar ohnmächtig wurde. Die Ärzt:innen beruhigen die Familie. Es sei nichts Schlimmes – bloss ein Infekt. Ein Antibiotikum verbessert seine Werte. Aufatmen. 

Ein paar Tage später erhält Manus Schwester erneut einen Anruf aus dem Spital. Diesmal ist nicht Manu am Apparat: «Ist es okay, wenn wir Ihren Bruder intubieren?» Sie bejahte, obwohl sie nie die Chance hatte, konkrete Details mit ihm zu besprechen. «Hängt mich niemals an Schläuche», war das Einzige, das Manu immer wieder äusserte. Sollte sich nach 72 Stunden Intubation nichts ändern, gäbe es keine Chance mehr, ihn zu reanimieren, teilen die Ärzt:innen Manus Schwester mit.

Der Name von Manus Nichte erscheint auf meinem Handy-Display. «Ja?», «Hoi Schatz, wie geht’s dir?». Die Frage scheint pro forma. «Manu ist tot». Die Worte hallen in meinem Kopf. Ich muss mich setzen. Wie immer in Momenten, in denen man aus Zeit und Raum gerissen wird, habe ich keine Antwort bereit. Wie es ihrer Mutter geht, will ich wissen. Wie es ihr und ihrem Bruder geht. Ob ich irgendetwas machen kann. Meine Stimme zittert. Der Schmerz in meiner Brust ist fast unaushaltbar. Manu und ich hatten bereits ein Treffen für in ein paar Wochen ausgemacht, um «wieder mal eis go zieh und chli rede». Es wird nicht mehr stattfinden.

Dafür stehe ich einige Wochen später an seinem Grab auf dem Friedhof Sihlfeld. Schulter an Schulter mit seiner Familie und umgeben von seinen Freund:innen, Anwälten und Bekannten. Das zahlreiche Erscheinen rührt mich. Manu war einzigartig – das wissen alle, die hier stehen. Tränen rollen mir unaufhaltbar über die Wangen. Warum genau jetzt, wo er endlich wieder hätte frei sein können, einen Neustart haben können? Manus Tod ist abstrakt. Überraschend. Nur schwer greifbar.

Beim anschliessenden Apéro im Derby beim Lochergut herrscht eine schöne, fast ausgelassene Stimmung. Eine, die Manu gemocht hätte. Ich unterhalte mich mit Irene, mit seinem Anwalt, vielen Freund:innen, die ich zum Teil nur aus Manus Erzählungen kannte. Es wird über die Tische hinweg miteinander gesprochen, Erinnerungen an Manu werden ausgetauscht und ein Fotoalbum gefüllt mit Bildern von ihm wird herumgereicht. 

Auf dem Nachhauseweg denke ich an Manu und daran, wie er vor einigen Monaten zu mir sagte: «Meine Wurzeln sind nicht in Spanien. Also irgendwie schon, aber meine eigenen Wurzeln sind hier. Das ist ja das Verflixte. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, die Schweiz jemals verlassen zu müssen.»

Musst du auch nicht, lieber Manu. Du bleibst hier. Für immer.

27. März 2023

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