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Eine Eisenbahnfahrt, um mein Inneres auszuloten

Ich schaue aus dem Fenster raus; rein in meine Seele. Die vorbeiziehende Landschaft lüftet meinen Kopf. Das Ruheabteil, die in der Tasche gelassenen Kopfhörer, das ignorierte Handy und das beiseitegelegte Buch tun ihr Übriges. Die Eisenbahn trägt mich durch Raum und Zeit, während ich mit mir sein kann. Sitzend, aus dem Fenster schauend, nichts und gleichzeitig viel denkend. Ein Ausatmen, Weltanhalten und Sinnieren über das Leben.

Von Janine Friedrich

Wundert euch ruhig über meine Wortwahl: Ganz bewusst sage ich heute Eisenbahn anstatt Zug, denn ich habe Zeit für lange Wörter. Knapp zehn Stunden. Meiner Meinung nach sollte es allgemein eingeführt werden, längere Fahrten als Eisenbahnfahrten und kürzere als Zugfahrten zu betiteln. Würde Sinn machen. Egal. Stift und Notizblock liegen jedenfalls vor mir, um wichtige Dinge, die aus meiner neuronalen Aktivität herrühren, stichpunktartig festzuhalten.

Die letzten Tage war viel los. Die letzten Wochen auch. Ich schaue auf das wegen der Geschwindigkeit des ICEs verschwimmende Dunkel- und Hellgrün der Bäume und Wiesen draussen. Welche Stimme in mir ist nochmal meine? Und wie viele andere habe ich überhaupt in letzter Zeit in meine Gehör- und Gedankengänge reingelassen? Oftmals bemerke ich, wie ich etwas denke, was gar nicht meiner eigenen Quelle entspringt. Etwas, das irgendwer irgendwo irgendwann gesagt hat und ich übernommen habe. So schnell geht das also; immer noch. Die fremden Stimmen sind hartnäckig.

Alles auditiv Wahrgenommene haftet manchmal länger an mir, als mir lieb ist, stelle ich fest. Ein Lieblingslied, dessen Zeilen drei Tage nach dem letzten Hören immer wieder im Kopf auftauchen und Schleifen drehen. Bleiben diese Zeilen deshalb hängen, weil sie noch darauf warten, dass ich mich von ihnen auf eine wichtige Erkenntnis bringen lasse? Spiegeln sie mir etwas, was ich wiederholt fühle, und machen mir einen Vorschlag, wie ich das endlich benennen kann? Oder wohnt der Song einfach gerne in mir, weil ich auch seine Lieblingshörerin bin? Wer weiss. Eigentlich bin ich doch im Ruheabteil, weil ich mich so sehr danach gesehnt habe, die laute Welt auszuschalten. Warum schreien mich dann jetzt meine Gedanken an? Wahrscheinlich gibt es keinen richtigen Leerlauf im Geist, und es sind gerade solche stillen Phasen, in denen er auf Wanderung geht und sich dabei mitteilt. Ist das jetzt schon meine Stimme? Glaub ja, Ohrwurm ist weg.

Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Auf meine derzeitige Fahrt bezogen, sicher schon. Ich vertrau dem mir unbekannten Schaffner, dass er mich dort hinbringt, wo ich hin will. Und im Leben? Wahrscheinlich nehme ich es oft locker. Etwa zu sehr? Vielen Erwachsenen, zu denen ich mich mit meinen 31 Jahren noch nicht so recht zählen will, würde mein freigeistliches Dasein wohl sauer aufstossen, und sie würden meinen, ich müsse mein Leben mehr in den Griff bekommen. Doch wie eingeengt ist ein Leben, das man im Griff hat? Wie hoch die Gefahr, es zu zerquetschen? Ich schliesse meine Hand zu einer Faust – bin kurz davor, Träume platzen zu hören – und öffne sie wieder.

Ich lasse das lieber – das mit dem Leben in den Griff bekommen. Sicherheit schliesst Freiheit aus, und das kann ich mit meiner inneren Muse nicht vereinbaren. Dann doch lieber Risiko. Es ist viel spannender und es gibt mehr Optionen. Ich mein, selbst wenn ich kein Ziel hätte, wäre jeder Weg der Richtige – oder nicht? An Zielen scheitert es aber dennoch nicht. Ich habe genug Ziele, Wünsche und Träume – gross genug, um den Rahmen aller Möglichkeiten zu sprengen. Manchmal habe ich Angst, dass dafür ein Leben nicht reicht. Auch Zweifel habe ich. Zweifel, die die Hoffnung haben, dass ich sie glaube. Selbst sie haben Hoffnung. Absurd. Hin und wieder glaube ich den Zweifeln dennoch, weil ich ihre Hoffnung nicht zerstören will.

Das Wetter draussen ist schön, die Sonne scheint mir auf den im Fensterrahmen abgestützten Arm. Fühlen sich die Bäume denn gestört von einer Eisenbahn, die ihren Lebensraum durchquert? Nimmt sie ihnen die Idylle oder nimmt sie sich ihr an? Vielleicht, denke ich, finden die Bäume es auch aufregend. Vielleicht freuen sie sich über die eine Person, die sie aus dem Fenster hinaus betrachtet. Wie komisch es für sie jedoch aussehen muss, dass alle anderen drinnen mit gesenktem Kopf da sitzen, mit Blick nach unten, auf das für die Bäume nicht sichtbare Handy. Traurige Welt in dieser fahrenden, elektronischen Schlange würden sie sich denken, wenn sie denken könnten. Vielleicht können sie denken.

Das passiert, wenn ich meine Gedanken schweifen lasse. Ich stelle mir die wirklich irrelevanten Fragen des Lebens. Die Antworten werde ich wohl nie herausfinden. Mir reicht es, kreative Vermutungen anzustellen und komische Fragen zu fragen, deren Antworten auf ewig ungelüftete Geheimnisse bleiben. Hin und wieder fliegen mir ungefragt Worte zu. Illusorisch zum Beispiel. Illusorisch grosszuschreiben wirkt jedoch merkwürdig, denke ich. Ein Wort, das mit drei senkrechten Strichen beginnt, muss Tiefe haben. Dann höre ich, wie ein kleiner Junge, der seiner Mama durch den Gang folgt, fragt: «Mama, wie lange dauert der Tag noch?» Ich lächele mein Spiegelbild im Fenster an. Es ist Mittag und er scheint jetzt schon genug zu haben. Kinder stellen die besten Fragen.

Langsam habe ich Hunger und Durst. Ich trinke etwas und öffne dann meine Brotdose. Lautes Klicken. Gleich viermal. «Pssst», denkt sich in dem Moment das ganze Ruheabteil. «Scusatemi», denk ich mir. Ich esse in aller Seelenruhe. Oder auch nicht. Ein Mann im Abteil vor mir fängt an laut zu telefonieren. Wieder ein kollektiv lautstark gedachtes, aber unhörbares «Pssst». Sein Gegenüber weist ihn höflich darauf hin, dass er ruhiger sein sollte, bevor ich es gemacht hätte. Höflich, wie gesagt. Eine Frau raschelt kurz mit ihren gekauften Snacks. Pssst. Eine Frau hinter mir tippt wie wild in ihren Laptop. Pssst. Das Geräusch vermischt sich mit dem der Eisenbahn, die über die Gleise gleitet, als wäre sie federleicht. Es wäre jedoch viel schöner ohne das Tastaturgetippe.

Ich konzentriere mich wieder auf die Landschaft. Meine Seelenruhe ist wieder da. Die Frau hinter mir schiebt die Sonnenblende runter, die wir uns teilen müssen. Sie ghostet quasi die Natur draussen. Das kann ich nicht mit mir vereinbaren. Ich schieb die Blende wieder hoch. In meiner Welt freuen sich die Bäume darüber. Sie lässt sie oben und ich verzeichne das als Gewinn. Das Fahrgeräusch macht mich müde. Meine Gedanken sind leer, mein Magen voll. Zeit für ein Nickerchen. Irgendwann später irgendwas mit Weichenstörung. Ich vertrau dem Schaffner immer noch. Aber diese lauten Ansagen sollten doch im Ruheabteil wenigstens geflüstert werden.

Mir fällt eine Aussage von jemandem ein, die ich mir mit ein bisschen Abwandlung zu meiner eigenen Wahrheit formen kann. Zumindest so lange, bis ich auf meine eigene Wahrheit klarkomme, wenn ich sie denn gefunden habe. Suche ich nicht schon die ganze Zeit danach? Kann gut sein, dass es eine fortwährende Suche bleibt und es viele eigene Wahrheiten mit kurzer Gültigkeit gibt. Mir fällt ein Anfang für ein Gedicht ein. Ich schreibe es auf. Die Sonne scheint immer noch, ich dehne mich. Warum mache ich überhaupt so oft und ganz bewusst Dinge, die mich aus meiner Komfortzone bringen? Wohl aus Neugier. Im Sinne von «Mal sehen, wie und ob ich das hinbekomme.» Ist möglicherweise mein Inneres Kind der Antrieb dafür?

Apropos. Ich wünschte, mein zweijähriges Ich könnte jetzt mit mir koexistieren. Mein Mini-Me und ich hätten so viel Spass zusammen. Wenn ich es mir recht überlege, koexistieren wir bereits. Wir sind ja ein und dieselbe Seele. Warum kaufe ich mir dann nicht mal Luftballons? Eigentlich brauche ich nur einen, und zwar einen roten. Der schien mich damals besonders gut bei Laune zu halten. Ob ich mich daran immer noch gleich erfreuen kann? Das wird sich dann zeigen. Seit ich die alten Kindervideos entdeckt habe, fällt es mir immer schwerer, mich nicht zu lieben. Selbst dann, wenn es mir schwerfällt, lächelt mich dieses Kind, das einmal ich war, an. Ich bin ganz schön grossartig. Das sollte jede Person öfter zu sich selbst sagen. Vielleicht die wichtigste Erkenntnis des Tages. Wobei, es gab so viele.

Was würde denn passieren, wenn ich all diesen tausend Gedanken keinen Raum geben würde, so wie ich es gerade tue? Sie blieben ungehört. Ungeliebt. Verdrängt. Wie schade das wäre. Ab jetzt fahre ich öfter lange Zug – ich meine Eisenbahn. Im Ruheabteil selbstverständlich. So habe ich genügend Zeit, um meinen inneren Vorhang für die Spielwiese in meinem Kopf zu öffnen. Einfach, weil es gut tut, sich gedanklich zu bewegen in alle möglichen, bisher unbekannten Richtungen. Damit könnte ich ein Buch füllen. Sollte ich? «Endstation», erklingt aus dem Lautsprecher. Wieder viel zu laut. Der Lautsprecherstimme, anders als dem Schaffner, vertraue ich jedoch nicht. Für mich ist hier nämlich keine Endstation. Es geht noch weiter. Wohin? Wer weiss das schon.

21. Mai 2024

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