Text von Karolina Sarre
Ein lauer Abend im März, ich spaziere am Ufer der Limmat entlang, während sich das Orange des Himmels kitschig im Wasser spiegelt. Vor mir laufen vier schwarz gekleidete Personen mit kleinen Lichtern in den Händen; hinter mir rattert ein Bollerwagen, vollgestopft mit Lampen, Klettverschlüssen und sonstigen Materialien. Ich habe mein iPhone gezückt und filme die Menschen, die vor mir über die Dammwegbrücke schlendern und deren Körper grosse Schatten an die Silowand werfen. Die Schatten verändern sich stetig und versetzen ihre Umgebung in Schwingung.
Ich filme diese Menschen, weil ich sie bei einer Probe für die Performance poleidoskop begleite, die am 10. und 11. Mai 2024 beim Festival ZÜRICH TANZT zu sehen ist. Die Performer:innen sind Teil der compagnie O., einer Tanzkompanie aus Zürich, für die ich als Produktionsassistentin tätig bin. Eine Arbeit, die mir eine neue Perspektive eröffnet hat.
Das liegt daran, dass das Leitungsteam der compagnie O., bestehend aus Marie Alexis, Ivalina Yapova und Mona de Weerdt, auf dem breiten neurodivergenten Spektrum zu verorten ist. Also ein Team mit einem atypisch funktionierenden Nervensystemt. Unter «neurodivergent» fallen zum Beispiel Autismus und AD(H)S, aber auch Lese-Rechtschreibschwäche oder Hochbegabung. Als Person mit einem tendenziell neurobiologisch-typischen Nervensystem bin ich so zum ersten Mal mit dem Thema Neurodivergenz in Berührung gekommen. Bisher wusste ich nur von Bekannten mit der Diagnose ADHS oder hatte hin und wieder von Autismus gelesen – ich hatte wenig Ahnung und wenig Bewusstsein. So wie mir geht es vielen.
Hinweis: In diesem Text spreche ich manchmal von autistischen Menschen, von Menschen mit AD(H)S und/oder Autismus. In der Community gibt es keine eindeutige, gewünschte Selbstbezeichnung. Manche nutzen «Person First» – für «Mensch mit AD(H)S», um die Person in den Vordergrund zu rücken. Andere autistische Personen betiteln sich mit «Identity First», weil Autismus oder AD(H)S nicht von der Identität trennbar sind und zur Persönlichkeit gehören.
Die Mitglieder der compagnie O. wollen durch ihr vierjähriges Projekt MULTIVERSE I atypische perspektiven, das von der Konzeptförderung der Stadt Zürich unterstützt wird, ihren Beitrag zur Aufklärung über das Themenfeld Neurodiversität leisten. Als Tanzkompanie erforschen sie in unterschiedlichen Formaten die Welt- und Selbstwahrnehmung neurodivergenter Menschen. In künstlerischen Ausdrucksformen wie Choreografie und Performance wollen sie diese Wahrnehmungsweisen für das Publikum erfahrbar machen. Die Vielfalt, besonders in den darstellenden Künsten, soll sichtbarer gemacht werden.
Im ersten Jahr des MULTIVERSE widmet sich die cie O. dem Thema Hyperfokus, der eine Schnittstelle zwischen Autismus und AD(H)S darstellt. Es geht um intensive Sinneswahrnehmungen, Reizfilterschwäche und der Hyperfokussierung auf bestimmte Sinneseindrücke, Gedanken oder Tätigkeiten. Beim Nightwalk poleidoskop geht es um die Erfahrung von genau diesen hyperintensiven Sinneswahrnehmungen. Vier Tänzerinnen, die durch die Nacht führen, tragen Lichtquellen am Körper und versetzen so die Umgebung mit ihren Bewegungen in Schwingung.
Im kommenden Jahr widmet sich die Kompanie der Kommunikation des Unsagbaren. Hier geht es um die Unmöglichkeit, das eigene Erleben in Worte zu fassen, so wie es viele neurodivergente Menschen häufig erleben. Diese soziale Entfremdungserfahrung steht oft auch im Kern autistischer Sprachentwicklung. Der Frage, wie sich diese Erfahrung anfühlt und welche körperlichen Zustände hervorgerufen werden, wird in diesem Jahr nachgegangen. 2026 wird es um instabile Weltbeziehungen gehen, welche auch als «wrong planet Syndrom» bezeichnet werden können. Teilweise fehlende Instinkte für soziales Codes, hypersensitive Weltwahrnehmungen und Entfremdungserfahrungen können besonders autistische Menschen, aber auch AD(H)Sler:innen beschäftigen. Im letzten Jahr, 2027, geht es darum, wie sich neurodivergente Menschen bestimmte ästhetische Erfahrungen, sogenannte «Grooves», als Modus des In-der-Welt-Seins aneignen, um sich «sicherer» zu fühlen.
Die compagnie O. bemüht sich innerhalb ihres künstlerischen Tuns, nicht nur aufklärerisch zu agieren, sondern verschiedene Bubbles zu vereinen, so Marie Alexis, die Gründerin der Kompanie. Deswegen gibt es immer wieder Workshops oder Talks innerhalb des Formats O.pen practice. Menschen mit oder ohne Tanzerfahrung sind willkommen, sowie auch verschiedenster Neurotypen. Weiter soll es darum gehen, Aufmerksamkeit und Bewusstsein für Neurodiversität, besonders in den darstellenden Künsten, zu schaffen und ein Zeichen gegen kapitalistisch-ableistische Leistungsparadigmen zu setzen. Noch immer werden neurodivergente Menschen in Inklusionsdiskursen auf ihre vermeintlichen, stereotypen Schwächen und Stärken, also ihre Leistungs(un)fähigkeit reduziert, und somit entmenschlicht. Beispielsweise gelten autistische Menschen als weniger sattelfest im Zwischenmenschlichen, sind dafür aber analytisch stark, während sich Menschen mit ADHS schlecht konzentrieren können, aber dafür kreativ sind. Ein erweitertes Verständnis von Neurodiversität leistet somit einen wichtigen Beitrag zu einer inklusiveren und toleranteren Gesellschaft.
Auch ich konnte durch meine Begegnungen innerhalb der compagnie O. vieles mitnehmen und mein Bewusstsein für die Bedürfnisse neurodivergenter Personen schärfen. Inzwischen fällt mir auf, was für Betroffene erschöpfend, unangenehm oder sogar traumarisierend sein könnte – Dinge, die ich früher nicht bemerkt hätte.
Die Performance poleidoskop findet am 10. und 11. Mai 2024 statt, Start ist jeweils um 21:30 Uhr beim Tanzhaus Zürich. Tickets können über ZÜRICH TANZT gekauft werden.