Verehrter Herr Friedrich Dürrenmatt
Es sollte ja nicht im Voraus gratuliert werden, weil es Unglück bringen soll. Ich bin nun etwas ratlos, ob ich Ihnen, da Sie ja leider nicht mehr unter uns sind, überhaupt noch Unglück bringen kann. Da ich es aber nicht riskieren möchte, gratuliere ich nun nicht direkt. Dennoch ist das mein Geburtstagsbrief an Sie. Wissen Sie, es ist sauschade, dass Sie nicht ein paar Jahre später geboren wurden – wir hätten Sie im 2020 ziemlich gut gebrauchen können. Und womöglich auch die nächsten paar Jahre noch. Es fehlt nämlich an entspannten, kreativen und dennoch kritischen, starken Stimmen in unserem Land.
Sie waren ein moderner Denker, ein Provokateur. Jemand der unserer Gesellschaft gerne den Spiegel hinhielt.
Herr Dürrenmatt, ich bewundere Sie. Vor allem für Ihr Schreiben. Ihre Bücher verschlinge ich. Dieselben mehrere Male. Aber auch für etwas anderes: Nicht selten haben Sie Textpassagen und Theaterstücke nochmals komplett umgeschrieben. «Der Mitmacher» haben Sie nicht nur ein, sondern gleich zweimal reflektiert und ein Nachwort zum Nachwort verfasst. Das zeugt von Grösse, wenn man so mit seinen eigenen Werken und Fehltritten umgehen kann, lieber Herr Dürrenmatt. Grösse, die so manch einem fehlt. Fauxpas werden nur zu gerne unter den Teppich gewischt – das war zu Ihrer Zeit wahrscheinlich nicht anders.
Letztens fragte mich jemand, ob ich denn eines Ihrer Werke besonders mag. Ich hatte keine Antwort. Bei ihrem Freund und Rivalen Frisch kann ich einige nennen, die ich klar bevorzuge. Bei Ihnen fällt es mir schwer. Vielleicht weil Sie ein weniger emotionaler Schreiber waren als Frisch – oder weniger launisch. Ihre Werke haben eine gewisse Standhaftigkeit und eine Ruhe. Deshalb wirken sie womöglich auch wie Xanax auf mich.
Etwas gibt es jedoch von Ihnen, das ich hervorheben möchte. Etwas das mich seit vielen Jahren begleitet und ich am liebsten jedem einzelnen Schweizerbürger vorspielen möchte: «Die Schweiz ein Gefängnis» – Ihre Rede von 1990. Grossartig, Herr Dürrenmatt! Da sprechen Sie mir aus tiefster Seele.
Nur zu gerne würde ich in der Kronenhallenbar mit Ihnen darüber philosophieren – leider nicht mehr möglich. Vielleicht wäre es auch zu ihren Lebzeiten nicht möglich gewesen. Gespräche zu führen war nicht so Ihre Stärke. Ausser Sie führten sie mit sich selbst.
Deshalb erhebe ich nun einen Cognac auf Sie und schicke meine liebsten Grüsse zu Ihnen hoch.
Herzlich,
Leila Alder
Anlässlich Friedrich Dürrenmatts 100. Geburtstag, lädt das Literatur Museum Strauhof noch bis zum 10. Januar zur Ausstellung «Kosmos Dürrenmatt» ein. Darin wird ein tiefer Einblick in Dürrenmatts Schaffen, aber auch in seine Seele gewährt. Eine Inszenierung der ganz besonderen Art, die Dürrenmatt-Fans neue Sichtweisen öffnen und Dürrenmatt-Interessenten zu Fans macht.
Mehr Infos gibts hier.
© Bilder von Zeljko Gataric
07. November 2020